Amnesty Report 28. März 2023

Regionalkapitel Naher Osten und Nordafrika 2022

Vier Frauen stehen mit dem Rücken zur Kamera auf einer Straße. Sie heben ihre Hände in die Luft und zeigen mit beiden Händen das Victory-Zeichen. Weitere Menschen demonstrieren auf der Straße. Im Hintergund steigt Rauch auf.

Protest gegen die iranische Regierung in Mahabadi im Nordwesten des Iran (20. November 2022)

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Einleitung

Wirtschaftliche Krisen, die durch globale Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine und lokale Faktoren wie bewaffnete Konflikte und klimabedingte Katastrophen noch verschärft wurden, hatten verheerende Auswirkungen auf die Rechte von Millionen Menschen auf Nahrung, Trinkwasser, Unterkunft und Gesundheitsversorgung, ohne dass die Regierungen entschieden dagegen vorgingen.

Bewaffnete Konflikte zerstörten weiterhin das Leben von Millionen Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika. Die Zivilbevölkerung litt unter wahllosen Angriffen, der Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur, gewaltsamer Vertreibung und der Willkür von Milizen, bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften, die für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Der Libanon und Jordanien beherbergten weiterhin Millionen syrische Flüchtlinge, doch übten beide Länder Druck aus, um diese zur Rückkehr zu bewegen. Millionen Binnenvertriebene konnten nicht in ihre Herkunftsorte zurück, weil die Behörden die dafür notwendige Sicherheit nicht gewährleisteten.

Regierungen erließen weitere drakonische Gesetze, um die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu unterdrücken, und zensierten oder blockierten das Internet und andere Medien. Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Demonstrierende, Frauenrechtler*innen, politische Aktivist*innen und andere Kritiker*innen oder Dissident*innen wurden willkürlich inhaftiert, unbegründet strafrechtlich verfolgt, bedroht, schikaniert und mit unfairen Gerichtsverfahren, Gefängnisstrafen und Reiseverboten überzogen. Die Sicherheitskräfte gingen mit rechtswidriger, manchmal tödlicher Gewalt und massenhaften Festnahmen gegen Proteste vor.

Zu den Menschenrechtsverletzungen in den Ländern der Region zählten auch die Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten, Verschwindenlassen, Folter und anderweitige Misshandlungen sowie die Anwendung der Todesstrafe und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Strafen.

Drei Ereignisse machten die Menschenrechtsproblematik 2022 besonders deutlich. Im Iran löste der Tod von Jina Mahsa Amini im September eine beispiellose Protestwelle aus. Die 22-Jährige war von der "Sittenpolizei" festgenommen worden, weil sie gegen den diskriminierenden gesetzlichen Kopftuchzwang verstoßen haben soll, und dann in deren Gewahrsam gestorben.

Die Demonstrierenden forderten ein Ende der Islamischen Republik und stattdessen ein System, das die Menschenrechte und die Gleichberechtigung aller Menschen achtet. Anlässlich der Weltklimakonferenz (COP27) in Ägypten traten im November die katastrophale Menschenrechtssituation des Landes und das Leid Zehntausender Menschen, die aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen festgehalten werden, offen zutage. Die Konferenz machte auch deutlich, dass viele Regierungen weltweit nicht genug unternehmen, um die Klimakrise abzuwenden und Umweltzerstörung zu bekämpfen.

Die Fußballweltmeisterschaft im November 2022 in Katar lenkte den Blick auf die Not der dortigen Arbeitsmigrant*innen, die teilweise unter Bedingungen arbeiten müssen, die Zwangsarbeit gleichkommen. In anderen Ländern der Region waren Arbeitsmigrant*innen vergleichbaren Bedingungen ausgesetzt. Die Fußballweltmeisterschaft machte außerdem die Diskriminierung von lebischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) in Katar deutlich sichtbar.

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Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Fortdauernde bewaffnete Konflikte, militärische Besatzung und ständige Unsicherheit hatten weiterhin fatale Auswirkungen auf das Leben von Millionen Zivilpersonen im Irak, in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, im Jemen, in Libyen und Syrien. Sowohl die staatlichen als auch die nichtstaatlichen Konfliktparteien verübten im Jahr 2022 Kriegsverbrechen und andere schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, u. a. wahllose und gezielte Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt und zivile Infrastruktur zerstört wurden.

Der bewaffnete Konflikt in Syrien dauerte auch in seinem elften Jahr unvermindert an, wenngleich das Ausmaß der Gewalt zurückging. Syrische und russische Regierungstruppen richteten rechtswidrige Boden- und Luftangriffe auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur, wie z. B. Einrichtungen zur Wasserversorgung und Lager für Binnenvertriebene, bei denen zahlreiche Zivilpersonen getötet und verletzt wurden.

Der verheerende Konflikt im Jemen ging trotz eines vereinbarten Waffenstillstands weiter. Alle Konfliktparteien verübten rechtswidrige Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet, der Zugang zu humanitärer Hilfe behindert und zivile Infrastruktur zerstört wurden.

In Libyen wurde die seit Oktober 2020 geltende landesweite Waffenruhe überwiegend eingehalten. Doch lieferten sich Milizen und bewaffnete Gruppen im Kampf um Gebiete und Ressourcen weiterhin lokale Gefechte, bei denen sie wahllose Angriffe verübten und zivile Infrastruktur zerstörten.

Der Konflikt zwischen der israelischen Armee und bewaffneten palästinensischen Gruppen flammte 2022 erneut auf. Am 5. August 2022 startete Israel eine dreitägige Militäroffensive gegen den Palästinensischen Islamischen Dschihad im Gazastreifen. Dabei wurden in dem Gebiet, das seit 15 Jahren unter der unrechtmäßigen Blockade und diskriminierenden Herrschaft Israels steht, etwa 1.700 palästinensische Häuser zerstört oder beschädigt und Hunderte Zivilpersonen vertrieben. 17 palästinensische Zivilpersonen wurden durch israelische Angriffe getötet. Mindestens sieben weitere starben offenbar aufgrund von fehlgeleiteten Raketen palästinensischer bewaffneter Gruppen.

Alle an bewaffneten Konflikten beteiligten Parteien müssen sich an das humanitäre Völkerrecht halten und insbesondere gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur sowie wahllose Angriffe beenden. Ausländische Regierungen müssen Waffenlieferungen stoppen, wenn ein erhebliches Risiko besteht, dass diese dazu genutzt werden, um schwere Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu verüben oder zu fördern.

Rechte von Flüchtlingen, Migrant*innen und Binnenvertriebenen

Aktuelle und zurückliegende Konflikte beeinträchtigten weiterhin die Rechte von Geflüchteten, Migrant*innen und Binnenvertriebenen. Aufnahmeländer wie beispielsweise der Libanon und Jordanien verletzten die Rechte von Flüchtlingen, und die internationale Gemeinschaft stellte nicht ausreichend Geld für humanitäre Hilfe zur Verfügung. Die Behörden in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas nahmen Geflüchtete und Migrant*innen weiterhin willkürlich fest, inhaftierten sie, schoben sie massenhaft ab und verletzten den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip).

Der Libanon beherbergte 2022 schätzungsweise 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, doch weil die Regierung nichts unternahm, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise abzumildern, lebten die meisten in extremer Armut und waren ihrer Menschenrechte auf Nahrung, Unterkunft, Bildung und Gesundheit beraubt. Die libanesischen Behörden drängten die Flüchtlinge zunehmend, "freiwillig" nach Syrien zurückzukehren, obwohl gut dokumentiert war, dass ihnen dort Verfolgung drohte. Diese Ausübung von Druck beeinträchtigte die Möglichkeit der Flüchtlinge, einer Rückkehr freiwillig und in Kenntnis der Sachlage zuzustimmen.

In Jordanien lebten noch immer rund 2 Millionen palästinensische Geflüchtete und mehr als 750.000 Flüchtlinge aus anderen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, von denen die meisten nur eingeschränkten Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen hatten, weil die internationale Gemeinschaft nicht ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stellte. Israel nahm Zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine auf und erlaubte Tausenden jüdischen Ukrainer*innen, sich im Land niederzulassen, während Millionen Palästinenser*innen ihr Recht auf Rückkehr weiterhin verwehrt blieb. Zehntausende afrikanische Flüchtlinge, insbesondere aus Eritrea und dem Sudan, erhielten kein Asyl in Israel.

In Libyen verübten staatliche Akteure, Milizen und bewaffnete Gruppen weiterhin schwere Menschenrechtsverstöße an Flüchtlingen und Migrant*innen, darunter rechtswidrige Tötungen, willkürliche Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit, Folter, Vergewaltigungen und andere Misshandlungen sowie Zwangsarbeit. Die von der EU unterstützte libysche Küstenwache beschoss und beschädigte Boote mit Geflüchteten und Migrant*innen, die das Mittelmeer überqueren wollten. Tausende Menschen, die auf See abgefangen und in Libyen an Land gebracht wurden, fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Tausende weitere wurden bereits an den südlichen Grenzen des Landes zurückgewiesen und hatten keine Möglichkeit, Asyl zu beantragen.

An der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla wurden 37 Menschen aus Ländern südlich der Sahara getötet und viele weitere verletzt, als Sicherheitskräfte auf beiden Seiten mit exzessiver Gewalt vorgingen. In Algerien nahmen die Behörden zahlreiche Geflüchtete und Asylsuchende fest oder schoben sie im Schnellverfahren ab. Im Iran schossen Sicherheitskräfte auf afghanische Staatsangehörige, die versuchten, die iranisch-afghanische Grenze zu überqueren. Afghanische Geflüchtete, denen die Einreise gelungen war, wurden willkürlich inhaftiert, gefoltert und rechtswidrig abgeschoben. Saudi-Arabien schob Zehntausende äthiopische Migrant*innen in ihr Heimatland ab, die zuvor unter unmenschlichen Bedingungen willkürlich inhaftiert und Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren, weil sie keinen gültigen Aufenthaltsstatus hatten. Im Irak, in Libyen und in Syrien konnten Binnenvertriebene nicht in ihre Häuser zurückkehren, weil die Sicherheitslage dies nicht zuließ und sie willkürliche Festnahmen und Schikanen durch die Sicherheitskräfte befürchten mussten. Außerdem gab es in ihren Herkunftsgebieten nicht genug grundlegende Versorgungsleistungen und Erwerbsmöglichkeiten.

Die Regierungen müssen die willkürliche Inhaftierung von Geflüchteten und Migrant*innen allein wegen ihres Aufenthaltsstatus beenden und sie vor massenhaften Abschiebungen schützen. Außerdem müssen sie die Praxis beenden, sie in Länder abzuschieben, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Die Regierungen müssen zudem konkrete Schritte unternehmen, um die freiwillige, sichere und menschenwürdige Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Herkunftsgebiete zu gewährleisten.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika wurden Personen, die sich kritisch geäußert, an friedlichen Protesten teilgenommen oder sich für die Menschenrechte und andere politische Anliegen eingesetzt hatten, 2022 weiterhin willkürlich festgenommen, inhaftiert, strafrechtlich verfolgt und schikaniert.

Die Behörden griffen häufig auf vage formulierte Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in Bezug auf die "nationale Sicherheit" zurück, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen und lange Haftstrafen gegen sie zu verhängen.

Der algerische Umweltaktivist Mohad Gasmi wurde wegen eines E-Mail-Austauschs über die Erschließung von Schiefergasvorkommen in Algerien zu drei Jahren Haft verurteilt. In Jordanien nahmen die Behörden drei Journalist*innen fest und klagten sie wegen "Verbreitung von Falschmeldungen" an, weil sie über durchgesickerte Dokumente berichtet hatten, die finanzielle Aktivitäten von Unternehmen, Politiker*innen und anderen Personen wie z. B. König Abdullah II. betrafen. Ein Gericht in Marokko verurteilte die Menschenrechtsverteidigerin Saida Alami wegen Beiträgen in den Sozialen Medien, in denen sie die Unterdrückung von Journalist*innen und Aktivist*innen angeprangert hatte, zu einer zweijährigen Haftstrafe, die im Rechtsmittelverfahren auf drei Jahre erhöht wurde.

In einigen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas verstärkten die Behörden die Zensur oder verschärften die Drohungen gegen Menschen, die ihr Recht auf Meinungsfreiheit in Anspruch nahmen. Im Jemen schalteten die De-facto-Behörden der Huthi mindestens sechs Radiosender in der Hauptstadt Sana'a ab und hielten mindestens acht Medienschaffende weiterhin in Haft, von denen vier in der Todeszelle saßen. Die syrische Regierung verabschiedete ein neues Gesetz über Internetkriminalität, das im Internet geäußerte Kritik an den Behörden oder an der Verfassung mit langen Haftstrafen ahndet. In Tunesien sah ein neues Dekret bis zu zehn Jahre Haft für Personen vor, die Telekommunikationsnetzwerke vorsätzlich dazu nutzten, um "Fake News" oder andere Inhalte, die nach Ansicht der Behörden falsch oder verleumderisch waren, zu produzieren oder zu verbreiten. Bei Verstößen konnten die entsprechenden Einrichtungen aufgelöst werden. In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde bestraft, wer "den Ruf, das Ansehen oder die Stellung des Staates oder seiner führenden Persönlichkeiten verhöhnt, beleidigt oder schädigt".

Im Iran, in Libyen und in Syrien unterdrückten die Behörden Proteste u. a. durch den Einsatz rechtswidriger tödlicher Gewalt und massenhafte Festnahmen. So reagierten die iranischen Sicherheitskräfte auf den beispiellosen Aufstand gegen die Islamische Republik, indem sie Demonstrierende verprügelten und sie mit scharfer Munition und Metallkugeln beschossen. Dabei wurden Hunderte Erwachsene und Kinder getötet und Tausende verletzt. Außerdem unterbrachen oder sperrten die iranischen Behörden die Mobilfunknetze und das Internet und blockierten Soziale Medien. Tausende Menschen wurden willkürlich festgenommen und in unfairen Prozessen verurteilt; zwei junge Männer wurden hingerichtet. Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen gingen teilweise mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedliche Versammlungen vor.

In den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas herrschte weiterhin Straflosigkeit, was rechtswidrige Tötungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen betraf. Auf internationaler Ebene gab es jedoch positive Entwicklungen. So setzte der UN-Menschenrechtsrat im November 2022 eine Untersuchungskommission bezüglich der Menschenrechtsverletzungen im Iran ein, die im Zusammenhang mit den Protesten ab September verübt wurden. Außerdem liefen in mehreren europäischen Ländern auf Grundlage des Weltrechtsprinzips Ermittlungen und Prozesse gegen Personen, die im Verdacht standen, in Syrien oder im Iran völkerrechtliche Verbrechen verübt zu haben.

Einige Länder in der Region griffen auf weitere Maßnahmen zurück, um Kritik zu unterdrücken. So wurden in Algerien gegen Mitglieder oppositioneller politischer Parteien und Bewegungen konstruierte Anklagen wegen Terrorismus erhoben, um sie zum Schweigen zu bringen. Mindestens eine politische Partei musste ihre Aktivitäten einstellen, zwei weiteren Parteien drohte die Suspendierung. Die israelischen Behörden durchsuchten sieben palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen und ordneten deren Schließung an. Außerdem schlossen sie eine palästinensische Partei von der Teilnahme an den israelischen Parlamentswahlen aus. Im Dezember 2022 schoben die israelischen Behörden den Menschenrechtsverteidiger Salah Hammouri nach neunmonatiger Verwaltungshaft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren nach Frankreich ab, nachdem sie ihm seinen dauerhaften Aufenthaltsstatus für Ost-Jerusalem entzogen hatten.

In Ägypten ordneten die Behörden von April bis zum Jahresende die Freilassung von 895 Personen an, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. Im selben Zeitraum wurden jedoch 2.562 mutmaßliche Regierungskritiker*innen festgenommen und von der Staatsanwaltschaft verhört, darunter Hunderte, die mit der Planung von Protestaktionen während der COP27 im November in Verbindung gebracht wurden. Tausende Menschenrechtsverteidiger*innen, Medienschaffende, Demonstrierende und andere tatsächliche oder vermeintliche Kritiker*innen blieben weiterhin willkürlich in Haft, obwohl sie lediglich ihre Menschenrechte wahrgenommen hatten.

Die Regierungen müssen die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit respektieren und sicherstellen, dass Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen diese Rechte ohne Schikane, tätliche Angriffe und strafrechtliche Verfolgung wahrnehmen können. Alle diejenigen, die wegen der Ausübung dieser Rechte im Gefängnis sitzen, müssen sofort und bedingungslos freigelassen werden.

Das Bild zeigt viele Menschen in Robe, die auf der Straße mit Plakaten protestieren

Diskriminierung

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen wurden im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert, u. a. in Bezug auf Erbangelegenheiten, Scheidung, politische Teilhabe und Arbeitsmöglichkeiten. Geschlechtsspezifische Gewalt war nach wie vor weit verbreitet und wurde nicht geahndet. In Ägypten, im Irak, im Iran, im Jemen und in Saudi-Arabien wurden Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen, die sexualisierte Gewalt und geschlechtsspezifische Diskriminierung anprangerten, strafrechtlich verfolgt, verhört und in anderer Weise schikaniert.

Bei den im September 2022 ausgebrochenen landesweiten Protesten im Iran, die sich gegen die jahrzehntelange geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt sowie den diskriminierenden gesetzlichen Kopftuchzwang richteten, spielten Frauen und Mädchen eine maßgebliche Rolle.

Frauen wurden weiterhin Opfer sogenannter Ehrenmorde und anderer Femizide. Die Behörden im Zentralirak und in der Autonomen Region Kurdistan-Irak stellten häusliche Gewalt weiterhin nicht unter Strafe, obwohl sich Berichte über sogenannte Ehrenmorde und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, auch gegen trans Frauen, häuften. In Algerien registrierten die Behörden 37 Femizide.

Der gesetzliche Schutz gegen Diskriminierung war in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas weiterhin unzureichend. So verabschiedete Saudi-Arabien im März 2022 erstmals ein Personenstandsgesetz, in dem das problematische System der männlichen Vormundschaft und die geschlechtsspezifische Diskriminierung in den meisten Aspekten des Familienlebens festgeschrieben wurden. Tunesien strich bei einer Reform des Wahlgesetzes Bestimmungen, die zu einer besseren Vertretung von Frauen im Parlament beitragen sollten. Im Jemen setzten die De-facto-Behörden der Huthi in Gebieten unter ihrer Kontrolle durch, dass Frauen nur in Begleitung eines männlichen Vormunds und mit schriftlicher Genehmigung der Behörden reisen dürfen.

In einigen Ländern gab es Anzeichen für Fortschritte, wenngleich Frauen weiterhin Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt waren. Marokko ratifizierte das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, im nationalen Recht blieb die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern jedoch verankert. In Jordanien wurden Frauen durch eine Verfassungsänderung Männern gleichgestellt, doch erfolgten keine Schritte, um die Gesetzgebung entsprechend anzupassen. In Kuwait ergriff die Regierung Maßnahmen, um den Anteil von Frauen im öffentlichen Dienst und in Führungspositionen zu erhöhen, die nationale Gesetzgebung diskriminierte Frauen jedoch weiterhin. Die omanischen Behörden richteten eine Hotline für Fälle häuslicher Gewalt ein, doch gab es weder Schutzeinrichtungen für Betroffene noch Gesetze, die den Tatbestand häusliche Gewalt definierten.

LGBTI+

Überall im Nahen Osten und in Nordafrika wurden lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI*) wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen und strafrechtlich verfolgt. In einigen Fällen wurden sie gefoltert, indem man sie z. B. zwangsweise einer analen Untersuchung unterzog. Einige Strafgerichte verhängten harte Strafen wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen.

In einigen Ländern gab es 2022 Anzeichen für Rückschritte. Das libanesische Innenministerium gab religiösen Gruppen nach, die gefordert hatten, "die Verbreitung von Homosexualität zu unterbinden", und verbot eine Zeitlang alle Versammlungen von LGBTI+, bis ein Gericht diese Entscheidung außer Kraft setzte.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen strafbar waren, verbot die Regierung Lehrkräften, im Unterricht über "Geschlechtsidentität, Homosexualität oder andere für die Gesellschaft inakzeptable Verhaltensweisen" zu sprechen. Im Jemen gingen die Behörden gegen Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität nicht ihren Vorstellungen entsprach, mit willkürlichen Festnahmen, Vergewaltigungen und anderen Arten der Folter vor.

Ethnische und religiöse Minderheiten

In der gesamten Region wurden Angehörige nationaler, ethnischer und religiöser Gemeinschaften und Minderheiten weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Dies betraf u. a. ihre Rechte auf Religionsausübung, auf gleichberechtigen Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Gesundheitsversorgung und auf ein Leben ohne Verfolgung und andere schwere Menschenrechtsverletzungen.

Israel hielt eine extreme Form der Diskriminierung aufrecht – ein System der Apartheid –, indem es Palästinenser*innen durch territoriale Zersplitterung, Ausgrenzung und Kontrolle, Enteignung von Land und Eigentum sowie Verweigerung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unterdrückte und beherrschte. Zum Erhalt dieses Systems verübte Israel zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen, darunter Zwangsumsiedlungen, Verwaltungshaft, Folter, rechtswidrige Tötungen sowie die Verweigerung grundlegender Rechte und Freiheiten, was den Tatbestand der Apartheid erfüllt. Um dieses Apartheidsystem weiter abzusichern, setzten die Behörden im März 2022 erneut ein Gesetz in Kraft, das die Familienzusammenführung von Palästinenser*innen weitreichend einschränkt und eine jüdische Bevölkerungsmehrheit in Israel gewährleisten soll. Im Juli 2022 bestätigte der Oberste Gerichtshof ein Gesetz, welches das Innenministerium ermächtigt, Bürger*innen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, wenn sie wegen Handlungen verurteilt wurden, die einen "Bruch der Loyalität gegenüber dem Staat" darstellen.

Im Iran wurden ethnische Minderheiten, darunter arabische, aserbaidschanische, belutschische, kurdische und turkmenische Bevölkerungsgruppen, von der Regierung systematisch diskriminiert. Dies betraf vor allem ihren Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu angemessenem Wohnraum und zu politischen Ämtern. In Kuwait waren die Bidun (einheimische, aber staatenlose Kuwaiter*innen) zunehmender gesetzlicher Diskriminierung ausgesetzt.

Auch Angehörige religiöser Minderheiten sahen sich mit tief verwurzelter Diskriminierung konfrontiert, die sich in Gesetzen und im täglichen Leben äußerte und u. a. ihr Recht auf Religionsausübung verletzte. In Algerien griffen die Behörden auf ein Dekret zurück, das die Ausübung anderer Religionen als des sunnitischen Islam einschränkt, um Mitglieder der Ahmadi-Religion des Friedens und des Lichts zu verfolgen und mindestens drei protestantische Kirchen zu schließen. Die ägyptischen Behörden verfolgten und inhaftierten weiterhin Christ*innen und andere religiöse Minderheiten sowie Atheist*innen und sonstige Gruppen, die keine staatlich anerkannten religiösen Überzeugungen vertraten, wegen "Diffamierung der Religion" und anderer fingierter Anschuldigungen. Im Iran wurden Baha’i, Christ*innen, Gonabadi-Derwische, Jüd*innen, Yaresan und sunnitische Muslim*innen durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert, insbesondere was den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt, die Nutzung von Gebetsstätten und die Übernahme politischer Ämter betraf.

Die Regierungen müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTI+ zu beenden, und die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen müssen entkriminalisiert werden. Die Regierungen müssen die Diskriminierung von Personen aufgrund nationaler Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion beenden und rechtliche und politische Reformen umsetzen, um allen Menschen gleiche Rechte ohne Diskriminierung zu gewähren und die Religions- und Glaubensfreiheit zu schützen, zu fördern und zu garantieren.

Das Bild zeigt das Porträtbild einer Frau, die mit einem brennenden Gegenstand auf einem Auto steht und die Hände in die Höhe hält.

Teheran, 21. September 2022: Eine junge Frau verbrennt aus Protest ein Kopftuch. Auslöser ist der Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022.

Wirtschaftliche und soziale Rechte

Die Wirtschaftskrisen in einigen Ländern wirkten sich 2022 verheerend auf die Lebenshaltungskosten, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kraftstoff sowie auf die Rechte auf Trinkwasser, Wohnraum, Gesundheit und einen angemessenen Lebensstandard aus. Besonders hart betroffen waren benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Frauen, LGBTI+, ethnische und religiöse Minderheiten, Geflüchtete und Migrant*innen sowie Geringverdiener*innen.

Den libanesischen Behörden gelang es nicht, die schwere Wirtschaftskrise zu bewältigen, die von der Weltbank als "eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts" eingestuft wurde und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bevölkerung massiv beeinträchtigte. Fast die Hälfte der libanesischen Haushalte hatte nicht genügend Lebensmittel. Strom war nur ein bis zwei Stunden pro Tag verfügbar. Medikamente waren weder lieferbar noch erschwinglich, und die Sozialprogramme waren weiterhin völlig unzureichend.

Ägypten schlitterte in eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die die wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Millionen Menschen untergrub. In Tunesien führte eine Verschärfung der Wirtschaftskrise dazu, dass die Arbeitslosenquote auf 15 Prozent stieg und Grundnahrungsmittel knapp waren. In Syrien hatten schätzungsweise 55 Prozent der Bevölkerung nicht genug zu essen. Und im Jemen konnten sich viele Menschen aufgrund einer Abwertung der Währung, einer hohen Inflationsrate und der weltweit steigenden Lebensmittelpreise keine Nahrungsmittel mehr leisten.

Zahlreiche Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas schützten Geringverdiener*innen nicht vor arbeitsrechtlichen Verstößen und unterdrückten weiterhin das Recht der Beschäftigten, unabhängigen Gewerkschaften beizutreten und zu streiken, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen. In Ägypten, im Iran und in Jordanien mussten Beschäftigte, die protestierten, streikten oder versuchten, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, mit ungerechtfertigten Entlassungen, Festnahmen und Strafverfolgung rechnen. In den Golfstaaten waren unterbezahlte Arbeitsmigrant*innen, die nach wie vor die Mehrheit der Arbeitskräfte stellten, extremer Ausbeutung und arbeitsrechtlicher Diskriminierung ausgesetzt. Sie lebten in völlig unzureichenden Unterkünften, erlitten körperliche und seelische Misshandlungen aller Art, erhielten nur geringe oder gar keine Löhne, hatten nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und wurden massenhaft entlassen und in ihre Heimatländer abgeschoben.

Die Regierung Katars setzte die Reform des Sponsorensystems (kafala) fort, doch wurden Arbeitsmigrant*innen weiterhin häufig um ihren Lohn betrogen und in anderer Weise ausgebeutet. Die Behörden leiteten nach wie vor keine Untersuchungen ein, wenn Arbeitsmigrant*innen, die z. B. in extremer Hitze oder über lange Zeiträume ohne Pausen und Ruhetage gearbeitet hatten, plötzlich starben. Viele Arbeitsmigrant*innen in Katar wurden aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Nationalität oder Sprache diskriminiert, was sich in unterschiedlichen Löhnen sowie schlechteren und härteren Arbeitsbedingungen äußerte. Hausangestellte, in der Mehrzahl Frauen, waren weiterhin harten Arbeitsbedingungen, schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen und sexualisierten Übergriffen ausgesetzt. Arbeitsmigrant*innen durften weiterhin keine Gewerkschaften gründen oder diesen beitreten, während katarischen Staatsangehörigen dieses Recht zustand.

Die Regierungen müssen dringend Sozialsysteme einführen, die alle Menschen, auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen, wirksam vor den negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen schützen, und darauf hinwirken, dass die internationale Gemeinschaft koordinierte Anstrengungen unternimmt, um die Rechte auf Gesundheit, Nahrung und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Regierungen müssen das Recht der Beschäftigten auf Gründung unabhängiger Gewerkschaften und auf Protest schützen und den arbeitsrechtlichen Schutz von Arbeitsmigrant*innen einschließlich Hausangestellten verbessern.

Das Bild zeigt links im Bild zwei Menschen in blauer Arbeitskleidung, im Hintergrund Gebäude und Hochhäuser

Klimakrise

Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika ergriffen Staaten nicht die notwendigen Maßnahmen, um die Klimakrise und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Dies galt auch für Länder, die dem Pariser Klimaabkommen von 2015 beigetreten waren, das rechtlich bindend ist. Die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise auf die Menschenrechte zeigten sich 2022 in vielfacher Weise. In Algerien zerstörten Brände große Waldgebiete und töteten mehr als 40 Menschen. Im Iran ließen sich das Verschwinden von Seen, Flüssen und Feuchtgebieten, die Abholzung von Wäldern, eine massive Luft- und Wasserverschmutzung und Landabsenkungen beobachten. Im Irak mussten mehr als 10.000 Familien aufgrund von Dürren, Hitzewellen und Sandstürmen ihre Heimatorte verlassen.

Die großen Öl und Gas produzierenden Länder der Region verhinderten eine Vereinbarung zum schrittweisen Ausstieg aus fossilen Energien in der Abschlusserklärung der COP27 und ergriffen auch auf nationaler Ebene nicht die erforderlichen Maßnahmen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Saudi-Arabien, einer der weltweit größten Erdölproduzenten, legte keinen neuen nationalen Klimabeitrag (NDC) zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen vor. Kuwait, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate, die bezüglich des weltweiten CO2-Ausstoßes pro Kopf die Ränge zwei, drei und vier belegen, passten ihre Klimabeiträge ebenso wenig an wie Katar. Die Vereinigten Arabischen Emirate erhöhten 2022 sogar ihre Ölproduktion und verstießen damit gegen ihre Verpflichtungen gemäß dem Pariser Klimaabkommen.

Andere Staaten hielten es ebenfalls nicht für notwendig, ihre Emissionsziele bis 2030 zu aktualisieren bzw. zu überarbeiten, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen, oder machten ihre bescheidenen Zusagen von internationaler finanzieller Unterstützung abhängig. Überschattet wurden die Verhandlungen auf der COP27 von der schlechten Menschenrechtslage in Ägypten, die auch an den massenhaften Inhaftierungen in Zusammenhang mit Protestaufrufen während der Konferenz deutlich wurde. Die COP27 fand in einem repressiven Umfeld statt, und Teilnehmer*innen waren Verhören, Überwachung und anderen Schikanen ausgesetzt.

Die Regierungen müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um ihre Treibhausgasemissionen zu senken, und dürfen fossile Energieprojekte nicht länger finanzieren. Außerdem müssen sie ihre nationalen Klimabeiträge überarbeiten und einhalten sowie ihre Verpflichtungen gemäß dem Pariser Klimaabkommen erfüllen.

Das Bild zeigt mehrere Menschen mit Plakaten

Folter und andere Misshandlungen

In Ägypten, im Irak, im Iran, in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, im Jemen, im Libanon, in Libyen, Palästina, Saudi-Arabien und Syrien waren Folter und andere Misshandlungen in offiziellen und inoffiziellen Haftanstalten weiterhin an der Tagesordnung, um "Geständnisse" zu erzwingen und Inhaftierte zu bestrafen. Die dafür Verantwortlichen blieben straffrei. Zu den Foltermethoden gehörten Schläge, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, das Aufhängen in schmerzhaften Positionen, sexualisierte Gewalt, die Verweigerung medizinischer Hilfe und lang andauernde Einzelhaft. Foltervorwürfe und verdächtige Todesfälle in Gewahrsam wurden von den Behörden so gut wie nie gründlich untersucht.

In Libyen folterten und misshandelten Milizen und bewaffnete Gruppen Gefangene systematisch mit Elektroschocks, Auspeitschungen, sexualisierter Gewalt und anderen Methoden, manchmal bis zum Tod. In Saudi-Arabien folterten und misshandelten die Behörden Migrant*innen und verweigerten ihnen eine angemessene medizinische Versorgung, was zum Tod mehrerer Menschen in Gewahrsam führte. In Ägypten wurde in Gefängnissen, Polizeistationen und Einrichtungen des Geheimdiensts routinemäßig gefoltert. In Israel folterten und misshandelten Sicherheitskräfte weiterhin palästinensische Häftlinge. Dasselbe galt für die von palästinensischen Behörden betriebenen Haft- und Verhörzentren im Westjordanland und im Gazastreifen. Im Libanon erhob ein Untersuchungsrichter der Militärjustiz Anklage gegen fünf Angehörige des Geheimdiensts, denen Folter an einem syrischen Flüchtling zur Last gelegt wurde, der in Gewahrsam gestorben war. Der Fall wurde vor einem Militärgericht verhandelt, das für unfaire Verfahren bekannt war.

Der Iran, Libyen und Saudi-Arabien erhielten Gesetze aufrecht, die Körperstrafen wie Amputation, Auspeitschung, Blendung, Steinigung und Kreuzigung vorsehen. Im Iran wurden zwischen Mai und September fünf Männern, die wegen Diebstahls schuldig gesprochen worden waren, die Finger amputiert.

In zahlreichen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas waren die Haftbedingungen unmenschlich, und die Gefangenen litten unter Überbelegung der Zellen, schlechter Belüftung und Hygiene sowie unzureichender Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser. Außerdem verweigerte man ihnen eine rechtzeitige und angemessene medizinische Versorgung, Familienbesuche, frische Luft und Bewegung im Freien. In Bahrain wurde Ahmed Jaber Ahmed elf Monate lang die medizinische Versorgung vorenthalten, bis er weder gehen noch sich selbst ankleiden konnte. Schließlich wurde in einem Krankenhaus bei ihm Tuberkulose diagnostiziert, die sich bis in seine Wirbelsäule ausgebreitet hatte. In den Vereinigten Arabischen Emiraten verbrachte der Menschenrechtsverteidiger Ahmed Mansoor das gesamte Jahr 2022 in Einzelhaft, ohne Matratze, Kopfkissen, persönliche Hygieneartikel, Bücher und seine Brille.

Die Regierungen müssen bei Vorwürfen bezüglich Folter, außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwindenlassen und anderen völkerrechtlichen Verbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen unabhängige, unparteiische und gründliche Untersuchungen einleiten und Maßnahmen ergreifen, um diese Verbrechen zu verhindern und die Opfer zu entschädigen.

Diese Zeichnung zeigt vier Männer mit Augenbinden und freiem Oberkörper, die hintereinander und aneinandergekettet gekrümmt vor einem Gefängniszelle stehen. Hinter ihnen steht eine Wache mit einem Schlagstock in der rechten Hand.

In syrischen Gefängnissen wurden in den vergangenen Jahren Tausende Menschen systematisch gefoltert und misshandelt.

Todesstrafe

Die meisten Länder der Region hielten weiterhin an der Todesstrafe fest. Gerichte verhängten Todesurteile nach unfairen Verfahren, auch für Straftaten, die nicht mit einer vorsätzlichen Tötung verbunden waren, sowie für völkerrechtlich geschützte Handlungen wie z. B. einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen, "Apostasie" (Abfall vom Glauben) und konstruierte oder vage Verstöße, die Dissident*innen vorgeworfen wurden.

In Ägypten, im Irak, im Iran und in Saudi-Arabien wurden Hinrichtungen vollstreckt. Die De-facto-Behörden der Hamas im Gazastreifen ließen zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder hinrichten. In Ägypten, im Irak, im Iran, in Libyen und in Saudi-Arabien ergingen Todesurteile nach grob unfairen Verfahren vor Not-, Militär- und Sondergerichten. Die iranischen Behörden setzten die Todesstrafe häufig als Mittel der politischen Unterdrückung ein, ließen vermehrt Hinrichtungen vollziehen und nahmen öffentliche Exekutionen wieder auf. Der Iran war das einzige Land in der Region, das Menschen hinrichtete, die für Straftaten zum Tode verurteilt worden waren, die sie als Minderjährige begangen hatten. In Saudi-Arabien fand am 12. März 2022 die größte Massenexekution seit Jahrzehnten statt, bei der 81 Männer hingerichtet wurden. Außerdem wurden nach einem inoffiziellen fast zweijährigen Moratorium wieder Hinrichtungen wegen Drogendelikten aufgenommen. In Ägypten und im Irak gab es 2022 weniger Hinrichtungen als in den Vorjahren.

Die Regierungen müssen unverzüglich ein offizielles Moratorium für Hinrichtungen einführen, mit dem Ziel, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen.

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