Aktuell Israel und besetzte Gebiete 18. April 2024

Amnesty-Recherchen in Gaza: Muster der Zerstörung

Das Bild zeigt eine Straße mit Gebäuden, die komplett zerstört sind.

Bei einem israelischen Luftangriff in der Stadt Jabalia im Norden des Gazastreifens wurden am 10. Oktober 2023 mindestens 69 Menschen getötet (Aufnahme vom 11. Oktober 2023).

Aufgrund der israelischen Blockade ist es schwer, unabhängige Informationen aus dem Gazastreifen zu bekommen. Mithilfe von Menschen vor Ort und digitalen Methoden recherchiert Amnesty International trotzdem. 

Von Hannah-El-Hitami

Als die Raketen einschlugen, war Imad Hamad gerade unterwegs, um Brot für seine Familie zu kaufen. Ein israelischer Luftangriff tötete den 19-Jährigen und mindestens 68 weitere Menschen, die am Morgen des 10. Oktober 2023 in einer der belebtesten Einkaufsstraßen in der Stadt Jabalia im Norden des Gazastreifens unterwegs waren. Ein Satellitenbild, das kurz nach dem Angriff aufgenommen wurde, zeigt verschwommene Finsternis, wo vorher Gebäude standen. Hamads Vater berichtete Amnesty International von schrecklichen Szenen in der Leichenhalle: "Die Körper lagen auf dem Boden verteilt. Alle suchten nach ihren Kindern." Er fand seinen Sohn und nahm ihn mit, um ihn zu beerdigen.

Nach Angaben der israelischen Armee zielte der Angriff in Jabalia auf eine Moschee, in der sich Mitglieder der Hamas aufgehalten haben sollen. Auf digitalen Karten ist in der Umgebung der zerstörten Straße aber keine Moschee zu finden. Und selbst wenn es ein legitimes militärisches Ziel in der Nähe gegeben hätte, wäre der Angriff nach Einschätzung von Amnesty International unverhältnismäßig gewesen. Videos aus Jabalia zeigen eine überfüllte Marktstraße, die durch den Zuzug Tausender Binnenflüchtlinge noch voller war als ohnehin schon, gesäumt von mehrstöckigen Gebäuden. Die horrende Zahl getöteter oder verletzter Zivilpersonen war damit absehbar – und ist möglicherweise ein Kriegsverbrechen.

Seit dem 7. Oktober, als die Hamas mehr als 1.200 überwiegend israelische Zivilpersonen tötete und mehr als 200 entführte, führt die israelische Armee massive Militäroperationen im Gazastreifen durch. Mehr als 30.000 Palästinenser*innen wurden seither bei Luftangriffen getötet, starben an Hunger oder mangels medizinischer Versorgung. Das volle Ausmaß des Leids im Gazastreifen ist unbekannt, denn die israelische Regierung lässt keine unabhängigen Journalist*innen oder Untersuchungskommissionen in das besetzte Gebiet. Zahlen, Daten und Fakten können deshalb nur schwer überprüft werden.

Um Menschenrechtsverletzungen dennoch verlässlich zu dokumentieren, arbeitet Amnesty mit Kolleg*innen vor Ort und einem spezialisierten Team für digitale Recherche zusammen. Die Ermittlungen könnten nach dem Ende des Kriegs genutzt werden, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. "Mit unserer Arbeit kratzen wir allerdings nur an der Oberfläche", räumt Budour Hassan ein, die in Jerusalem für Amnesty arbeitet. "Es gibt so viele Verbrechen, die wir nicht dokumentieren können. Dabei wäre das enorm wichtig, um die Lage vor Ort zu verstehen."

Eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen werde wohl erst nach dem Ende des Krieges ans Licht kommen. Nicht nur die Abriegelung des Gazastreifens beschränkt die Recherchen von Hassan und ihre Kolleg*innen. Hinzu kommen ständige Unterbrechungen der Telekommunikation, die entweder gezielt erfolgen oder auf Schäden nach Luftangriffen zurückzuführen sind. "Es ist sehr schwer, die Menschen in Gaza zu erreichen oder Beweismaterial von dort zu beschaffen."

Wann immer es geht, telefoniert Hassan mit Kontaktmann*, der seit mehr als 20 Jahren im Gazastreifen für Amnesty aktiv ist. Offizielle Amnesty-Mitarbeiter*innen haben seit 2012 keinen Zutritt zu dem Gebiet. "Wenn es zu einem Angriff mit vielen zivilen Opfern kommt, begibt sich unser Mitarbeiter dorthin", erklärt Hassan. Er mache Fotos und stelle den Kontakt zu Betroffenen und Augenzeug*innen her. Anschließend telefoniert Hassan mit ihnen. Manchmal bekommt der Kontaktmann CT-Scans von Ärzt*innen oder Hinweise auf die Art und das Ausmaß von Verletzungen. Außerdem schickt er die Koordinaten des jeweiligen Tatorts an die digitalen Ermittler*innen von Amnesty. 

"Überall nur Trümmer"

Damit beginnt die Arbeit von Marija Ristić. In ihrem Berliner Büro wertet sie digitale Beweise aus und gleicht sie mit Berichten von Augenzeug*innen ab. "Manchmal können wir eine komplette Recherche auf digitalen Beweisen aufbauen. Und manchmal benötigen wir sie nur, um andere Beweismittel zu untermauern", sagt Ristić. Sie und ihr Team des Crisis Evidence Lab sehen sich den Ort des Geschehens auf Satellitenbildern an, die vor und nach einem Angriff aufgenommen wurden. Außerdem werten sie Fotos und Videos aus, die sie von Privatpersonen oder Journalist*innen vor Ort bekommen, um den Ablauf der Angriffe zu rekonstruieren. Sie analysieren Bilder von Kratern nach einem Luftangriff, um Rückschlüsse zu ziehen, um welche Waffe es sich dabei handelte und aus welcher Richtung sie eingesetzt wurde. Außerdem überprüfen sie, ob das Foto- und Videomaterial wirklich zur besagten Zeit am besagten Ort entstanden ist. "Wegen der massenhaften Zerstörung ist das eine Herausforderung", sagt Ristić. "Bilder lassen sich nur schwer Orten zuordnen, weil überall nur Trümmer zu sehen sind." 

Hassan, Ristić, der Amnesty-Kollege vor Ort und weitere Mitarbeiter*innen haben seit dem 7. Oktober über eine Vielzahl von potenziellen Kriegsverbrechen berichtet: Es begann mit der Rekonstruktion der Hamas-Attacke auf das israelische Nova-Music-Festival am 7. Oktober, bei dem rund 400 Besucher*innen getötet wurden. Dann folgten Recherchen zu israelischen Luftangriffen auf Wohnhäuser im Gazastreifen und zur Tötung eines Journalisten im Südlibanon. Außerdem dokumentierte Amnesty mithilfe von Foto- und Videomaterial den Einsatz von weißem Phosphor durch die israelische Armee in dicht besiedelten Wohngebieten von Palästinenser*innen im Libanon. Weißer Phosphor führt bei Hautkontakt zu schwersten Verbrennungen.

Zu jeder Recherche gehört auch eine Einordnung. "Wir prüfen, ob der Angriff sich gegen ein legitimes militärisches Ziel richtete", erklärt Hassan. Der Mitarbeiter vor Ort überprüft die Umgebung und spricht mit Menschen aus der Nachbarschaft. Das Team nutzt außerdem ein detailliertes Kriegstagebuch auf der Website der israelischen Armee, um herauszufinden, welche Absicht hinter welchem Angriff steckte. Darin dokumentiert die Pressestelle der Armee seit Oktober 2023 mehrmals täglich ihre Sicht auf den militärischen Einsatz. "Selbst wenn es ein militärisches Ziel gab, prüfen wir, ob Zivilpersonen vorher gewarnt wurden und ob die Gewalt verhältnismäßig war." Darauf gebe es nicht immer eine eindeutige Antwort. Je größer die Sammlung der Beweise werde, desto klarer ließen sich Muster erkennen, glaubt Hassan.

Der Krieg im Gazastreifen polarisiert wie kaum ein anderer Konflikt. Umso größer ist der Druck auf Ermittler*innen wie Hassan und Ristić, verlässliche, gut recherchierte Informationen publik zu machen. "Wir werden niemals einen Bericht veröffentlichen, wenn die Beweismittel uns nicht mit fast vollständiger Sicherheit zeigen, dass es sich um ein Völkerrechtsverbrechen handeln könnte", sagt Hassan.

Manchmal arbeiten sie monatelang an einem Fall, der dann doch in der Schublade landet, weil die Beweise nicht ausreichen. Denn sie wollen den Massen an Desinformation, die zu diesem Krieg gehören, etwas entgegensetzen. "Sowohl die Hamas als auch die israelische Regierung haben Videos gepostet, die sich später als gefälscht herausstellten", sagt die digitale Ermittlerin Ristić. "Und es gibt eine ganze Armee an Privatpersonen, die Bilder manipulieren und teilen." Es sei schwer zu unterscheiden zwischen Hinweisen, denen man nachgehen muss, und solchen, die nur Propagandazwecken dienen.

Dass Hassan und Ristić so hohe Ansprüche an den Beweiswert ihrer Recherchen haben, hat noch einen anderen Grund. Das langfristige Ziel ihrer Arbeit sei, "dass die von uns gesammelten Beweise später vor internationalen Gerichten verwendet werden können", sagt Hassan. Sie ist zuversichtlich, dass alle bisherigen Amnesty-Recherchen einer juristischen Prüfung standhalten.

*Der Name wird zum Schutz der Person nicht genannt.

Weitere Artikel