Amnesty Journal Pakistan 05. August 2009

Gefangen zwischen Taliban und Staat

In Teilen Pakistans gelten die Gesetze der Islamisten: Mädchen dürfen nicht in die Schule gehen, Ehebrecherinnen werden gesteinigt und kritische Künstler ermordet. Durch die Militäreinsätze einer hilflosen Regierung sind drei Millionen Menschen auf der Flucht.

Als die Anwältin Musarrat Hilali am 13. März dieses Jahres ihr Haus in der pakistanischen Stadt Peshawar verlassen will, um am "Langen Marsch" der Juristen zur Wiedereinsetzung von suspendierten Richtern in Islamabad teilzunehmen, wartet die Polizei bereits auf sie. Ohne Haft- oder Durchsuchungsbefehl dringen die Ordnungskräfte in die Wohnung der stellvertretenden Vorsitzenden der pakistanischen Menschenrechtskommission in Peshawar ein. Weil sie sich ihrer Festnahme widersetzt, brechen die Beamten ihr mit einem Schlagstock gleich drei Mal das Bein. "Wenn ich aus dem Haus gehe, weiß ich nie, ob ich wieder zurückkomme", sagt die Juristin, deren Gesundheit bis heute nicht wieder vollständig hergestellt ist.

Hilali hat schlechte Erfahrungen mit einem "starken Staat" gemacht. Trotzdem begrüßte sie, wie die meisten Menschenrechtsaktivisten in Pakistan, den Versuch der Armee, das Swat-Tal wieder unter Kontrolle zu bringen. "Um die Taliban loszuwerden", wie sie sagt. Damit ist viel über die Lage der Menschenrechte in der an der Grenze zu Afghanistan gelegenen Nordwestgrenzprovinz gesagt. Es ist eine Geschichte mit vielen Übeltätern und wenigen Helden, die zu schwach sind, um etwas gegen die Übermacht aus Extremisten, Armee und Regierung zu erreichen, die jeweils ihre eigene Agenda verfolgen und wenig Interesse am Schicksal der Menschen zeigen.

Das in der Nordwestgrenzprovinz gelegene Swat-Tal geriet in die internationalen Schlagzeilen, als im Februar die Regionalregierung den Taliban in einem Waffenstillstandsabkommen die Herrschaft über das Tal überließ. Kurz nachdem die letzten Süßigkeiten als Ausdruck der Freude über den Frieden ausgeteilt waren, zeigten die Taliban das Gesicht, das sie immer zeigen, wenn man sie lässt. Der lokale Talibanführer Sufi Mohammad führte in dem ehemaligen Ausflugsgebiet die islamische Scharia-Gesetzgebung ein. Filmaufnahmen von einer jungen Frau, die öffentlich wegen angeblichen Ehebruchs ausgepeitscht wurde, kosteten den Islamisten auch in Swat die letzten Sympathien.

Doch der Prozess der Talibanisierung der Nordwestgrenzprovinz, in dessen Folge Mädchenschulen geschlossen, Musik- und Videogeschäfte demoliert und Journalisten und Künstler bedroht oder ermordet wurden, begann lange bevor die Regierung aus Taktik oder Verzweiflung beschloss, im Swat-Tal den Bock zum Gärtner zu machen. "Unsere Probleme haben gleich nach dem 11. September 2001 angefangen", sagt die Frauenrechtlerin Rukhshanda Naz aus Peshawar und betont: "Man sollte nicht nur über Swat reden."

"Bereits nach den Anschlägen in New York und Washington hat die Armee ihre Operationen an der Grenze zu Afghanistan begonnen", sagt Naz, Leiterin der Bürgerrechtsorganisation "Aurat Foundation". "Niemand hat sich darum gekümmert, wie viele Zivilisten dabei ums Leben gekommen sind." Gleichzeitig habe die Regierung die Talibanisierung nicht ernsthaft ­bekämpft. "Die Regierung hat den militanten Kräften genügend Zeit gegeben, um sich in den Stammesgebieten auszubreiten. Die Region ist voll von Militanten, Kriminellen und ausländischen Kräften", sagt Naz. Damit bringt sie das weit verbreitete Misstrauen gegenüber dem Willen und der Fähigkeit der Regierung, gegen die Ausbreitung der Taliban vorzugehen, auf den Punkt.

Das Misstrauen schien berechtigt. Obwohl die USA jahrelang dem pakistanischen Militär Geld zur Bekämpfung des Terrorismus zukommen ließ, konnten die Taliban ihren Einfluss in den autonomen, vor allem von Paschtunen bewohnten Gebieten immer weiter ausdehnen. Traditionelle Stammesführer, die sich ihnen entgegenstellten, wurden ermordet. Doch erst jetzt, nachdem die Taliban ihr Operationsgebiet über die autonomen Stammesgebiete hinaus erweitert haben und die Macht des Zentralstaats in ganz Pakistan in Frage stellen, scheint das Militär die Taliban als ernstzunehmenden Feind zu begreifen.

Mit ihren massiven Operationen hat die Armee, die für einen Guerilla-Krieg schlecht ausgestattet ist und daher mit schwerem Kriegsgerät gegen die Aufständischen vorgeht und viele Häuser völlig zerstört hat, ein neues Problem geschaffen: das der Flüchtlinge. Selbst nach offiziellen Angaben waren Ende Mai mehr als drei Millionen Menschen aus den autonomen Stammesgebieten und der Nordwestgrenzprovinz auf der Flucht vor den Kämpfen.

"Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Zentralregierung auf den Exodus von Zivilisten vorbereitet war", sagt Sam Zarifi, Asien-Pazifik-Direktor von Amnesty International. Nach Schätzungen der Organisation leben 90 Prozent der Flüchtlinge nicht in den von Hilfsorganisationen betreuten Lagern, sondern bei Bekannten, in Slums oder verlassenen Gebäuden. Amnesty hat viele Fälle dokumentiert, in denen drei oder vier Familien in einem Haushalt untergekommen sind und es in den Gemeinden kaum mehr genug Nahrung und sauberes Wasser für alle gibt. Die Weltgesundheitsorganisation hat vor dem Ausbruch von Seuchen gewarnt.

Auch in vielen Flüchtlingslagern sieht die Lage nicht viel besser aus. "Die Menschen wurden nicht rechtzeitig über die Militäraktionen informiert, viele mussten innerhalb von ein bis zwei Stunden ihre Häuser verlassen", so Hilali. Viele kamen ohne Geld in die Lager, wo sie in der sengenden Sommerhitze oft noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. "Fünf Kinder und zwei Frauen sind bereits an der Hitze gestorben", so die Juristin Ende Juni.

Für alleinstehende Frauen komme das Problem hinzu, so Rukhshanda Naz, dass sie sich häufig noch nicht einmal als Flüchtling registrieren lassen könnten. Das Gesetz zwinge sie dazu, entweder als "verheiratet" oder als "Witwe" registriert zu werden. Unverheiratete Frauen und junge Mädchen, die Hals über Kopf ohne ihre Eltern geflohen sind, hätten daher oft noch nicht einmal die Chance, an Hilfsgüter zu kommen. Zurück in ihre Dörfer könnten sie gleichwohl nicht, da es vor allem für Frauen ohne Begleitung überall in der Nordwestgrenzprovinz zu gefährlich sei – nicht nur wegen der Kämpfe. "Selbst in Pe­shawar gibt es Warnungen, dass wir nicht auf den Markt gehen sollen", sagt Hilali. Selbstmordattentate und Entführungen tun schon lange ihre Wirkung und verbannen die Frauen auch ohne Gesetz ins Haus.

Besonders schwierig ist die Situation auch für diejenigen, die in die Sindh-Provinz geflohen sind. Den Paschtunen schlägt dort oft eine feindselige Stimmung entgegen. Sie werden als Belastung für die regionale Wirtschaft wahrgenommen und in ihrem eigenen Staat als Bürger zweiter Klasse behandelt. Oft können sie kein Land pachten, ihre Kinder nicht zur Schule schicken und die staatliche Gesundheitsversorgung nicht in Anspruch nehmen, weil sie die notwendige Sicherheitsüberprüfung nicht durchlaufen haben. Das ist für alle, die auf der Flucht ihre Papiere verloren haben, fast unmöglich. Viele Frauen haben ohnehin keine Papiere, weil in den von Taliban dominierten Gebieten für Frauen grundsätzlich keine Ausweispapiere ausgestellt werden.

Am 14. Juli verkündete die Armee schließlich den Sieg im Swat-Tal. Von Soldaten begleitete Busse und Lastwagen begannen, Flüchtlinge zurück in ihre Dörfer zu bringen. Die Angst unter den Rückkehrern ist aber groß. Sie trauen den Aussagen der Armee nicht, dass sie dort sicher seien. Aus gutem Grund: Bereits einen Tag nachdem die Armee die ersten Flüchtlinge zurück ins Swat-Tal gebracht hatte, meldete sie selbst wieder Gefechte, bei denen 13 Taliban und ein Soldat getötet worden seien. In den autonomen Stammesgebieten ist die Armee ohnehin weit davon entfernt, einen Sieg melden zu können.

Vertreter der Zivilgesellschaft fürchten daher, dass sich so schnell in Pakistan nichts verbessern wird. "Die Regierung hat keine Strategie und ist selbst eine Zielscheibe", sagt Musarrat Hilali. Der Friedens- und Konfliktforscher Noman Sattar von der Nationalen Universität für Verteidigung in Islamabad ist daher der Auffassung: "Wir werden die Taliban nicht komplett auslöschen können, wir müssen Lösungen finden und sie lokal einbinden, anders ist dieser Konflikt nicht zu lösen." Für die Menschenrechte in der Region sind das keine guten Aussichten.

Von Britta Petersen.
Der Autorin ist Journalistin und lebt in Neu-Delhi.

Nordwestgrenzprovinz und Swat-Tal
In der Nordwestgrenzprovinz Pakistans reicht die Macht der Regierung nicht weit. Die autonomen Stammesgebiete werden von lokalen Milizen kontrolliert. Das traditionelle Nebeneinander von Zentralstaat und regionaler Stammesherrschaft geriet in den vergangenen Jahren aus dem Gleichgewicht. Taliban und andere Islamisten gewannen an Einfluss. Afghanische Taliban und al-Qaida nutzen die Gebiete als Operationsbasis. Im Februar 2009 übergab die Provinzregierung in einem Waffenstillstandsabkommen die Herrschaft über das Swat-Tal einem lokalen Talibanführer, der dort die Scharia einführte. Anfang Mai startete die ­pakistanische Armee eine Offensive gegen die Islamisten, im Juli meldete sie die Rückeroberung des Tals. Kämpfe zwischen der Armee und islamistischen Milizen in benachbarten Regionen dauerten an.

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