Amnesty Report 28. März 2023

Regionalkapitel Amerika 2022

Das Bild zeigt einen behelmten Polizisten, der ein Gewehr abfeuert. Aus der Mündung des Gewehrs strömt ein großer Feuerstoß.

Ein Polizist feuert in der peruanischen Hauptstadt Lima aus nächster Nähe eine Tränengasgranate auf Demonstrierende ab (Aufnahme vom Dezember 2022).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Einleitung

Auch drei Jahre nach dem Ausbruch von Covid-19 litt der amerikanische Kontinent noch unter den verheerenden Auswirkungen der Pandemie. Den Behörden gelang es nicht, die Grundrechte von Millionen von Menschen auf Nahrung, Wasser und Gesundheit zu gewährleisten, und die Gesundheitssysteme waren nach wie vor völlig unterfinanziert.

Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftsabschwungs wandten die Behörden zahlreicher Länder verstärkt repressive Taktiken an, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und verschiedene Ausdrucksformen von Protest zu unterdrücken. Mehrere Regierungen verhängten den Ausnahmezustand, was zu verschiedenen schweren Menschenrechtsverletzungen führte, darunter willkürliche Festnahmen, unfaire Gerichtsverfahren und rechtswidrige Tötungen. In anderen Fällen setzten die Behörden exzessive Gewalt gegen Menschen ein, die ihr Recht auf Protest ausübten, überwachten Aktivist*innen rechtswidrig und griffen Journalist*innen an. Angehörige indigener Gemeinschaften sowie Schwarze und andere Menschen, die rassistische Diskriminierung erfahren, waren auch 2022 unverhältnismäßig stark von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Hierzu zählten beispielsweise Übergriffe durch die Polizei sowie Folter und andere Misshandlungen in Hafteinrichtungen für Migrant*innen.

Erhebliche Rückschläge waren bei den sexuellen und reproduktiven Rechten zu verzeichnen. So wurden in einer Reihe von Ländern gesetzliche Regelungen beschlossen, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen untergruben und eine umfassende Sexualerziehung unterbanden.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen war noch immer weit verbreitet. LGBTI+ waren weiterhin gefährdet, und in einigen Ländern erreichten die Tötungen von trans Menschen ein nie dagewesenes Ausmaß. In mehreren Ländern ergriffen die Behörden Maßnahmen, um einige der für frühere Verbrechen Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, doch im Allgemeinen blieb die Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen bestehen.

Die Regierungen kamen ihren Verpflichtungen zum Klimaschutz nicht angemessen nach. Angesichts der historisch hohen Zahl von Menschen, die im Ausland Zuflucht oder ein besseres Leben suchten, ergriffen zahlreiche Länder rückwärtsgerichtete politische Maßnahmen, die die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen untergruben und gegen das Völkerrecht verstießen.

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Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die Zahl der in Armut lebenden Menschen lag nach wie vor höher als vor der Pandemie. Viele Regierungen des amerikanischen Kontinents versagten bei der Aufgabe, die strukturellen Hindernisse zu bewältigen, die der durch die Pandemie ausgelösten Krise zugrunde lagen. Hierzu zählten sozioökonomische Ungleichheiten, niedrige Steuereinnahmen, unzureichende öffentliche Gesundheitsausgaben sowie mangelnder Zugang zu anderen sozialen Gesundheitsdeterminanten, insbesondere Ernährungssicherheit, sauberem Wasser und grundlegender Infrastruktur.

Die Inflation verschärfte die wirtschaftliche Not. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds lag die Inflationsrate in Argentinien, Chile, Haiti, Honduras, Kolumbien, Nicaragua und Venezuela besonders hoch. Millionen Menschen in der Region waren von den Grundrechten auf Nahrung, Gesundheit und Wasser ausgeschlossen. In Brasilien verfügte mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht über einen angemessenen und sicheren Zugang zu Nahrungsmitteln, wobei Schwarze Menschen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen überproportional betroffen waren. In Venezuela litt der überwiegende Teil der Bevölkerung unter Ernährungsunsicherheit. Nach Angaben der Weltbank verzeichnete das Land im August 2022 bei den Lebensmittelpreisen weltweit die dritthöchste Inflationsrate. In Kuba zwang die Lebensmittelknappheit die Menschen dazu, stundenlang für Grundnahrungsmittel anzustehen, und in Haiti waren mehr als 40 Prozent der Bevölkerung mit akuter Hungersnot konfrontiert, während es gleichzeitig zu einem erneuten Choleraausbruch kam. In Argentinien lebten in der ersten Jahreshälfte 36,5 Prozent der Bevölkerung in Armut.

In den meisten Ländern ergriffen die Regierungen keine angemessenen Maßnahmen, um das Recht auf Gesundheit besser zu schützen, obwohl die Pandemie aufgezeigt hatte, dass die Gesundheitssysteme umfassend reformiert werden müssen. In Brasilien billigte der Kongress einen Haushaltsentwurf, der für das Gesundheitsministerium die niedrigsten Mittel seit einem Jahrzehnt vorsah, sodass der Zugang zu einer angemessenen Gesundheits- und Medikamentenversorgung im Land gefährdet war. In Ländern wie Guatemala, Honduras und Paraguay befanden sich die für das Gesundheitswesen vorgesehenen öffentlichen Ausgaben weiterhin auf einem kritischen Tiefstand. Die Gesundheitsdienste waren überfordert und nicht in der Lage, den Grundbedarf in der Bevölkerung zu decken. In Chile stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung im September gegen einen neuen Verfassungsentwurf, der eine Stärkung des Schutzes der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Umweltrechte vorsah. Reformvorschläge zum Recht auf Gesundheit sowie zu sexuellen und reproduktiven Rechten waren am Ende des Jahres noch anhängig.

Die Regierungen müssen umgehend dafür sorgen, dass ein Höchstmaß der zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Erfüllung ihrer Kernverpflichtungen zur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte eingesetzt wird.

Willkürliche Inhaftierungen, rechtswidrige Tötungen sowie Folter und andere Misshandlungen

In vielen Ländern verletzten die Behörden weiterhin die Rechte der Menschen auf Leben, Freiheit, faire Gerichtsverfahren und körperliche Unversehrtheit. Zu den meisten dieser Menschenrechtsverletzungen kam es entweder bei repressiven Einsätzen der Sicherheitsbehörden als Reaktion auf Proteste während politischer Krisen oder Ausnahmezustände oder im Kontext institutioneller Defizite bei den Sicherheitskräften und im Justizwesen, die zu rechtswidrigen, willkürlichen und unverhältnismäßigen Reaktionen führten.

Exzessive Gewaltanwendung und rechtswidrige Tötungen durch Sicherheitskräfte waren in den Ländern der Region weit verbreitet und betrafen häufig einkommensschwache und rassifizierte Stadtviertel u. a. in Argentinien, Brasilien, der Dominikanischen Republik, Kolumbien, Mexiko, den USA und Venezuela. Zwischen Januar und September 2022 führten die Sicherheitskräfte in verschiedenen Landesteilen Venezuelas 488 mutmaßlich außergerichtliche Hinrichtungen durch. In Brasilien wurden bei Polizeieinsätzen zahlreiche Menschen getötet.

Willkürliche Inhaftierungen waren in Ecuador, El Salvador, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua und Venezuela nach wie vor an der Tagesordnung. Die Inhaftierten wurden häufig gefoltert oder anderweitig misshandelt, und manche wurden Opfer des Verschwindenlassens. Im März 2022 riefen die Behörden in El Salvador den Ausnahmezustand aus. Sie reagierten damit auf eine Welle von Tötungen, die Banden zugeschrieben wurden. Die Maßnahme führte zu massiven Menschenrechtsverletzungen, mehr als 60.000 Festnahmen und zahlreichen unfairen Gerichtsverfahren. In Ecuador wurden vor dem Hintergrund anhaltend schlimmer Zustände in den Hafteinrichtungen des Landes mindestens 146 Inhaftierte getötet. In Ecuador und Mexiko wurden auf Verwaltungs-, Justiz- und Gesetzesebene Beschlüsse zugunsten einer Ausweitung der Rolle der Streitkräfte bei Aufgaben der öffentlichen Sicherheit gefasst.

Das Bild zeigt eine Person von hinten in Handschellen, die von zwei Polizisten abgeführt wird.

Zwei Polizisten in San Salvador, der Hauptstadt von El Salvador, führen einen Verdächtigen ab (26. April 2022). 

Unterdrückung Andersdenkender und des Rechts auf Meinungsfreiheit

In mehreren Ländern gingen Anhänger*innen sozialer Bewegungen auf die Straße, um grundlegende wirtschaftliche und soziale Rechte, ein Ende der geschlechtsspezifischen Gewalt, die Freilassung rechtswidrig inhaftierter Personen und den Schutz der Umwelt zu fordern. Die Behörden reagierten darauf routinemäßig mit unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt. In Ecuador starben mindestens sechs Menschen, nachdem Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt gegen Angehörige indigener Gemeinschaften vorgegangen waren, die wegen sozialer und ökologischer Probleme protestiert hatten. In Kolumbien wurde ein Indigenensprecher im Zusammenhang mit einer Umweltdemonstration erschossen. Bei einer weiteren Protestveranstaltung in der Hauptstadt Bogotá erlitt ein Demonstrierender eine Augenverletzung, als er von einem Projektil getroffen wurde. In Peru starben bei Protesten in der ersten Jahreshälfte mindestens drei Menschen durch Einsätze der Nationalpolizei, und in den letzten Wochen des Jahres wurden bei den Protesten, die im Dezember nach der Amtsenthebung von Präsident Pedro Castillo ausgebrochen waren, 22 Menschen getötet.

In Bolivien gingen Ordnungskräfte gewaltsam gegen Kokaproduzent*innen vor, die gegen die Vernichtung ihrer Anbaukulturen protestierten, und nahmen sie in einigen Fällen willkürlich fest. In den USA wurden bei Protesten, die durch die Tötung des Schwarzen Jayland Walker ausgelöst worden waren, mehr als 75 Personen festgenommen. Jayland Walker war im Juni in Akron (Ohio) durch 46 von der Polizei abgegebene Schüsse getötet worden. In Mexiko stigmatisierte die Regierung weiterhin Feminist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die von der Regierung Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt forderten. In einigen Bundesstaaten griffen Sicherheitskräfte Demonstrierende tätlich an und inhaftierten sie willkürlich. Aus Puerto Rico und Kuba gab es Berichte, dass die Polizei nach dem Hurrikan "Ian" mit exzessiver Gewalt gegen Personen vorging, die gegen Stromausfälle und andere gesellschaftliche Probleme demonstrierten.

In Nicaragua entzogen die Behörden im Laufe des Jahres mehr als 1.000 Organisationen den Rechtsstatus, schlossen mindestens zwölf Universitäten, inhaftierten Journalist*innen und schikanierten politische Aktivist*innen und Oppositionelle. In Venezuela inhaftierten, folterten und misshandelten Angehörige der Geheimdienste und andere Sicherheitskräfte mit Duldung der Justiz weiterhin Personen, die als Regierungsgegner*innen angesehen wurden.

In Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Paraguay, Peru, Venezuela und anderen Ländern wurden Menschenrechtsverteidiger*innen bedroht, schikaniert, strafrechtlich verfolgt oder willkürlich festgenommen. Darüber hinaus liefen Menschenrechtler*innen in Bolivien, Brasilien, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela Gefahr, allein wegen ihrer Arbeit getötet zu werden. In Kolumbien wurden im Laufe des Jahres mindestens 189 Sprecher*innen lokaler Gemeinschaften und Menschenrechtsverteidiger*innen getötet. In Venezuela gab es mindestens 396 Angriffe auf Menschenrechtler*innen, bei denen sie u. a. eingeschüchtert, stigmatisiert oder bedroht wurden. In Nicaragua wurden zahlreiche inhaftierte Andersdenkende und Regierungskritiker*innen vor Gericht gestellt, wobei grundlegende Verfahrensgarantien nicht eingehalten wurden. In Paraguay mussten Aktivist*innen, die an Protesten gegen die staatliche Gesundheitspolitik teilgenommen hatten, weiterhin mit konstruierten Anklagen rechnen. In Guatemala sahen sich Richter*innen, Staatsanwält*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Demonstrierende unbegründeten Strafverfahren ausgesetzt. Und in Bolivien wurden Menschenrechtler*innen strafrechtlich verfolgt, wenn sie die Regierung kritisierten.

Auf dem gesamten Kontinent war die Pressefreiheit weiterhin gefährdet. In Haiti, Kolumbien, Mexiko und Venezuela bezahlten Journalist*innen ihre Tätigkeit mit dem Leben. Für die mexikanische Presse war 2022 mit mindestens 13 getöteten Journalist*innen das bislang tödlichste Jahr ihrer Geschichte. In Nicaragua und Venezuela kam es zur willkürlichen Schließung von Medienunternehmen. In Guatemala sahen sich Journalist*innen, die über Korruption und Straflosigkeit berichteten, häufig mit unbegründeten Strafanzeigen und Verleumdungskampagnen konfrontiert, während in El Salvador zahlreiche Journalist*innen tätlich angegriffen wurden.

In El Salvador und Mexiko wurde der rechtswidrige Einsatz der Spionagesoftware Pegasus zur Überwachung von Aktivist*innen und Journalist*innen dokumentiert.

Die Behörden nutzten zudem vage und übermäßig weit gefasste Gesetze, um Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen. In El Salvador wurde das Strafgesetzbuch dahingehend abgeändert, dass Haftstrafen zwischen 10 und 15 Jahren drohen, wenn durch die Berichterstattung über Banden "Angst" oder "Panik" ausgelöst wird. In Nicaragua ergänzte das im Jahr 2022 erlassene "Allgemeine Gesetz zur Regulierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen" eine Reihe von Gesetzen, mit denen seit 2018 die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen untergraben wird. In Kuba trat im Dezember ein neues Strafgesetzbuch in Kraft, das die schon seit Langem bestehenden Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung fest zu verankern droht. In Argentinien legte die Provinzregierung von Jujuy einen Vorschlag zur Änderung der Provinzverfassung vor, nach dem Proteste eingeschränkt und Straßenblockaden sowie die "Vereinnahmung des öffentlichen Raums" (usurpación del espacio público) verboten werden sollen.

Die Regierungen müssen die Ausübung der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit achten, schützen und fördern. Im Hinblick darauf haben sie dafür zu sorgen, dass Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und politisch Andersdenkende in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und ihre Rechte wahrzunehmen, ohne schikaniert, angegriffen oder rechtswidrig überwacht zu werden.

Die Regierungen müssen außerdem sicherstellen, dass das Recht auf friedlichen Protest gewährleistet ist und jeglicher Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte notwendig, verhältnismäßig und rechtmäßig ist.

Sexuelle und reproduktive Rechte

In mehreren Ländern der Region ergriffen die Behörden Maßnahmen, die die sexuellen und reproduktiven Rechte ernsthaft gefährdeten. In El Salvador, wo nach wie vor ein absolutes Abtreibungsverbot bestand, befanden sich 2022 mindestens zwei Frauen wegen Anklagen im Zusammenhang mit unverschuldeten gynäkologischen Notfällen – sie erlitten Früh- bzw. Totgeburten – in Haft. Eine von ihnen verbüßte wegen einer Fehlgeburt die Höchststrafe von 50 Jahren Gefängnis. In der Dominikanischen Republik scheiterte der Kongress erneut an der Aufgabe, eine Reform des Strafgesetzbuchs auf den Weg zu bringen, um Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren.

Im Juni kippte der Oberste Gerichtshof der USA das Grundsatzurteil aus dem Jahr 1973 im Fall Roe gegen Wade. Das Gericht hob damit den bis dato bundesweit gesetzlich verankerten Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch auf und machte eine Rechtsprechung rückgängig, die fast 50 Jahre lang gegolten hatte. Viele US-Bundesstaaten führten nach dem Urteil umgehend neue Gesetze ein, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen stark einschränkten oder den Eingriff ganz verboten. In anderen Bundesstaaten jedoch stimmten die Menschen mit überwältigender Mehrheit für den Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch. In Puerto Rico wurden fünf Gesetzentwürfe abgelehnt, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einzuschränken versuchten. In Peru lag dem Kongress ein Gesetzentwurf vor, dessen Annahme den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen gefährden würde. In Argentinien gab es weiterhin erhebliche Hindernisse beim Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, obwohl ein Gesetz aus dem Jahr 2020 den Eingriff innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen entkriminalisiert und legalisiert hatte.

Es gab jedoch auch einige Fortschritte bei den sexuellen und reproduktiven Rechten. In Kolumbien entschied das Verfassungsgericht im Februar 2022, Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24. Schwangerschaftswoche zu entkriminalisieren. In Mexiko stellten vier weitere Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche straffrei, sodass sie nun in 11 der 32 mexikanischen Bundesstaaten nicht mehr geahndet werden. In Ecuador unterzeichnete der Präsident ein Gesetz zur Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Fällen von Vergewaltigung, das jedoch auch einige restriktive Bestimmungen enthielt.

In mehreren Ländern ergriffen die Behörden keine Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf eine umfassende Sexualerziehung. Die Behörden in Argentinien (Provinz Chaco), Paraguay, Peru und mehreren US-Bundesstaaten schränkten die Aufklärung über Sexualität und geschlechtliche Vielfalt in Bildungseinrichtungen weiterhin ein.

Regierungen müssen die Wahrnehmung der sexuellen und reproduktiven Rechte gewährleisten, hierzu zählt auch der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen.

Frauen halten grüne Tücher in die Höhe mit dem spanischen Slogan für „Jugend im Widerstand“.

Geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung von Frauen, Mädchen und LGBTI+

Die Behörden zahlreicher Länder ergriffen 2022 keine angemessenen Maßnahmen, um Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. In Argentinien dokumentierten NGOs 233 geschlechtsspezifische Tötungen (Femizide), 91 Prozent davon im häuslichen Umfeld. Mexiko verzeichnete zwischen Januar und November 858 Feminizide. (Der in Mexiko verwendete Begriff "Feminizid" statt "Femizid" verdeutlicht die politische Dimension von Morden an Frauen – aufgrund weitgehender Straflosigkeit stehen hier der Staats- und Rechtsapparat in der Verantwortung.) In Venezuela wurden laut Angaben lokaler Organisationen von Januar bis September 199 Femizide verübt. Eine zivilgesellschaftliche Beobachtungsstelle in Uruguay registrierte dort einen Anstieg der Femizide im Vergleich zum Vorjahr, und in Peru wurden 124 Femizide dokumentiert.

In den USA wurde das Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt (Violence Against Women Act) vom Kongress erneut gebilligt und von Präsident Biden unterzeichnet, nachdem es im Jahr 2021 ausgesetzt worden war. Das Gesetz ist in den USA der wichtigste Finanzierungsmechanismus für Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) waren weiterhin der Gefahr von Tötungen, Angriffen, Diskriminierung und Drohungen ausgesetzt und stießen in mehreren Ländern der Region auf Hindernisse bei der rechtlichen Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität. Für transgeschlechtliche Menschen war die Gefahr, getötet zu werden, in Brasilien, Guatemala, Honduras, Kolumbien und Mexiko besonders groß. Im Januar 2022 veröffentlichte Daten zeigten, dass Brasilien im 13. Jahr in Folge weltweit das Land mit der höchsten Zahl getöteter trans Menschen war. Allerdings wurden auch zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zwei trans Frauen in den Kongress gewählt.

Im Laufe des Jahres wurden in Ländern der Region mehrere gesetzliche Maßnahmen verabschiedet, die die Rechte von LGBTI+ betrafen. In Kolumbien ordnete das Verfassungsgericht die Einführung einer nicht-binären Geschlechtskategorie in Ausweisdokumenten an und schuf damit einen Präzedenzfall für die Geschlechtervielfalt. Im September reformierte Kuba nach einem Referendum das Familienrecht, um die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren und gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption zu erlauben. Als letzter mexikanischer Bundesstaat legalisierte Tamaulipas im Oktober die gleichgeschlechtliche Ehe, womit sie nun im ganzen Land erlaubt ist. In den USA trat im Dezember mit dem Respect for Marriage Act ein bundesweites Gesetz in Kraft, das für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen sorgte. Demgegenüber nahm in Puerto Rico die Menschenrechts- und Arbeitskommission im Mai wieder Abstand von einem Gesetzesvorschlag über die Rechte von LGBTI+.

Die Regierungen auf dem gesamten Kontinent müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um Frauenmorde (Femizide und Feminizide) und die Tötung von LGBTI+ zu verhindern. Sie müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die für diese Verbrechen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden, und für Garantien der Nichtwiederholung sorgen.

Das Bild zeigt mehrere Frauen, die Protestplakaten in der Hand halten

Demonstration gegen Gewalt an Frauen am Weltfrauentag in der mexikanischen Stadt Toluca (8. März 2022)

Diskriminierung indigener Gemeinschaften und Schwarzer Menschen

Menschen, die bereits seit langer Zeit aus rassistischen Gründen diskriminiert werden, waren auch 2022 unverhältnismäßig stark von Menschenrechtsverletzungen betroffen. In Brasilien, Ecuador, Kolumbien und Mexiko wurden im Zusammenhang mit Landkonflikten indigene Sprecher*innen getötet. In Kolumbien waren indigene Sprecher*innen und Personen, die sich für Indigenenrechte einsetzten, in Gefahr, angegriffen und getötet zu werden. In kolumbianischen Gegenden, in denen bewaffnete Oppositionsgruppen aktiv waren, wurden indigene und afro-kolumbianische Gemeinschaften vertrieben, was in einigen Fällen zu humanitären Notlagen führte. In Paraguay ergriffen die Behörden keine angemessenen Maßnahmen angesichts der rechtswidrigen Zwangsräumung indigener Gemeinschaften von ihrem angestammten Land. Auch in Nicaragua wurden indigene Gemeinschaften vertrieben und von bewaffneten Unbekannten angegriffen.

In mehreren Ländern wie z. B. Argentinien, Brasilien, Guatemala, Honduras, Kanada, Mexiko, Paraguay, Peru und Venezuela gaben die Regierungen grünes Licht für Bergbau-, Landwirtschafts- und Infrastrukturprojekte, ohne die freie, vorherige und informierte Zustimmung der betroffenen indigenen Gemeinschaften eingeholt zu haben. In Argentinien stießen indigene Gemeinschaften weiterhin auf große Schwierigkeiten bei der Geltendmachung ihrer kollektiven Landrechte. In Ecuador wurden indigene Sprecher*innen und Landrechtsverteidiger*innen getötet und bedroht. Indigene Gemeinschaften im ecuadorianischen Amazonasgebiet, die im Januar 2022 von einer großen Ölpest betroffen waren, wurden weder für diese noch für eine im Jahr 2020 aufgetretene Ölkatastrophe entschädigt.

Indigene Frauen wurden auch 2022 unverhältnismäßig häufig Opfer von Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt und erhielten nach solchen Taten keine medizinische Versorgung. Darüber hinaus waren sie weiterhin in hohem Maße von Verschwindenlassen und Mord betroffen. In Kanada berichteten indigene Frauen aus mehreren First-Nations- und Inuit-Gemeinschaften in Québec über Zwangssterilisationen und verschiedene Formen von Gewalt bzw. Diskriminierung in der Geburtshilfe.

Der kanadische Premierminister Trudeau räumte offiziell die Rolle der katholischen Kirche und der kanadischen Regierung bei der Gründung, Aufrechterhaltung und dem Betrieb der ehemaligen Internatsschulen (Residential Schools) für indigene Kinder und Jugendliche ein. Im Oktober 2022 erkannte das Unterhaus das System der Internatsschulen einstimmig als Völkermord an den indigenen Gemeinschaften an.

In mehreren Ländern der Region waren Schwarze Menschen weiterhin unverhältnismäßig stark von rechtswidriger staatlicher Gewalt betroffen. In Brasilien kam es bei mehreren Polizeieinsätzen zu zahlreichen Tötungen. So wurden im Mai im Stadtteil Vila Cruzeiro in Rio de Janeiro 23 Menschen getötet. Laut Angaben einer brasilianischen NGO waren im Jahr 2021 84 Prozent aller von der Polizei in Brasilien getöteten Menschen Schwarz. Auch Daten über Tötungen durch die Polizei in Puerto Rico zeigten, dass einkommensschwache Menschen in ethnisch gemischten Wohngegenden einem höheren Risiko ausgesetzt waren, von der Polizei getötet zu werden, als einkommensschwache Personen in Gegenden, in denen hauptsächlich Weiße lebten. In den USA wurden Schwarze haitianische Asylsuchende von den Behörden willkürlich inhaftiert und diskriminierender und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, die rassistisch motivierter Folter gleichkam. Darüber hinaus deuteten in den USA die begrenzt verfügbaren öffentlichen Daten darauf hin, dass Schwarze unverhältnismäßig oft von der Polizei mit tödlicher Gewalt ins Visier genommen wurden. Der US-Senat befasste sich im Jahr 2022 nicht mit dem George Floyd Justice in Policing Act. Der Gesetzentwurf, der im Jahr 2021 vom Repräsentantenhaus gebilligt worden war, umfasste zahlreiche Maßnahmen zur Polizeiarbeit und zur Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte. In Kanada meldete die Polizeibehörde von Toronto unangemessene Gewaltanwendung und Leibesvisitationen in Stadtteilen, die von rassifizierten Gemeinschaften bewohnt waren. Stadtteile mit vornehmlich Schwarzen Einwohner*innen waren besonders betroffen.

Die Behörden müssen das Recht indigener Gemeinschaften auf Selbstbestimmung respektieren und für alle Projekte auf deren angestammtem Land die freie, vorherige und informierte Zustimmung der Gemeinschaften einholen. Tötungen von Angehörigen indigener Gemeinschaften müssen unverzüglich, unparteiisch und zielführend untersucht werden.

Die Behörden müssen entschlossen handeln, um den systemischen Rassismus bei Polizeieinsätzen und in Einwanderungssystemen abzubauen. Sie müssen zudem unter umfassender und wirksamer Beteiligung der betroffenen Gemeinschaften Systeme zur Erhebung von Daten über rassistische Gewalt und Diskriminierung entwickeln, die nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselt sind.

Straflosigkeit und fehlende Rechenschaftspflicht

In mehreren Ländern erzielten die Behörden wichtige, wenn auch begrenzte Fortschritte in Bezug auf Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen, einschließlich völkerrechtlicher Verbrechen, die in früheren Jahrzehnten begangen wurden. Hingegen scheiterten die Regierungen im Allgemeinen daran, Personen strafrechtlich zu verfolgen, denen vorgeworfen wurde, für in jüngerer Zeit verübte völkerrechtliche Verbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein. Tief verwurzelte Straflosigkeit kennzeichnete die Justizsysteme in zahlreichen Ländern der Region.

In Argentinien, Bolivien, Chile, Guatemala, Kolumbien und Uruguay machten die Behörden jedoch Fortschritte bei Ermittlungen und Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, die unter den früheren Militärregierungen oder während interner bewaffneter Konflikte begangen worden waren. In Kolumbien wurden bis Ende 2022 zahlreiche ehemalige Armeeangehörige von der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden angeklagt.

Hingegen kamen die Behörden in El Salvador bei der strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die beschuldigt werden, während des bewaffneten Konflikts (1980–1992) Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, kaum voran. In den USA war mehr als ein Jahrzehnt nach dem geheimen Inhaftierungs- und Verhörprogramm der CIA, das von 2001 bis 2009 autorisiert war, noch immer niemand für die völkerrechtlichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und andere Misshandlungen sowie Verschwindenlassen, zur Rechenschaft gezogen worden. In Guatemala ergriffen die Behörden keine Maßnahmen, um Richter*innen und Staatsanwält*innen, die an Fällen im Zusammenhang mit dem internen bewaffneten Konflikt (1960–1996) arbeiteten, vor Einschüchterung, Schikane und unbegründeter Strafverfolgung zu schützen.

In Bolivien, Chile, Honduras, Kolumbien, Nicaragua und Venezuela blieben die zwischen 2017 und 2021 von den Behörden während der Niederschlagung von Protesten verübten Menschenrechtsverletzungen straflos. In Mexiko belief sich die Gesamtzahl der seit den 1960er-Jahren vermissten bzw. verschwundenen Personen auf über 109.000; mehr als 90.000 dieser Fälle sind seit 2006 registriert worden.

Aus Berichten der UN-Ermittlungsmission zu Venezuela ging hervor, dass das dortige Justizsystem manipuliert wurde, um für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Angehörige von Polizei und Militär zu schützen. Die Berichte identifizierten auch Befehlsketten, die mutmaßliche Verantwortliche mit der Regierung von Nicolás Maduro in Verbindung brachten. Die Anklagebehörde des IStGH leitete eine Untersuchung zu mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Venezuela ein – die erste derartige Untersuchung in der Region Amerika.

In Chile befanden sich Personen, denen angebliche Straftaten während der Massenproteste im Jahr 2019 vorgeworfen wurden, noch immer in Haft, einige von ihnen wegen haltloser Anklagen. Die Regierung kündigte ein neues Programm zur Entschädigung der mehr als 400 Menschen an, die während der Proteste Augenverletzungen erlitten hatten. In Nicaragua waren Ende 2022 noch immer 225 Menschen in Haft, die im Zuge der Menschenrechtskrise, die 2018 begann, festgenommen worden waren.

In Brasilien beantragte der Generalstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof die Einstellung von sieben der zehn gegen den damaligen Präsidenten Bolsonaro eingeleiteten Ermittlungen. Zuvor hatte eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Umgang der Regierung mit der Coronapandemie empfohlen, ihn wegen "Scharlatanerie", Amtspflichtsverletzung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen.

Von brasilianischen Sicherheitskräften und Polizist*innen verübte rechtswidrige Tötungen blieben weiterhin straflos.

In Chile, Ecuador, El Salvador, Uruguay und Venezuela waren die Gefängnisse auch 2022 chronisch überbelegt.

Im Gefangenenlager auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay in Kuba wurden weiterhin völkerrechtswidrig 35 muslimische Männer willkürlich und auf unbestimmte Zeit vom US-Militär festgehalten.

Die Behörden müssen die Straflosigkeit bekämpfen, indem sie unverzüglich unabhängige, unparteiische und zielführende Untersuchungen zu allen in der Vergangenheit und der Gegenwart verübten völkerrechtlichen Verbrechen und sonstigen Menschenrechtsverletzungen einleiten. Diejenigen, denen strafrechtliche Verantwortung für völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen wird, müssen strafverfolgt werden. Die Behörden müssen außerdem gewährleisten, dass den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zuteilwird.

Klimakrise und Umweltzerstörung

Die von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen reichten nicht aus, um dem Ausmaß der Klimakrise zu begegnen. Aktivist*innen und Angehörige indigener Gemeinschaften, die sich für den Umweltschutz engagierten, wurden wegen ihres Einsatzes zur Bewältigung der Krise angegriffen. Zwar befürworteten Vertreter*innen vieler Länder des amerikanischen Kontinents in ihren Reden eine globale Senkung der CO2-Emissionen, doch ließen sie den Worten keine Taten folgen. In ihrem Jahresbericht 2022 stellte die internationale NGO Global Witness fest, dass im Vorjahr 75 Prozent der Tötungen von Landrechtsverteidiger*innen und Umweltschützer*innen auf Lateinamerika entfielen. Solche Verbrechen wurden in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Peru und Venezuela verzeichnet.

Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen gehörte Lateinamerika zusammen mit Afrika nach wie vor zu den Erdteilen mit dem höchsten Nettoverlust an natürlicher Waldfläche. In Brasilien erreichte die Entwaldungsrate im Amazonasgebiet zwischen Januar und Oktober 2022 den höchsten Stand seit 2015. In Bolivien wurden trotz der Zusicherung der Behörden, Waldflächen erhalten und die illegale Abholzung bekämpfen zu wollen, eine Landfläche von mehr als einer Million Hektar abgebrannt, hauptsächlich zwecks Ausweitung landwirtschaftlicher Aktivitäten.

Mehrere Regierungen gingen Verpflichtungen ein und verabschiedeten Gesetze zum Klimawandel, die dem Ausmaß der bevorstehenden Krise nicht gerecht wurden. Auf der Weltklimakonferenz (COP27) im November verkündeten weder Kanada noch die USA eine Erhöhung ihrer Emissionsreduktionsziele bis 2030.

Der US-Kongress verabschiedete zwar das erste Klimagesetz in der Geschichte der USA, doch setzte dieses auch die alten Versteigerungen von Öl- und Gasförderlizenzen auf bundeseigenen Landflächen und im Golf von Mexiko wieder in Gang. Die Biden-Regierung hatte diese beenden wollen, war nun aber gezwungen, auch mehrere neue Auktionen abzuhalten, die im September begannen.

Der neu gewählte brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva kündigte an, sich für den Schutz der Biome des Landes einzusetzen. Der Schwerpunkt solle auf dem Amazonasgebiet liegen, das laut Berichten des Weltklimarats IPCC besonders anfällig für Trockenheit und hohe Temperaturen ist. Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro kündigte auf der COP27 einen Energiewendeplan mit dem Fokus auf nichtkonventionellen erneuerbaren Energiequellen an. Organisationen wie Nación Wayuu und Indepaz prangerten allerdings an, dass bei der Entwicklung mehrerer Windparks im Departamento La Guajira nicht die freie, vorherige und informierte Zustimmung der dort lebenden indigenen Gemeinschaften eingeholt worden war.

Die Behörden zahlreicher Länder in der Region kamen ihren Verpflichtungen nicht nach, die sie zuvor als Vertragsparteien des Pariser Klimaabkommens eingegangen waren. In einigen Fällen unterstützten sie sogar aktiv fossile Energieprojekte. In Brasilien legte die Regierung einen Klimaschutzbeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC) vor, der der Verantwortung Brasiliens für den Klimawandel nicht gerecht wurde. Bis Mitte des Jahres hatte die kanadische Exportkredit-Agentur (Export Development Canada) 3,4 Mrd. Kanadische Dollar (etwa 2,35 Mrd. Euro) für den Öl- und Gassektor in Kanada und im Ausland zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig brachte Kanada einen Plan auf den Weg, die öffentliche Finanzierung neuer fossiler Energieprojekte schrittweise auslaufen zu lassen.

Die Behörden müssen unverzüglich alles Notwendige zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen veranlassen, die Finanzierung von fossilen Energieprojekten einstellen und gewährleisten, dass indigene Gemeinschaften und Menschenrechtsverteidiger*innen im Rahmen der staatlichen Umweltpolitik geschützt werden. Reichere Länder in der Region müssen außerdem dringend die Klimafinanzierung für einkommensschwächere Länder erhöhen und sich verpflichten, zusätzliche zweckgebundene Gelder für Schäden und Verluste bereitzustellen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Tiefgreifende Menschenrechts- und humanitäre Krisen in der gesamten Region führten zu einem starken Anstieg der Zahl von Menschen, die ihr Land auf der Suche nach Schutz verließen. Im Juni erklärte das Kinderhilfswerk UNICEF, dass die Zahl der Kinder, die das Dschungelgebiet Darién Gap zwischen Kolumbien und Panama durchquerten, seit Anfang 2022 auf mehr als 5.000 angestiegen war, eine Verdoppelung gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres. Laut Schätzungen der interinstitutionellen Koordinierungsplattform für Flüchtlinge und Migrant*innen aus Venezuela hatten Ende 2022 insgesamt 7,13 Millionen Venezolaner*innen ihr Land verlassen. 84 Prozent von ihnen suchten in 17 Ländern Lateinamerikas und der Karibik Zuflucht. Zu der stetig ansteigenden Zahl geflüchteter Menschen aus Venezuela und Mittelamerika kam noch die im Vergleich mit den Vorjahren deutlich angestiegene Zahl von Menschen hinzu, die Kuba und Haiti verließen. Aufgrund fehlender robuster Asylsysteme erhielten Geflüchtete und Migrant*innen in Argentinien, Chile, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Peru, Trinidad und Tobago und den USA weiterhin nur unzureichenden Schutz.

US-Bundesgerichte bestätigten 2022 die sogenannten Migrant*innenschutzprotokolle (Migrant Protection Protocols) und die Richtlinie Title 42. Diese Regelungen schränkten den Zugang zu Asyl an der Grenze zwischen Mexiko und den USA drastisch ein und fügten Zehntausenden Asylsuchenden durch eine Abschiebung nach Mexiko irreparablen Schaden zu. Die mexikanischen Behörden arbeiteten weiterhin mit den US-Behörden bei der Umsetzung dieser Maßnahmen zusammen, die gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) verstießen. In den USA setzten die Behörden die willkürliche und massenhafte Inhaftierung von Migrant*innen systematisch fort und stellten genügend Mittel zur Verfügung, um täglich 34.000 Menschen inhaftieren zu können. Zwischen September 2021 und Mai 2022 schoben die USA unter Verletzung nationalen und internationalen Rechts mehr als 25.000 Haitianer*innen ohne ordnungsgemäßes Verfahren ab. Die mexikanischen Behörden hielten mindestens 281.149 Menschen in überfüllten Hafteinrichtungen für Migrant*innen fest und schoben mindestens 98.299 Menschen ab, die meisten davon aus Mittelamerika, darunter Tausende unbegleitete Kinder.

Trinidad und Tobago war nach wie vor eines der wenigen Länder auf dem amerikanischen Kontinent, in denen es keine nationalen Asylgesetze gab. Die Vereinten Nationen äußerten sich besorgt über die Praxis der Behörden, venezolanische Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen, sie unter menschenunwürdigen Bedingungen zu inhaftieren oder sie abzuschieben. In Ecuador, Kolumbien, Peru und Trinidad und Tobago und möglicherweise weiteren Ländern waren aus Venezuela geflüchtete Frauen geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, da die Behörden ihr Recht auf ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung nicht garantierten. In Peru blieb das System zur Bearbeitung von Asylanträgen weiterhin ausgesetzt.

In Chile nahmen die Behörden die rechtswidrige Praxis der umgehenden Abschiebung ausländischer Staatsangehöriger wieder auf, ohne zu prüfen, ob sie internationalen Schutz benötigten und welchen Risiken sie nach ihrer Rückkehr ausgesetzt sein könnten. In Argentinien erließen die Behörden keine Regelungen, um Asylsuchenden und Flüchtlingen einen besseren Zugang zu grundlegenden Rechten wie Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

Die Behörden müssen rechtswidrige Abschiebungen dringend einstellen, von der Inhaftierung von Geflüchteten und Migrant*innen absehen und sicherstellen, dass sie angemessenen internationalen Schutz erhalten.

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