Amnesty Journal 26. Januar 2024

Erdoğans Macht und Europas Beitrag

Ein türkischer Mann mittleren Alters posiert vor einer Betonwand, er trägt Vollbart, Brille, Jeans und einen Pullover, seine Hände stecken halb in den Hosentaschen.

In "Die rissige Brücke über den Bosporus" analysiert der türkische Oppositionelle Can Dündar den Aufstieg Recep Tayyip Erdoğans.

Von Tanja Dückers

In seinem neuen Buch blickt der Journalist Can Dündar zurück auf die vergangenen 100 Jahre der Türkischen Republik. Am 29. Oktober 1924 als radikal laizistischer und moderner Staat gegründet, kämpft sie seitdem, oft gewaltvoll, um ihre Identität. Der vielfach ausgezeichnete Journalist und ehemalige Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet hat dabei insbesondere die Beziehungen zum Westen und dessen oft fragwürdige Einflussnahme ins Visier genommen.

Analyse von Erdoğans Aufstieg

Das Buch ist keine trockene Chronik, sondern bietet einen anschaulichen Überblick aus der Innenperspektive. Es gelingt Dündar, Jahrgang 1961, persönliche Erinnerungen mit der Geschichte des Landes zu verknüpfen. Besonders lesenswert sind die Kapitel über die Zeit ab den späten 1960er Jahren. Als Kind erlebte der Journalist die furchterregenden "Batur Jets", benannt nach dem damaligen Kommandeur der Luftwaffe Muhsin Batur, über Ankara im Tiefflug, und er erinnert sich an ein Theaterstück, das der junge Recep Tayyip Erdoğan mit aufführte. Das Stück trug den Titel "Mas-Kom-Yah". Die drei Silben stehen für die türkischen ­Wörter Mason Komünist ve Yahudi, zu deutsch: Freimaurer, Kommunist, Jude – die Hauptfeinde der islamistischen Bewegung. Ein "billiges antikommunistisches, antisemitisches Stück", urteilt Dündar. Besonders genau analysiert er den Aufstieg Erdoğans: Wie dieser, unter anderem mit Hilfe des Westens, stets wiedergewählt werden konnte, wie er seine Macht zementierte und Gegner elimi­nierte.

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Dündar erinnert auch an die massive staatliche Reaktion auf die friedlichen Gezi-Proteste und rekapituliert die Paranoia des Erdoğan-Machtzirkels, die dem Putschversuch durch Teile des Militärs im Jahr 2016 folgte: In einer massiven Säuberungswelle wurden 130.000 Personen aus dem öffentlichen Dienst entfernt, Richter*innen und Staatsanwält*innen entlassen, 20.000 Soldat*innen aus der Armee ausgeschlossen. Repressionen gegen Vertreter*innen der Presse und Kulturschaffende nahmen zu und führten zur fluchtartigen Ausreise vieler Oppositioneller.

Seit 2016 im Berliner Exil

Can Dündar selbst lebt seit 2016 im Exil in Berlin. Er hatte als Chef­redakteur der Zeitung Cumhuriyet, die 2016 mit dem "alternativen Nobelpreis" ausgezeichnet wurde, über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes nach Syrien berichtet. Er wurde deshalb wegen Spionage und Verrats von Staatsgeheimnissen in Abwesenheit zu über 27 Jahren Haft verurteilt, und man verübte einen Mordanschlag auf ihn. In Berlin ist er Chefredakteur der Oppositionsplattform #Özgürüz (Wir sind frei), die 4,5 Millionen Menschen erreicht. Hochaktuell ist auch Dündars Analyse der international als "unfair" eingestuften Wahl 2023, bei der Erdogan 52,2 Prozent der Stimmen ­bekam.

Ein äußerst lesenswertes Werk zum Verständnis der modernen Türkei und ­zugleich eine scharfsinnige Analyse der oft widersprüchlichen europäischen ­Außenpolitik.

Tanja Dückers ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Can Dündar: Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Galiani Berlin 2023, 240 Seiten, 23 Euro.

WEITERE BUCHEMPFEHLUNGEN

Neue und alte Sündenböcke

von Nina Apin

Sie arbeiten schlecht, sind rückständig und kriminell. Sie sind einfach schwer zu integrieren. Es ist die BILD-Zeitung, die dem verbreiteten Ressentiment Ausdruck verleiht: "Wir wollen keine Italiener mehr!"

Moment mal, Italiener? "Wer mit den Deutschen über die Geschichte der italienischen Gastarbeiter sprechen will, muss erst die Urlaubserinnerungen einer gesamten Nation beiseite räumen", schreibt Stephan Anpalagan ironisch. Er erinnert an "die 'Itaker', die 'Messerstecher', die den 16-jährigen Töchtern gefährlich werden. Die verhassten Ausländer, die man auf dem Weg zur Arbeit niederschlägt". Den brutalen Rassismus, den die Deutschen heute gern vergessen würden, zeichnet Anpalagan anhand von Medienberichten und Aussagen von Politiker*innen aus den 1960er Jahren nach.

Ab den 1970er Jahren suchte man sich einen neuen Sündenbock: Aus dem Italiener- wurde ein "Türkenproblem". "Seit beinahe 70 Jahren geht das nun so", ­konstatiert der Autor und erklärt, welche rassistischen Muster etwa im Umgang mit dem Fußballprofi Mesut Özil greifen. "Die Polen sind mit dem sozialen Fahrstuhl aufgestiegen. Die Türken befinden sich noch immer unten. Ganz unten", analysiert Anpalagan. Wobei nach unten noch Luft ist. Es gibt noch die Schwarzen, die mit Affengeräuschen bedacht werden. Die Muslime, die als Universal-Sünden­böcke dienen oder die rumänischen "Eimermenschen", die als Vertragsschlachter arbeiten und mit Eimern statt Taschen zur Arbeit gehen.

Schonungslos und spöttisch entlarvt Anpalagan die Leitkulturdebatten als inhaltsleer und die Mitte der deutschen Gesellschaft als einen Ort, an dem Vorurteile zu Hause sind. An dem sich aber auch viele ihren Platz erkämpft haben, wie der aus Sri Lanka stammende Autor selbst. Aus Liebe zu einem Land, das sich, wie er schreibt "nur mit gebrochenem Herzen lieben lässt" – und für den Rassismus schon jetzt ein Standortnachteil ist.

Stephan Anpalagan: Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft, S. Fischer, Frankfurt/Main 2023, 320 Seiten, 24 Euro.

Wie Krieg Seelen zerstört

von Tigran Petrosyan

Katerina Gordeeva lebt im lettischen Exil. Die 46-Jährige hatte Moskau 2014 verlassen, aus Protest gegen die Annexion der Krim. Nach dem Verlust ihrer Heimat wurde ihre Stimme immer lauter: Die preisgekrönte Journalistin und Dokumentarfilmerin gründete ihren eigenen YouTube-Kanal und erreicht damit ein Millionenpublikum. Nun zeigt sie sich auch literarisch stark.

Im Herbst 2023 erschien die deutsche Ausgabe ihres Buchs: "Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg." Darin hat sie vor allem Frauen interviewt: Geflüchtete, russische Dissident*innen und Freiwillige in Europa, die Geflüchtete aufgenommen haben.

Gordeeva interpretiert nicht. Stattdessen befragt sie die Betroffenen und hört ihnen genau zu. Wie sie das Schicksal der Menschen aufschreibt, bringt den ­Leser*innen deren Geschichten so nahe, dass man meint, ihren Schmerz am eigenen Leib zu spüren. Trotz ihrer Rolle als Beobachterin macht Gordeeva ihre Haltung ganz klar: "Wenn es eine Hölle gibt, dann für diejenigen, die diesen Krieg ­angefangen haben."

Vor allem die Dialoge zwischen der russischen Autorin und den ukrainischen Protagonist*innen regen zum Nachdenken an – darüber, was dieser Krieg hinterlässt: Tote, Verletzte, Verstümmelungen an Leib und Seele von Millionen Menschen. Krieg nimmt jedem etwas anderes: der einen ihr Kind, dem anderen sein Zuhause, der dritten die Fähigkeit zu lieben und weiterzuleben. Krieg macht hasserfüllt, er lässt andere leiden und treibt manche durch die erlebte Grausamkeit in den Wahnsinn. Viele können sich ein Leben lang nicht mehr davon befreien. Was Gordeeva zu Papier gebracht hat, ist meisterhaft: Eine Dokumentation des Kriegsgeschehens am Beispiel derer, die es betrifft: Die fliehen müssen oder vertrieben werden, die verletzt werden – oder den höchsten Preis bezahlen.

Katerina Gordeeva: Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg. Aus dem Russischen von Jennie Seitz, Droemer Knaur, München 2023, 352 Seiten, 24 Euro.

Hass nach Lehrplan

von Marlene Zöhrer

Diala Brisly und Bassel Alhamdo mussten aus Syrien fliehen und treffen sich in Paris. Die Unterhaltung der Künstlerin und des Sportjournalisten über ihre Heimat bildet die Rahmenhandlung dieser von beiden gemeinsam gestalteten, autobiografischen Graphic Novel, die ebenso persönlich und individuell wie universell ist. Brisly und Alhamdo erzählen aus ihrem Leben, das geprägt ist von Revolution, Bürgerkrieg und Unterdrückung, aber auch von beruflichen Träumen, Hoffnung und Widerstand. 

Brislys stilisiert-malerische Bilder fangen über den Einsatz von gedeckten Farben, Kontrasten und Weißraum sowie wechselnden Perspektiven die Atmosphäre in Syrien ein. Das besondere Interesse Brislys und Alhamdos gilt dem Schicksal der Kinder und Jugendlichen im Land, die zum Spielball der wechselnden Machthaber wurden und werden. So berichtet das Buch zum Beispiel über die Kinder, die während des Arabischen Frühlings ein Graffito an eine Wand sprühten und deshalb gefoltert wurden. Der Journalist Alhamdo recherchierte unter großer Gefahr während des Bürgerkriegs an einer Schule in Nordsyrien, die vom Islamischen Staat (IS) geführt wurde. Er beobachtete, wie Kinder im Umgang mit Waffen trainiert wurden und bei Hinrichtungen zusehen mussten, fotografierte Lehrpläne, sprach mit Familien, deren Kinder in IS-Schulen ­gingen und einem Lehrer. 

In einem bitteren Fazit stellt er fest, dass in Syrien die Indoktrination junger Menschen allgegenwärtig war und ist. Der IS wollte Ideen wie Revolution, Freiheit und Demokratie zerstören. Und für das syrische Regime darf es nur einen Führer und eine politische Partei geben. Auch wenn die Graphic ­Novel "Im Klassenzimmer der Diktatur" viel Erschütterndes darstellt, steht am Ende, zurück in Paris und in der Gegenwart, doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Diala Brisly, Bassel Alhamdo, Frederik Richter: Im Klassen­zimmer der Diktatur. Correctiv, ­Essen 2023, 144 Seiten, 20 Euro.

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