Amnesty Journal Ägypten 28. April 2023

Appell aus dem Gefängnis

Ein Mann mit lockigem glänzenden Haar, das ihm bis in den Nacken  reicht, trägt eine Brille und einen kurzen Bart; er steht inmitten von Menschen draußen.

Der Blogger Alaa Abdel Fattah gehört seit mehr als zehn Jahren zu den politischen Gefangenen Ägyptens. Aus der Haft hat er immer wieder über politische Entwicklungen im Land und weltweit geschrieben. Eine Sammlung seiner Essays ist nun auch auf Deutsch erschienen.

Von Hannah El-Hitami

Die Umstände, unter denen Alaa Abdel Fattah sein Buch geschrieben hat, sprechen Bände: manche Essays schrieb er mit Bleistift auf Papier in seiner Zelle im Tora-Gefängnis bei Kairo. Andere verfasste er im Polizeirevier, wo er selbst während seiner wenigen Monate in "Freiheit" die Nächte verbringen musste. Ein Essay entstand aus Gedanken, die er und ein anderer politischer Gefangener sich im Gefängnishof zuriefen. Weitere diktierte er seinen Anwälten im Gerichtssaal während der Anhörungstermine zur Verlängerung seiner Haft.

Alaa Abdel Fattah ist Ägyptens bekanntester politischer Gefangener – und einer der langjährigsten. Das Jahrzehnt seit Beginn der ägyptischen Revolution 2011 hat er fast vollständig im Gefängnis verbracht, lange in Isolationshaft. In unfairen Gerichtsverfahren wurde er immer wieder für seine regierungskritischen Äußerungen und die Teilnahme an Protesten verurteilt. Im November 2022 erhielt sein Fall erneut internationale Aufmerksamkeit, als er anlässlich des Weltklimagipfels in Ägypten in einen Hungerstreik trat und schließlich auch auf Wasser verzichtete. Obwohl ihn das beinahe das Leben gekostet hätte und obwohl Menschen aus aller Weit seine Entlassung forderten, ist er immer noch in Haft.

Zwischen Kampfgeist und Verzweiflung

Von dort aus hat der 41-Jährige über die Lage in seinem Land geschrieben, das unter Präsident Abdel Fattah Al-Sisi, einem Ex-Militär, ein nie dagewesenes Ausmaß an Repression erlebt. Seine Familie hat diese Schriften in einem Buch zusammengetragen, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Ein Essay handelt von den Zehntausenden politischen Gefangenen im Land, von denen jeder wisse. Dennoch behaupte der Staat weiterhin, "in Ägypten gebe es keine politischen Gefangenen, keine Folter, keine Verfolgung von Dissidenten und Journalisten, keine willkürlichen Festnahmen und keine Unterdrückung".

Ein anderes Kapitel erinnert an den Militärputsch 2013 und das Massaker der Armee an Tausenden Mitgliedern der Muslimbruderschaft, die ­gegen die Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi protestiert hatten. "Die heute auf die Muslimbruderschaft gerichteten Waffen werden das nächste Mal auf jemand ­anderes gerichtet sein", mahnt Abdel ­Fattah. "Das Militär ist keine säkulare ­Instanz, die den Islamismus bekämpft – das Militär ist das alte Regime, das den Wandel bekämpft."

Die Worte des Bloggers und Aktivisten schwanken zwischen Kampfgeist und Verzweiflung. Aus der Enge seiner Zelle appelliert er an alle, die "im Gegensatz zu mir noch nicht besiegt" sind: Sie sollen ihre Freiheit nutzen, um Widerstand zu leisten. Die internationale Gemeinschaft fordert er auf: "Repariert eure eigene Demokratie." Das sei der wirksamste Weg, etwas zu verändern. Seine ägyptischen Mitbürger*innen ermutigt er, weiterhin auf die Straße zu gehen und das Regime herauszufordern. "Im Gefängnis widersetzen wir uns der Verzweiflung. Hoffnung zu inspirieren, ist eure Aufgabe."

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Alaa Abdel Fattah: Ihr seid noch nicht besiegt. Ausgewählte Texte 2011–2021. Aus dem Englischen von Utku ­Mogultay. Mit einem Vorwort von Naomi Klein. Klaus Wagenbach, Berlin 2022, 240 Seiten, 22 Euro.

WEITERE BUCHTIPPS

Plötzlich eine Null

von Nina Apin

Migration und Flucht, Vertreibung und Exil. So unterschiedlich diese Fluchtbewegungen im Einzelnen sind – allen liegt eine gemeinsame Erfahrung zugrunde: Einsamkeit und Entwurzelung.

Der Sammelband "Kein Land, nirgends?" stellt die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland heutigen Fluchtbewegungen nach Deutschland gegenüber. Im Mittelpunkt stehen individuelle Schicksale wie die des Berliners Thomas Häfner, der 1938 als Zehnjähriger nach Ceylon verschifft wurde. Briefe aus dem Internat mit ungelenken Elefantenzeichnungen verdeutlichen die Sehnsucht des Jungen nach seinen Eltern. Häfners Eltern überlebten die Nazizeit, 1948 kehrte er nach Deutschland zurück.

Tragisch ist die Geschichte des Lyrikers Ludwig Greve, der mit seinen Eltern und seiner Schwester 1939 an Bord des glücklosen Flüchtlingsschiffs "St. Louis" war: Weder Kuba noch Florida ließen das Schiff ankern, die Reise endete in Antwerpen. Greves Vater und Schwester wurden später in Frankreich ermordet.

Viele Geflüchtete machen im Ankunftsland zunächst eine umfassende Fremdheitserfahrung. So schreibt die ­Eritreerin Fisseha Mebrahtu: "Es ist schwer, plötzlich eine Null zu sein, es ist schlimm." Und die kurdisch-syrische ­Lyrikerin Widad Nabi stellt trocken fest: "Tatsächlich lernt der Mensch in einer Fremdsprache noch rascher zu zerbrechen als in seiner eigenen." Abgeschnitten zu sein von der geografischen Heimat, aber auch von der Heimat des Denkens, der Muttersprache – in ihrem Vorwort ­beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann dies als einen "existenziellen Vertrauensbruch, der die Identität eines Menschen und die Fähigkeit seines Fühlens dauerhaft verändert".

"Kein Land, nirgends" ist ein eindrückliches, zuweilen bedrückendes ­Lesebuch.

Harald Roth (Hg.): Kein Land, nirgends? Flucht aus Deutschland, Flucht nach Deutschland / 1933–1945 und heute. Mit einem Nachwort von Markus M. Beeko. Dietz, Bonn 2022, 428 Seiten, 32 Euro.

Junge afrikanische Garde

von Wera Reusch

Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet ein Roman, der den französischen ­Literaturbetrieb verspottet, 2021 den renommierten Prix Goncourt gewann. "Die geheimste Erinnerung der Menschen" von Mohamed Mbougar Sarr ­handelt von einem jungen senegalesischen Schriftsteller, der sich im Jahr 2018 auf die Suche nach einem verschollenen Autor macht, der Jahrzehnte zuvor Opfer der rassistischen französischen Literaturkritik geworden war. Die Geschichte ist nicht aus der Luft gegriffen: Der Roman ist dem malischen Autor Yambo Ouologuem gewidmet, dem genau dieses Schicksal widerfuhr. Für Sarr ist die kriminalistische Suche nach dem Verfemten ein willkommener Anlass, um große Fragen zu verhandeln: Was kann und soll Literatur leisten? Wie wurden und werden Literaturschaffende afrikanischer Herkunft rezipiert? Und nicht zuletzt: Wo ­verorten sie sich selbst in postkolonialen Zeiten?

Um diese Fragen zu beantworten, konstruiert er ein kompliziertes Geflecht aus verschiedenen Stimmen und Textsorten, das gut 100 Jahre umspannt und in Afrika, Europa und Lateinamerika spielt. Sarrs Vorhaben ist ambitioniert, die Lektüre seines Romans eine Herausforderung. Manch eine erzählerische Volte, manch ein Stilmittel wäre verzichtbar ­gewesen.

Stark sind jedoch seine beiden Hauptfiguren: Zum einen der senegalesische Schriftsteller, der die "junge afrikanische Garde mit Wohnort Paris" verkörpert und sich durch ein hohes Maß an Selbstironie auszeichnet. Vor allem aber seine kluge Mentorin, die eine Generation älter ist: Sie steht stellvertretend für viele mutige Schriftstellerinnen, die die afrikanische Literatur vor der "Einbalsamierung in Klischees und blutleere Phrasen" retteten und Werke schrieben, deren "einzige Obszönität darin bestand, radikal ehrlich zu sein".

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Aus dem Französischen von Holger Fock, Sabine Müller. Carl Hanser Verlag, München 2022, 443 Seiten, 27 Euro.

Unsagbares gesagt

von Marlene Zöhrer

Emmie Arbel, die Brüder Nico und Rolf Kamp sowie David Schaffer haben als Kinder den Holocaust überlebt und gehören zu den wenigen Zeitzeug*innen, die noch leben. Die Graphic Novel "Aber ich lebe" gibt ihre Geschichten in drei bewegenden Bilderzählungen wieder. Über zwei Jahre waren die Zeitzeug*innen im intensiven Austausch mit den Comiczeichner*innen und arbeiteten mit Historiker*innen, Pädagog*innen und Archiven an dem von Charlotte Schallié herausgegeben Buchprojekt.

Das Ergebnis ist so informativ wie ­ergreifend. Den Künstler*innen Barbara Yelin (Deutschland), Miriam Libicki (Kanada) und Gilad Seliktar (Israel) gelingt es, in ihren stilistisch individuell gestalteten Erzählungen einfühlsame und ausdrucksstarke Bilder für die Kindheitserinnerungen zu finden, die die Überlebenden mit ihnen geteilt haben. Sie zeigen ­eigentlich Unsagbares, dokumentieren und konservieren, legen aber auch die Brüchigkeit des Erinnerns und Erzählens offen. "Ich erinnere mich nicht", sagt ­Emmie Arbel wiederholt zu Barbara Yelin, während sie der Illustratorin berichtet, wie sie 1942 – mit viereinhalb Jahren – erst in das Durchgangslager Westerbork, dann in das KZ Ravensbrück und schließlich nach Bergen-Belsen deportiert wurde. Das Verdrängen, Vergessen und Verblassen von Erinnerungen ist ebenso Teil der visuellen Zeitzeugenberichte wie die Reflexion der Künstler*innen über die (Un)Möglichkeit einer angemessenen Darstellung.

Ergänzt werden die Bilderzählungen von einem Anhang, der Einblicke in die Entstehung des Buches gewährt und historische Hintergründe und biografische Details zu den Porträtierten enthält. "Aber ich lebe" ist im Nebeneinander der Schicksale, Erinnerungen und zeichnerischen Zugänge eine gelungene Form des Zeitzeugenberichts.

Barbara Yelin / Miriam Libicki / ­Gilad Seliktar: Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust. Aus dem Englischen von Rita Seuß. C. H. Beck, München 2022, 176 Seiten, 25 Euro. Ab 14 Jahren.

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