Amnesty Journal 17. Juli 2012

"Wandelbare Ungeheuer"

In kaum einem anderen Land sitzen so viele Journalisten und Verleger hinter Gittern wie in der Türkei. Daran hat auch die Entlassung einiger bekannter Publizisten nicht viel geändert.

Von Sabine Küper-Büsch

Ahmet Şık erinnert sich ungern an die Tage in Haft. Er kämpfte täglich mit der Langeweile und der zermürbenden Frage, wann er endlich frei käme. Eine Schreibmaschine oder gar einen Computer gab es nicht. Şık schrieb seine Beiträge schließlich handschriftlich. Seine und Texte anderer inhaftierter Journalisten sind nachzulesen in einer einzigartigen Publikation, der "Zeitung der Verhafteten", die die türkische Journalistengewerkschaft (TGS) seit Juli 2011 regelmäßig herausgibt.

Die Zeitung enthält Artikel von Kurden, Nationalisten, Linken und Konservativen – sie eint ihr Dasein hinter Gittern. Wie ist ein Ungeheuer zu bekämpfen, fragt Ahmet Şık in der ersten Ausgabe, das immer wieder seine Form verändern kann? Mal trägt es einen Anzug, dann eine Uniform. Manchmal will es mehr Freiheit, dann wieder mehr Waffen oder mehr Raum für die Religion. "Es ist unbedeutend, welche Titel oder Kleidungsstücke diese Leute schmücken. Hinter ihren Masken der Falschheit und vorgeschobenen demokratischen Gesinnung verbirgt sich immer nur der Wunsch nach Machterhalt."

Die politische Geschichte der Türkei ist seit den fünfziger Jahren von Machtkämpfen geprägt: Vereinfacht dargestellt ringt die kemalistische Elite in der noch von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk geprägten Republikanischen Volkspartei (CHP) mit den religiös orientierten Konservativen um die Macht. Daneben tauchten Protestströmungen auf: linke Jugendliche und pro-kurdische Bürgerrechtsbewegungen, aus denen sich die militante PKK gebildet hat. In politischen Krisenzeiten richtete sich die staatliche Repression vor allem gegen sie, weil sie als umstürzlerisches Element einer Ordnung wahrgenommen wurde, die am Erhalt des Status quo interessiert ist.

In der Vergangenheit griff das türkische Militär drei Mal ein, vorgeblich um die Prinzipien des kemalistischen Staatsgefüges wiederherzustellen. Nach dem Septemberputsch von 1980 erlaubte dann eine repressive Verfassung den Militärs einen dauerhaften Machterhalt. Die jeweils wechselnden Regierungen standen unter der Kontrolle des Generalstabs, der den Nationalen Sicherheitsrat dominierte. Zugleich eskalierten die Menschenrechtsverletzungen in den neunziger Jahren. Tausende Menschen verschwanden, wurden zu Tode gefoltert oder außergerichtlich hingerichtet, oftmals nicht von den regulären Sicherheitskräften, sondern von Killerkommandos, die sich aus unterschiedlichen ideologischen Lagern rekrutierten.

Die islamistische kurdische Hisbollah tötete Anhänger der linken, pro-kurdischen PKK. Der Staat beobachtete, regulierte und lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit mal auf die Verbrechen der einen, mal auf die der anderen Gruppe.
Die Medienkonzerne unterstützten die offizielle Darstellung der Konflikte. Oppositionelle Zeitungen versuchen dagegen bis heute, ein realistischeres Bild zu zeichnen. Journalisten gerieten oftmals zwischen die Fronten und wurden instrumentalisiert, kriminalisiert oder gar ermordet. Die Umstände, wie die Journalisten verhaftet wurden, ähneln sich, trotz ihrer unterschiedlichen Gesinnungen. Ihre Inhaftierung zeigt, dass die türkische Demokratie momentan nur partiell funktioniert.

Die Autoren Ahmet Şık und Nedim Şener saßen über ein Jahr in Untersuchungshaft. Erst nach einer intensiven Öffentlichkeitskampagne in der Türkei und im Ausland wurden die beiden am 12. März dieses Jahres aus der Untersuchungshaft entlassen. Nedim Şener ist Autor eines Buches über die Hintergründe des Mordes an dem armenischen Journalisten und Autor Hrant Dink. In seinem Buch versucht er nachzuweisen, dass der jugendliche Attentäter den Mord im Auftrag unterschiedlicher Drahtzieher verübt hat. Daraufhin wurde Şener verdächtigt, derselben Organisation anzugehören, über die er recherchiert hatte.

Staatlich gelenkter Terror ist im Nahen Osten ein Relikt des Kalten Krieges, das bis heute existiert. Das zeigen die sogenannten "Ergenekon-Verfahren", in denen es um die Unterstützung terroristischer Gruppen, um die Anstiftung zum Mord und zum Putsch geht. An die 400 teils prominente Persönlichkeiten, darunter ehemalige Offiziere, aber auch Journalisten wie Nedim Şener und Ahmet Şık, wurden angeklagt, einer Geheimloge anzugehören, die den Sturz der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan beabsichtigt haben soll. Vermutlich haben einige der Angeklagten tatsächlich Straftaten verübt. Doch zugleich wird offenkundig, dass sich die Regierungspartei mit diesen Prozessen auch ihrer politischen Gegner entledigen möchte.

Nedim Şener etwa fragt in seinem Buch, ob die Hintergründe des Mordes von Hrant Dink unter dem Begriff "Ergenekon" zu subsumieren sind, eine These, die auch die türkische Regierung verbreiten lässt. Ahmet Şık geht noch weiter. Er schrieb ein Buch mit dem Titel "Die Armee des Imam". Kurz nach seiner Verhaftung Anfang März 2011 löschten Polizisten das Manu­skript von der Festplatte seines Computers. Die Täter, die im Auftrag der Istanbuler Staatsanwaltschaft handelten, gehörten einer Polizeieinheit an, gegen die im Buch schwere Anschuldigungen erhoben werden. Denn nach Darstellung von Şık ist vor allem die Istanbuler Polizei von Anhängern des Islamisten Fethullah Gülen unterwandert. "Das Ergebnis meiner Recherche war, dass diese Polizei von den Mordplänen an Hrant Dink wusste und bewusst untätig blieb. Dadurch konnten der Öffentlichkeit alle möglichen Geschichten über Ergenekon aufgetischt werden", erklärt Şık.

Als Opfer einer Intrige der Sicherheitskräfte sieht sich auch Necati Abay. Vor einem Jahr wurde er zu mehr als 18 Jahren Haft verurteilt, weil er angeblich zu den Führungskadern der verbotenen marxistisch-leninistischen Partei (MLKP) gehört. Das Gericht ordnete trotz der Verurteilung nicht mal eine Festnahme an. "Die wissen selbst, dass die Anklage kein Fundament hat und die Verurteilung unsinnig ist", betont der ehemalige Redakteur der kommunistischen Zeitung "Atılım". Er bestreitet seit Beginn der Anklage 2003 die Vorwürfe der Istanbuler Staatsanwaltschaft gegen ihn. Im selben Jahr gründete er die "Plattform für inhaftierte Journalisten", weil die Massenmedien die hohe Zahl inhaftierter Publizisten nicht thematisierten. "Vor allem pro-kurdische und marxistisch-leninistische Publikationen sind von den Verhaftungen ihrer Mitarbeiter betroffen", betont Abay.

Seine Geschichte ist exemplarisch für die Kriminalisierung von Journalisten aus dem linken Spektrum. Als er vor zehn Jahren in der Redaktion von "Atılım" arbeitete, schrieb er auch Meldungen über die zahlreichen Bombenanschläge, die sich ­damals in Istanbul ereigneten. Ende März 2003 bedrohten ihn zwei Polizisten, weil er angeblich für Bombenleger werben würde. Kurz darauf wurde er festgenommen und sein Computer beschlagnahmt. Man warf ihm vor, er habe Bombenanschläge einer linksradikalen Organisation koordiniert. Beweise fanden die Ermittler nicht. Dennoch blieb der Journalist sechs Monate lang in Untersuchungshaft.

Die Staatsanwaltschaft erreichte 2011 eine umstrittene Verurteilung mit der Begründung, dass Necati Abays "Gesinnung ganz offensichtlich dem Geist der Anschläge" entspreche. Der Journalist legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein, eine Entscheidung darüber steht noch aus.

Mehr als 2.000 Gerichtsverfahren und etwa 4.000 Ermittlungsverfahren beschäftigen derzeit Richter, Staatsanwälte und Polizisten in der Türkei. Die Ermittlungen werden oft unprofessionell durchgeführt, kritisiert selbst der Staatsrechtler Adem Sözuer, Mitverfasser des türkischen Anti-Terror-Gesetzes. "Die Ermittler basteln sich Legenden aus persönlichen Vorurteilen und aus den in den Medien verbreiteten Verschwörungstheorien", erklärt der Jurist.

Die lange Untersuchungshaft ist das stärkste Druckmittel ­gegen kritische Journalisten. Füsun Erdoğan, Chefredakteurin des pro-kurdischen "Freien Radios", sitzt seit fast sechs Jahren in Untersuchungshaft. Ihr wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Pro Jahr schafft das Gericht durchschnittlich nur drei Verhandlungstage, die Beweisführung zieht sich endlos hin. Auch Erdoğan kann bislang keine konkrete Straftat nachgewiesen werden. Die Staatsanwaltschaft versucht ihre publizistische Tätigkeit als Beleg für ihre Militanz heranzuziehen. Das Radio ist jedoch weiterhin auf Sendung.

Der Verleger und Menschenrechtsaktivist Ragıp Zarakolu konnte am 10. April den Hochsicherheitstrakt "Kandıra" in der westanatolischen Kleinstadt Kocaeli verlassen. Ragıp Zarakolu ist Vorsitzender des Komitees zur Publikationsfreiheit der türkischen Verleger-Union. Er erhielt mehrere Preise für seine mutige publizistische Tätigkeit, vor allem deshalb, weil er sich vielfach mit Minderheitenfragen befasst. Zarakolu zählt wie Ahmet Şık und Nedim Şener zu den bekannten Publizisten, die im vergangenen Jahr in der internationalen Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erhalten haben. Dass sie nun freigelassen wurden, ist jedoch kein Zeichen dafür, dass sich die Türkei demokratisiert. Denn unzählige Verfahren laufen weiter und schüchtern alle kritischen Stimmen nachhaltig ein.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.

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