Amnesty Journal 05. April 2024

"Mein Schmerz wird nicht durch Krieg gelindert"

Ein junger Mann mit Bart und in T-Shirt und kurzer Hose trägt einen Rucksack, er steht vor einer Wand, an der viele Plakate hängen, auf denen Gesichter gedruckt sind zusammen mit dem Aufruf "Bring him/her home now". Auch der junge Mann hält so ein Plakat in den Händen

Yonatan Zeigen mit einem Bild seiner Mutter Vivian Silver (Gaza, 06.11.2023). Fünf Wochen später wurde bestätigt, dass sie im Kibbuz Be'eri am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordet wurde.

Am 7. Oktober 2023 töteten Hamas-Kämpfer mehr als tausend Menschen in Israel, darunter die prominente Aktivistin Vivian Silver. Sie engagierte sich jahrzehntelang für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen und in der humanitären Hilfe für Gaza. Ihr Sohn Yonatan Zeigen führt ihre Arbeit weiter.

Interview: Hannah El-Hitami

Bei dem Massaker am 7. Oktober wurde auch Ihre Mutter Vivian Silver getötet. Seither tragen Sie ihre Botschaft weiter. Welche Botschaft ist das?

Ganz einfach, die Botschaft ist Frieden. Das mag wie ein naiver Traum klingen, ist aber pragmatisch. Wir brauchen Frieden und müssen ihn erreichen. 

Was steht dem im Wege?

Das einzige Hindernis ist, dass wir in Israel den Frieden nicht wollen. Es ist nicht so, dass wir ihn nicht wollen, weil er zu kompliziert ist, sondern er ist kompliziert, weil wir ihn nicht wollen. Ich versuche also, möglichst viele Menschen dazu zu bringen, Frieden zu wollen.

Warum wollen Menschen keinen Frieden?

Nun, es gibt persönliche Gründe wie Vertrauensprobleme. Das ist das Ergebnis von Jahren der Entmenschlichung auf beiden Seiten. Darüber hinaus sehe ich einen religiösen und ideologischen Einfluss, der die Beziehungen zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen prägt: Es gibt Fundamentalismus auf beiden Seiten. Fundamentalismus braucht bestimmte Bedingungen, um zu wachsen, und in diese Bedingungen investiert Israel leider seit Langem. Wenn es keine Hoffnung für eine gute Zukunft gibt, greifen Menschen auf Religion zurück oder auf Ideologien. Extremisten auf beiden Seiten gestalten den Diskurs und die politische Realität. Aber wenn wir die Voraussetzungen verändern, dann verlieren die fundamentalistischen Positionen an Wirkung auf die Menschen. Frieden nicht zu wollen, heißt auch, nicht zu wissen, wie er überhaupt aussehen soll. 

Die internationale Zivilgesellschaft sollte nicht für die eine oder andere Seite demonstrieren, sondern gemeinsam für Frieden.

Yonathan
Zeigen
Demonstrant*innen bei einem Protestmarsch, manche tragen Sonnenhüte oder Schirmmützen.

Vivian Silver bei einer Demonstration der Friedensorganisation Women Wage Peace (undatiert)

Was muss passieren, damit der Krieg endet?

Diese kindische Idee, die Hamas auszulöschen, ist nicht konstruktiv. Wir brauchen sofort einen Waffenstillstand mit einem Deal für die Geiseln. Das muss der erste Schritt eines international orchestrierten Friedensprozesses sein. Ich glaube leider nicht daran, dass die Menschen vor Ort bald ihre Meinung ändern werden. Darum ist es wichtig, dass die Regierungen der Welt sich mehr einbringen. Israel und Palästina brauchen Hilfe von außen, um eine nachhaltige Lösung zu finden. Damit wir mitmachen, muss es Anreize und Bedingungen geben.

Was fordern Sie von der deutschen Regierung?

Von Regierungen, vor allem so einflussreichen wie der deutschen, erwarte ich, dass sie eine internationale Taskforce für Frieden aufbauen und dafür sorgen, dass Geld nach Israel, an die UNRWA und nach Palästina gelangt. Wir brauchen eine mutige Politik mit einer Vision. Dass Deutschland so aufgeklärt und fortschrittlich ist und diese israelische Regierung trotz Besatzung und ethnischer Säuberung bedingungslos unterstützt, ist irre.

Was kann die Zivilgesellschaft tun? 

Die internationale Zivilgesellschaft sollte aufhören, unseren Konflikt in ihre Länder zu importieren und stattdessen Lösungen für uns exportieren. Sie sollen nicht für die eine oder andere Seite demonstrieren, sondern gemeinsam für Frieden. Die Welt ist vom Kolonialismus geprägt worden, und auch Israel entstand in einem kolonialen Kontext. Aber jetzt müssen wir in die Zukunft blicken. Wir müssen die Opfer anerkennen und zugleich eine Zukunft für und mit allen Beteiligten schaffen.

Ihre Mutter hat sich für das friedliche Zusammenleben von jüdischen und arabischen Menschen eingesetzt. Sie fuhr unter anderem Patient*innen aus Gaza zur Behandlung in israelische Krankenhäuser. Wie war es, als Sohn einer Friedensaktivistin aufzuwachsen?

Ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, nicht mit einer Friedensaktivistin. Aber das Thema war immer da. Ihr moralischer Kompass hat mich und meine Weltsicht geprägt. Sie hat mir nicht gesagt, dass dies oder jenes richtig oder falsch wäre. Sie hat ihr Leben gelebt und war dadurch ein Vorbild für mich. Sie hatte immer Beziehungen zu arabischen und palästinensischen Menschen, obwohl das überhaupt nicht selbstverständlich war. Sie hat mich und meinen Bruder als Teenager mit nach Gaza genommen. Das waren einzigartige Erlebnisse. Als sie in Rente ging, gab es einen Moment, wo sie dachte, sie würde einfach Oma sein. Aber sofort begann sie sich bei den Friedens- und Hilfsorganisationen Women Wage Peace und Road to Recovery zu engagieren.

Was hat sie motiviert?

Sie hatte den Drang, mit der Welt zu interagieren und sie zum Besseren zu verändern. In Israel ist man automatisch mit dem Konflikt, der Besatzung und der Diskriminierung konfrontiert. Als sie in dieses Land kam, war es natürlich für sie, sich zu engagieren. Sie lebte in Be'eri, direkt an der Grenze zu Gaza. Dort erlebte sie die Spannung des Konflikts unmittelbar. Und wenn sie Spannungen spürte, dann engagierte sie sich. So war sie. 

Eine ältere Frau und zwei junge Männer Mitte Ende zwanzig auf einer Schaukel unter einem Sonnensegel, dahinter ein Park mit Wegen und Bäumen.

Yonatan Zeigen, Vivian Silver und Chen Zeigen (undatiert)

Wird der Tod Ihrer Mutter und anderer missbraucht, um Krieg zu legitimieren anstatt, wie sie, Frieden zu fordern?

Natürlich. Man kann das nicht verhindern, aber gegenhalten. Wir müssen den Menschen klar machen, dass dieser Krieg und die Situation, in der es überhaupt zu Geiselnahmen kommt, das Ergebnis unserer Realität hier ist. Manchmal wird mir mitten am Tag übel, weil Menschen in Gaza hungern. Oder weil ich darüber nachdenke, wie meine Mutter wohl getötet wurde. Wenn wir Israelis eine andere Realität wollen, dann müssen wir unser Verhalten ändern. Das bedeutet, nach Diplomatie zu streben, anstatt die militärische Option zu nutzen. Wenn wir am 7. Oktober an der Grenze innegehalten und miteinander gesprochen hätten, dann wären die Geiseln heute bei uns und wir hätten einen Friedensprozess. Dass die israelische Bevölkerung das aufgrund ihres eigenen Traumas nicht konnte, schafft jetzt nur neue Traumata.

Sie und andere israelische Friedensaktivist*innen haben am 7. Oktober geliebte Menschen verloren. Wie schaffen Sie es, trotzdem weiterhin Frieden statt Rache zu fordern?

Das werde ich oft gefragt. Diese Frage geht davon aus, dass das anstrengend für mich wäre. Das ist es jedoch nicht. Ich denke einfach so. Ich kann Wut fühlen, Trauer, Verzweiflung, vielleicht auch Rachsucht. Meine Gefühle und mein Verstand sind aber nicht dasselbe, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen. Wenn ich Schmerz empfinde, überlege ich, wie ich mit diesem Schmerz umgehe. Dafür benutze ich meinen Verstand. Wird mein Schmerz gelindert durch mehr Leid und Krieg? Zweifellos nicht. Die einzige Art, meinen Schmerz zu heilen und ihm eine Bedeutung zu geben, ist eine Situation zu schaffen, in der er sich nicht wiederholt. Das ist nur durch Frieden möglich. Das ist der einzige Weg. Niemals werden Israelis sicher sein, wenn sie im Krieg sind. Und Palästinenser*innen werden niemals frei sein ohne Frieden.

Der Frieden scheint weiter entfernt denn je. Wie schaffen Sie es, nicht die Hoffnung zu verlieren? 

Es gibt keine Alternative. Ich kann nicht zurück in die Illusion eines normalen Alltags. Hoffnung bekomme ich durch Gespräche und Treffen mit anderen Leuten, die Veränderung wollen. Und meine Mutter hat mir immer gesagt, dass die Dinge dynamisch sind. Veränderungen scheinen manchmal spontan, aber in Wirklichkeit sind sie das Ergebnis deiner Arbeit. Du legst die Grundsteine und plötzlich siehst du, dass etwas daraus entstanden ist.

Yonatan Zeigen (35) wuchs als Sohn der Friedensaktivistin Vivian Silver im Kibbuz Be’eri auf. Nach ihrer Ermordung durch die Hamas kündigte er seinen Job als Sozialarbeiter und wurde zum Vollzeit-Friedensaktivisten. Zeigen lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Tel Aviv.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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