Amnesty Journal Russische Föderation 25. Januar 2012

Aufbruch der Empörten

Lange schwelende Unzufriedenheit. Demonstration in Moskau, 24. Dezember 2011.

Lange schwelende Unzufriedenheit. Demonstration in Moskau, 24. Dezember 2011.

In Russland funktioniert Putins Machtapparat nicht mehr so reibungslos wie früher. Die zahlreichen Manipulationen bei den Parlamentswahlen provozierten ungewohnt ­heftige Proteste, an denen sich vor allem junge und gut ausgebildete Menschen beteiligten.

Von Peter Franck

"Ihr setzt euch in Russland für Rechte ein, für die sich dort praktisch niemand interessiert." Dieser Satz war so oder ähnlich oft in Amnesty-Veranstaltungen über Russland zu hören. Und tatsächlich waren es bislang nur wenige, die in Russland für ihre verfassungsmäßigen Rechte auf die Straße gingen. Dass dieser Satz nicht zutrifft, wurde spätestens am 10. Dezember 2011 deutlich, als allein in Moskau Zehntausende öffentlich für ihre Rechte als Wahlbürger eintraten.

Dass die schon lange schwelende Unzufriedenheit sich so deutlich zeigen würde, hat vermutlich alle überrascht. Bislang gab es zwar landesweit jeweils am 31. eines Monats Demonstrationen, um das in der russischen Verfassung garantierte Recht auf Versammlungsfreiheit einzufordern. Doch beteiligte sich daran nur eine verschwindende Minderheit. Auch die Tatsache, dass die neu gegründete Partei "Parnas" im Sommer 2011 nicht registriert wurde und sich deshalb nicht an den Parlamentswahlen beteiligen konnte, rief keine größeren öffentlichen Proteste hervor. In "Parnas" hatten sich vor allem die Kräfte zusammengeschlossen, die dem westlich-liberalen Lager zugerechnet werden.

Folgenreicher scheint gewesen zu sein, dass Wladimir Putin seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im März ankündigte: Am 24. September 2011 verkündete das Führungstandem Putin und Medwedew auf dem Parteitag der Kreml-Partei "Geeintes Russland", man habe sich schon vor einiger Zeit entschieden, dass Medwedew nicht wieder kandidiere, stattdessen trete der frühere Präsident Putin zu den Wahlen an.

Offenbar löste die Art und Weise, in der das Führungsduo die Kandidatur Putins bekannt gab, in Teilen der Bevölkerung Empörung aus, die sich bislang noch nicht öffentlich eingemischt hatten. Vor allem für viele junge und gut ausgebildete Menschen war damit das Maß voll. Zynisch wurde ihnen vor Augen geführt, wer in ihrem Land die Entscheidungen trifft und wie wenig es dabei auf Diskussionen innerhalb der Gesellschaft ankommt.

Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Vorgehen "der Macht" beschränkte sich nicht mehr auf das Internet, wo systemkritische Diskussionen schon seit langem geführt werden. Auch bei öffentlichen Veranstaltungen der Partei "Geeintes Russland" kam es verschiedentlich zu Missfallenskundgebungen. Vor den Parlamentswahlen Anfang Dezember 2011 wuchs das Misstrauen: Angesichts sinkender Umfragewerte für die ­Partei "Geeintes Russland" rechnete man allseits mit Wahl­manipulationen. Vor allem junge Menschen bereiteten sich als Wahlbeobachter vor. Noch am Wahltag fanden viele, teilweise durch Videos dokumentierte Unregelmäßigkeiten Verbreitung im Internet.

Die "Macht" reagierte auf erste Proteste zunächst wie gewohnt: Sicherheitskräfte gingen hart gegen Demonstranten vor, die vielfach zu Administrativhaft von bis zu 15 Tagen verurteilt wurden. Doch wurden die öffentlichen Proteste dadurch offenbar noch verstärkt. Angesichts der zahlreichen Manipulationen, der schlichten Leugnung durch den Kreml und des harten Vorgehens gegen die Proteste wurde das Wahlergebnis von einem wesentlich größeren Teil der Bevölkerung nicht mehr hingenommen, als dies bei früheren Wahlen mit ebenfalls zweifelhaften Ergebnissen der Fall war.

So kam es zu den Kundgebungen am 10. und 24. Dezember, an denen allein in Moskau jeweils mehrere Zehntausend Menschen teilnahmen und die unbehelligt stattfinden konnten. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur die traditionellen Oppositions- und Menschenrechtsgruppen auf die Straße gingen. Viele Teilnehmer traten offensichtlich zum ersten Mal öffentlich für ihre Rechte auf Mitgestaltung der russischen Gesellschaft ein.

Im Ausland gab es am 10. Dezember ebenfalls Solidaritätskundgebungen, darunter in mehreren deutschen Städten. Sie wurden unter anderem von russischen Studierenden organisiert. An einem auch von Amnesty unterstützten Demonstrationszug in Berlin nahmen am 10. Dezember mehr als 500 Menschen teil, viele von ihnen mit selbstgefertigten fantasievollen Transparenten.

Menschenrechtsorganisationen sollten in den nächsten Wochen und Monaten die Situation in Russland genau beobachten und gegen staatliche Willkür aktiv werden. Sie sollten auch dazu beizutragen, dass menschenrechtliche Anliegen Eingang in die nun öffentlich und breiter geführte Reformdebatte in Russland finden.

Diskussionen werden dabei auch unter den Protestierenden selbst zu führen sein: Alexei Navalny, einer der Organisatoren der Großdemonstrationen, veranstaltete im vergangenen November gemeinsam mit Ultra-Nationalisten den "Russischen Marsch", auf dem Forderungen wie "Russland den Russen" vertreten wurden. Dabei haben Rechtsextremismus und Rassismus in den vergangenen Jahren immer wieder Menschenleben in Russland gefordert. Das bestimmende Fazit am Ende des Jahres 2011 aber ist, dass es in Russland einen Aufbruch vieler vor allem junger Menschen gibt, die sich nicht mehr lenken lassen wollen, sondern die Gestaltung von Demokratie als eigene Aufgabe begreifen. Und das ist eine große Chance.

Der Autor ist Sprecher der Russland-Koordinationsgruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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