Amnesty Journal 25. November 2011

Europas kleines schmutziges Geheimnis

"Ein offenes Geheimnis"

"Ein offenes Geheimnis"

Die europäischen Regierungen ermöglichten im "Krieg ­gegen den Terror" schwerste Menschenrechtsverletzungen. Bis heute ist dafür niemand umfassend zur Rechenschaft gezogen worden.

Von Marianne Alfsen

Es liest sich wie ein Hollywood-Thriller: Geheime, illegale Gefängnisse – sogenannte "Black Sites" – Terrorverdächtige mit verbundenen Augen, die im Geheimen mit privat gecharterten Flugzeugen durch europäischen Luftraum transportiert werden, auf dem Weg in rechtswidrige Haft und Folter. Doch es ist wahr und geschah direkt vor unserer Nase – in Europa – zwischen 2001 und 2006. "Die Frage ist nicht mehr, ob es geschehen ist. Das ist ein ­offenes Geheimnis", sagt Julia Hall, Amnesty-Expertin für Anti-Terrormaßnahmen und Menschenrechte in Europa.

Die schwedische Polizei übergibt am 18. Dezember 2001 Ahmed Agiza und Mohammed Al-Zari auf einem schwedischen Flughafen an CIA-Agenten. Es ist der erste sogenannte "Rendition"-Fall auf europäischem Boden. Die beiden Männer werden nach Ägypten gebracht, wo sie Folter und andere Misshandlungen in Gewahrsam erleiden. 2008 erhalten Agiza und Al-Zari von der schwedischen Regierung als Wiedergutmachung drei Millionen schwedische Kronen. Zwar werden zwei interne Ermittlungen durchgeführt, doch wird niemand für die schweren Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen.

"Es gibt eine Reihe von Ermittlungen in Europa zu geheimen Überstellungen und geheimen Haftzentren. Doch bislang ist nur eine Person zur Verantwortung gezogen worden", berichtet Julia Hall. Generell reichen die Reaktionen in Europa von der Anerkennung der Fälle bei gleichzeitigem Unwillen, die Verantwortlichkeiten zu klären, bis hin zu der schlichten Ablehnung, dass etwas Derartiges geschehen sein könnte.

"Einige der kontroversesten Kapitel des sogenannten 'Kriegs gegen den Terror' sind in Europa geschrieben worden. Es gibt mindestens 15 Länder in Europa, die nachweislich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, die durch das von den USA angeführte System geheimer Haft und Überstellungen verursacht wurden", sagt der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg.

Schon im Dezember 2001 legte Amnesty International das erste Beweismaterial in dem schwedischen Fall vor. Seither haben sich die Beweise bezüglich geheimer Überstellungen und geheimer Haftzentren gehäuft. 2006 und 2007 veröffentlichte ein vom Europarat eingesetzter und vom Schweizer Senator Dick Marty geleiteter Ausschuss Berichte, in denen Deutschland und 13 weitere Staaten genannt wurden, die an der Durchführung von Überstellungsflügen beteiligt waren. Zwei Länder unterhielten demzufolge geheime Haftzentren: Polen und Rumänien. Ein weiterer Bericht eines Sonderausschusses des Europäischen Parlaments kam zu denselben Ergebnissen wie Marty. Im Dezember 2009 wurde durch eine Anfrage im Parlament bekannt, dass Litauen ebenfalls geheime CIA-Gefängnisse hatte.

Im Februar 2010 brachte ein von vier UNO-Institutionen gemeinsam erstellter Bericht weiteres Beweismaterial zutage und wies nach, dass auch Deutschland mindestens an einem Fall von geheimer Haft beteiligt war. Dabei geht es um die Entführung des Ägypters Abu Omar, der im Februar 2003 von Mailand über den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein nach Ägypten gebracht wurde. Er widersprach damit einer nationalen Untersuchung, die alle deutschen Akteure freigesprochen hatte. Im November 2010 veröffentlichte Amnesty International den Report "Open Secret" über die geheimen Flüge. Zusammengenommen liefern die Berichte unumstößliche Beweise.

Die Rolle der europäischen Regierungen reichte vermutlich von der Genehmigung, CIA-Charterflugzeuge auftanken zu lassen, während sie geheim und ungesetzlich Gefangene beförderten, bis dahin, geheime Orte auf ihrem Staatsgebiet zur Verfügung zu stellen, an denen brutale Verhöre stattfanden und gefoltert wurde.
Mehrere europäische Länder haben daraufhin Anfragen und Untersuchungen durchgeführt. Nach Meinung von Hammarberg und Hall sind sie dabei jedoch nur halbherzig vorgegangen. "Es ist schwer, auch nur ein einziges Beispiel wirksamer ­Rechenschaftsbemühungen in Europa zu finden, und meine ­Erfahrung sagt mir, dass dies vor allem dem fehlenden politischen Willen geschuldet ist", sagt Hammarberg und fügt hinzu, dass die Rückmeldung durch "Verheimlichungen und Vertuschungen" erschwert wurde. Regierungsvertreter hätten vor Parlamenten gelogen, Falschaussagen gegenüber internationalen Organisationen getätigt und versucht, Enthüllungen, die sie kompromittiert hätten, vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.

Was in Deutschland geschehen ist, steht stellvertretend dafür, wie europäische Regierungen um dieses Thema herumschleichen. Eine dreijährige parlamentarische Untersuchung kam 2008 zu dem Schluss, dass kein deutscher Beamter beteiligt war. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu einem von der damaligen Opposition (Linke, FDP und Grüne) angestoßenen Verfahren kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Regierung bei der Untersuchung nicht umfassend kooperiert hat. Die Bundesregierung will dieses Urteil jedoch nur auf zukünftige Untersuchungen anwenden. Sie hat nicht vor, die abgeschlossene Untersuchung wieder aufzunehmen.

"Es hat bislang nur ein einziges Verfahren gegen Personen stattgefunden, die an Überstellungen beteiligt waren, und das war in Italien. Es wurde jedoch durch die Weigerung der Regierung, zu kooperieren, und unter Berufung auf Staatsgeheimnisse wiederholt behindert", kritisiert Hammarberg. 22 CIA-Agenten und ein US-Militär wurden dabei in Abwesenheit verurteilt, ebenso wie zwei italienische Geheimdienstmitarbeiter. Doch das Urteil besteht bisher nur auf dem Papier, da keine ­Auslieferungsanträge gestellt wurden.

"In Spanien und Deutschland wurden Haftbefehle gegen vermeintliche ausländische Agenten erlassen, doch Auslieferungsanträge wurden nicht gestellt. In anderen Ländern haben die Staatsanwälte ihre Untersuchungen abgeschlossen, ohne irgendwelche Anklagen zu erheben, oder sich einfach geweigert, überhaupt zu ermitteln", stellt Hammarberg fest. "Die Rechenschaftslegung ist miserabel, insbesondere, wenn man die Bandbreite an Menschenrechtsverletzungen bedenkt, die begangen wurden."

Warum ist es so wichtig, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen? "Zuerst und vor allem haben die Opfer das Recht, die Wahrheit darüber zu erfahren, was ihnen angetan wurde, und Entschädigung dafür zu erhalten. Zweitens ist die Wahrheit wichtig, damit dies nicht noch einmal geschieht", erklärt Julia Hall. Außerdem sei es wichtig, zu erfahren, was die europäischen Regierungen bewogen habe, aktiv daran teilzunehmen oder wegzuschauen, während eigenes und internationales Recht gebrochen wurde.

Wenn die europäische Komplizenschaft nicht gründlich untersucht und Rechenschaftslegung erreicht wird, hat das weitreichende Folgen. Denn wie wollen die europäischen Regierungen, die als Hüterinnen der Menschenrechte gelten, Regierungen in Asien oder Afrika dazu anhalten, Folter, Misshandlungen und illegale Inhaftierungen zu unterlassen, wenn sie ihre eigenen schmutzigen Geheimnisse unter den Teppich kehren? "Sie müssen selbst Verantwortung übernehmen, ehe sie in die Welt ziehen und anderen sagen, dass sie die Menschenrechte und das Völkerrecht zu respektieren haben. Alles andere wäre heuchlerisch", meint Hall. Die europäischen Regierungen sind nach Landes- und Völkerrecht verantwortlich. Und auch die ­Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten, "effektive Untersuchungen" zu dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen durchzuführen.

"Wir haben den starken Verdacht, dass die US-Regierung Druck auf die europäischen Regierungen ausübt, nicht zu ermitteln", erklärt Hall den Unwillen, die Vorgänge aufzuklären. Hinzu kommt, dass in einigen Ländern wie Großbritannien, wo sowohl unter der früheren Labour-Regierung wie auch unter der aktuellen liberal-konservativen Koalition Geheimflüge stattgefunden haben, keine Partei an einer politischen Bloßstellung interessiert ist.

Doch in den meisten Ländern ist der am häufigsten genannte Grund für die Tatenlosigkeit die "nationale Sicherheit". Thomas Hammarberg weist darauf hin, dass europäische Regierungen den USA freie Hand gaben, verdeckt auf ihrem Staatsgebiet zu operieren, indem 2001 multilaterale und bilaterale Vereinbarungen unterzeichnet wurden, die sie zur Geheimhaltung verpflichteten. Viel Beweismaterial liegt sicher verschlossen bei der US-Regierung, die bei den Ermittlungen nicht kooperiert.

"Der Weg zur Rechenschaftslegung ist noch weit", sagt Julia Hall. Sie verweist auf Lehren, die sich aus den Erfahrungen in den Balkanländern, auf Sri Lanka und in zahlreichen anderen Ländern ziehen lassen. "So etwas geschieht nicht über Nacht. Aber wir werden nicht aufgeben. Wir bleiben dran, ebenso wie in Kambodscha, bei Pinochet und in vielen anderen Fällen. Es gibt auch andere glaubwürdige Akteure in der EU, der UNO und bei NGOs, die Rechenschaft wollen", meint sie. Der Ausschuss des EU-Parlaments hat im September seine Arbeit fortgesetzt.

Hall ist hoffnungsvoll, dass der internationale Druck Litauen dazu bringen wird, die kürzlich abgeschlossene Untersuchung wiederaufzunehmen, da die Regierung offen zugegeben hat, zwei Geheimgefängnisse unterhalten zu haben. "Wir haben auch Hoffnung bezogen auf die polnische Untersuchung", sagt Hall und weist darauf hin, dass zwei Opfer kürzlich offiziell identifiziert wurden. Alle paar Monate steuern neue Entwicklungen weitere Teile zu dem Puzzle bei. Hammarberg und Hall glauben beide, dass das Ausmaß der europäischen Beteiligung noch nicht vollständig bekannt ist.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Oslo.

Bericht zu Geheimgefängnissen in Litauen
Zahlreiche europäische Länder haben dem US-Geheimdienst CIA im Zuge der Terrorbekämpfung unter die Arme gegriffen – auch Litauen. Es ist das erste europäische Land, das offiziell einräumte, zwei Geheimgefängnisse betrieben und mit den USA kooperiert zu haben. Im Januar 2011 stellte die Staatsanwaltschaft in Litauen unter Verweis auf Staatsgeheimnisse die Ermittlungen ein. Ein aktueller Amnesty-Bericht mit dem Titel "Unlock the Truth in Lithuania: Investigate Secret Prisons Now" dokumentiert, dass wichtige Beweismittel bei dieser Untersuchung nicht beachtet wurden und begründet, wieso Litauen seiner ­Verantwortung nachkommen muss, die Ermittlungen wiederaufzunehmen. Eine gründliche Untersuchung fordert Amnesty International auch von Finnland: Ende November hat das finnische Außenministerium Informationen über rund 150 Flüge veröffentlicht, die in Verbindung mit Operationen von US-Geheimdiensten stehen könnten.

Der Bericht ist abrufbar unter: www.amnesty.org

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