Aktuell Israel und besetzte Gebiete 02. Juli 2009

Keine Straflosigkeit für mögliche Kriegsverbrechen!

"Bis heute verstehen wir nicht, warum. Wir wollen Frieden; und wir wollen eine Untersuchung; wir wollen wissen, warum ich und meine Geschwister verwaist sind. Warum haben sie unsere Eltern getötet, unsere Familie?" (Fathia Mousa, deren Eltern und Geschwister bei einem israelischen Luftangriff getötet wurden, als sie in ihrem Hof saßen)

Ohne Vorwarnung hatten die israelischen Streitkräfte am 27. Dezember 2008 ihre militärische Operation "Gegossenes Blei" im Gazastreifen begonnen. Erklärtes Ziel der 22-tägigen Militäroperation war das Ende der palästinensischen Raketenangriffe durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppierungen. Insgesamt kamen dabei etwa 1400 Palästinenser ums Leben, darunter etwa 300 Kinder und Hunderte unbewaffnete Zivilisten. Große Teile des Gazastreifens sind dem Erdboden gleichgemacht, Tausende Bewohner sind obdachlos, private Geschäfte und öffentliche Gebäude sind zerstört und die ohnehin schon desolate Wirtschaftslage in den Ruin getrieben worden.

Ein Ermittlungsteam von Amnesty International hat Mitte Januar Untersuchungen im Gazastreifen aufgenommen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden jetzt in einem neuen Bericht veröffentlicht. Demnach haben alle am Konflikt beteiligten Parteien - die israelische Armee ebenso wie die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen – gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.
Das Ausmaß und die Heftigkeit der Angriffe überstiegen alle bisherigen israelischen Militäroperationen. Im Zuge der israelischen Angriffe wurden über 3000 Häuser zerstört und etwa 20 000 beschädigt, was ganze Stadtviertel in Gaza in Schutthalden verwandelte. "Wo immer wir gingen und standen, wir fanden den ganzen Tag über in Gaza-Stadt und im Umland immer noch mehr zerstörte und beschädigte Wohnhäuser, Moscheen, Schulen und Regierungsgebäude. Manche waren durch die von F16-Kampfflugzeugen abgeworfenen Bomben vollständig zum Einsturz gebracht worden, andere waren durch Artillerieangriffe und Raketenschläge unbewohnbar gemacht", berichtete das Ermittlungsteam.

Da die israelische Luftwaffe auch unbemannte Drohnen mit sehr präziser Optik einsetzte, um Einsatzgebiete zu überwachen, muss davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit von Zivilisten an den Orten, an denen die Raketen einschlugen, darunter auch mit weißem Phosphor bestückte Waffen, bekannt war. Obwohl auf israelischer Seite schon seit den ersten Tagen der Militäroperation bekannt war, dass eine große Zahl von Zivilisten getötet wurde, hat dies nicht zu einer Änderung der militärischen Taktik geführt. Das Muster der Angriffe und die daraus resultierende hohe Zahl ziviler Opfer weist in Teilen auf ein rücksichtloses Vorgehen, eine Missachtung des Schutzes von Zivilisten und ein anhaltendes Versagen bei der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen hin.
Hunderte von palästinensischen Zivilisten wurden durch Angriffe mit Hochpräzisionswaffen getötet und verletzt. Kinder, die auf Häuserdächern oder in den Straßen spielten, und Zivilisten, die ihren alltäglichen Arbeiten nachgingen, ebenso wie Ärzte und Sanitäter, die Verletzten zu Hilfe eilten, wurden am helllichten Tag durch zielgenaue Fernlenkgeschosse, die von Helikoptern oder Drohnen abgefeuert wurden, getötet. Dieses Vorgehen wirft die drängende Frage auf, warum solche Waffen, bei deren Bedienung selbst kleinste Details der fokussierten Ziele identifizierbar sind, so viele Kinder und andere Zivilisten töteten.
Auch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen. Täglich haben palästinensische Kämpfer Raketen auf zivile Wohngebiete im südlichen Israel abgefeuert und drei Zivilisten getötet und Dutzende verletzt. Die abgefeuerten Kassam- und Grad-Raketen können nicht zielgerichtet abgeschossen werden und stellen somit einen Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht dar, welches den Schutz unbeteiligter Zivilisten fordert und direkte Angriffe auf diese verbietet. Diese wahllosen Raketenangriffe auf Südisrael haben Panik unter der israelischen Zivilbevölkerung ausgelöst. Tausende Familien flohen in andere Landesteile.

Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben durch ihr Vorgehen gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, in dem sie Raketenangriffe aus der Nähe ziviler Gebäude abfeuerten und die zivile Bevölkerung somit dem Risiko israelischer Angriffe aussetzten. Anders als wiederholt von der israelischen Armee vorgeworfen, liegen Amnesty International keine Hinweise darüber vor, dass palästinensische Kämpfer Zivilisten als Schutzschilde für militärische Objekte eingesetzt haben.

Bis heute haben es die israelischen Behörden versäumt, unparteiische und unabhängige Untersuchungen über das Vorgehen ihrer Streitkräfte während der Operation "Gegossenes Blei" durchzuführen. Die israelischen Behörden weigern sich, mit einer durch den UN-Menschenrechtsrat eingerichteten internationalen Untersuchungskommission unter Leitung von Richard Goldstone zusammenzuarbeiten. Alle Vorwürfe, gegen internationales Recht verstoßen zu haben, die sowohl von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen vorgebracht wurden, ebenso wie die Ergebnisse des UN-Untersuchungsausschusses unter Leitung von Ian Martin weist die israelische Regierung bis heute zurück.

Auch fünf Monate nach Einstellung der Kampfhandlungen ist keine der Konfliktparteien bereit, die Verantwortlichen für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter mögliche Kriegsverbrechen, zur Rechenschaft zu ziehen. Dies gibt Anlass zu der Befürchtung, dass die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten erneut die Hauptlast tragen muss, wenn die Kämpfe wieder aufflammen.

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