Pussy Riot-Mitglied "verschwunden"

"Unendlich dankbar": Nadia Tolokonnikova im Moskauer Gericht am 20. Juni 2012

"Unendlich dankbar": Nadia Tolokonnikova im Moskauer Gericht am 20. Juni 2012

Nadeschda Tolokonnikowa, inhaftiertes Mitglied der Punkband Pussy Riot, ist seit dem 22. Oktober "verschwunden". An diesem Tag soll sie in ein Auto gesetzt worden sein, um sie in eine andere Strafkolonie zu verlegen. Seitdem ist ihr Verbleib ungeklärt. Amnesty International ist in großer Sorge um die Gefangene und fordert, dass ihr Aufenthaltsort sofort bekannt gegeben wird.

Appell an

LEITER DER STRAFVOLLZUGSBEHÖRDE
Gennadii Aleksandrovich Kornienko
Federal Service of Execution of Punishments
ul. Zhitnaya 14, 119991 Moscow, GSP-1
RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Director / Sehr geehrter Herr Kornienko)
Fax: (00 7) 495 982 1950 oder (00 7) 495 982 1930
E-Mail: udmail@fsin.su

GENERALSTAATSANWALT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
Yurii Yakovlevich Chaika
Prosecutor General’s Office of the Russian Federation
ul. B. Dmitrovka, d. 15 a, 125993 Moscow, GSP-3
RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt)
Fax: (00 7) 495 692 1725 oder (00 7) 495 987 58 41
E-Mail: prgenproc@gov.ru

Sende eine Kopie an

BOTSCHAFT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
S. E. Herrn Vladimir M. Grinin
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@Russische-Botschaft.de

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 16. Dezember 2013 keine Appelle mehr zu verschicken.

Amnesty fordert:

E-MAILS, FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Ich bin in großer Sorge um Nadeschda Tolokonnikowa und bitte Sie hiermit, ihre Familie sofort über ihren Aufenthaltsort zu informieren.

  • Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass Nadeschda Tolokonnikowa unverzüglich und bedingungslos freigelassen wird, da sie eine gewaltlose politische Gefangene ist, die sich allein aufgrund der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung in Haft befindet.

  • Ich fordere Sie hiermit eindringlich auf, die Sicherheit von Nadeschda Tolokonnikowa zu gewährleisten – sowohl während des Transports als auch in der neuen Hafteinrichtung.

PLEASE WRITE IMMEDIATELY

  • Expressing concern about Nadezhda Tolokonnikova's safety and urging the Russian Penal Service to disclose her whereabouts to her family.

  • Expressing concern that Nadezhda Tolokonnikova is a prisoner of conscience deprived of freedom solely for peacefully exercising her right to freedom of expression and that she must be released immediately and unconditionally.

  • Calling on the Russian authorities to ensure Nadezhda Tolokonnikova's safety while in transit and at her new place of detention.

Sachlage

Das russische Recht verpflichtet die Strafvollzugsbehörden lediglich, spätestens zehn Tage nach Ankunft eines oder einer Gefangenen in einer neuen Strafkolonie ein Familienmitglied darüber zu informieren. Es gibt jedoch keine rechtlichen Vorschriften darüber, wie lange der Transport eines oder einer Gefangenen dauern darf. Einer der Rechtsbeistände von Nadeschda Tolokonnikowa hat gegenüber Amnesty International die Einschätzung vertreten, dass die Justizvollzugsbehörden ihr wohl das "Leben schwer machen" wollen, indem sie den Transport zwischen den Gefängniskolonien künstlich verlängern. Der verlängerte Transportweg könnte ein Mittel sein, um Druck auf Nadeschda Tolokonnikowa auszuüben und sie dafür zu "bestrafen", dass sie vor kurzem einen offenen Brief verfasst hat, in dem sie die Gefängnisverwaltung kritisierte, und anschließend in den Hungerstreik trat.

Angesichts der jüngsten Einschüchterungen und des Drucks, dem Nadeschda Tolokonnikowa durch VertreterInnen der Justizvollzugsbehörden in der vorherigen Strafkolonie ausgesetzt worden sein soll, fürchten ihre Familie und ihre Rechtsbeistände, dass sie erneut eingeschüchtert und bedroht werden könnte. Nach vorliegenden Informationen wurde sie am Abend des 22. Oktober in ein Fahrzeug gesetzt, um in eine andere Strafkolonie verlegt zu werden – möglicherweise nach Alatyr in der Republik Tschuwaschien. Später wurde jedoch gemeldet, sie könnte sich auch in einer Hafteinrichtung in der Stadt Tscheljabinsk im Ural befinden. Aufgrund dieser Informationen versuchten Mitglieder der örtlichen Kommission zur Überwachung von Hafteinrichtungen, den Verbleib von Nadeschda Tolokonnikowa zu klären und sie zu besuchen. Die Regionalstrafvollzugsbehörden weigerten sich jedoch, zu bestätigen, dass Nadeschda Tolokonnikowa in der Region festgehalten wird. Auch weitere Einzelheiten über ihren Verbleib gaben sie nicht bekannt.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 23. September trat Nadeschda Tolokonnikowa aus Protest gegen die an "Sklaverei grenzenden Haftbedingungen" und die erniedrigende Behandlung der InsassInnen der Strafkolonie, in der sie inhaftiert war, in einen Hungerstreik.

Sie verfasste einen offenen Brief, in dem sie die Situation schilderte, und verlangte, dass die Justizvollzugsbehörden entsprechend den gesetzlichen Vorschriften handeln und die Gefangenen menschenwürdig behandeln. Sie richtete zudem eine Beschwerde an das Ermittlungskomitee der russischen Staatsanwaltschaft und erklärte, sie habe Morddrohungen vom stellvertretenden Direktor der Strafkolonie erhalten. Ihren Angaben zufolge sagte er: "Was dich angeht, du wirst nicht mehr weiter leiden. Im Jenseits leidet niemand." Nadeschda Tolokonnikowa verlangte, dass ihre Beschwerde untersucht werde. Sie beantragte zudem die Verlegung in eine andere Strafkolonie.

Kurz darauf wurde sie in eine Strafzelle in Einzelhaft verlegt. Die Gefängnisbehörden erklärten, dies geschehe zu "ihrem eigenen Schutz". Nach der Veröffentlichung des Briefs von Nadeschda Tolokonnikowa entsandte der vom Präsidenten eingesetzte Menschenrechtsrat vier Mitglieder in die Strafkolonie, um mit Nadeschda Tolokonnikowa und anderen InsassInnen zu sprechen und die Vorwürfe zu untersuchen. Die Arbeitsgruppe des russischen Menschenrechtsrats kam zu dem Ergebnis, dass die InsassInnen tatsächlich an sieben Tagen der Woche zwischen 12 und 16 Stunden arbeiten, was einen Verstoß gegen das russische Arbeitsgesetz darstellt. Die Gruppe kam außerdem zu dem Schluss, dass die InsassInnen ohne Vertrag arbeiten und weit weniger als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, was einen weiteren Verstoß gegen russisches Recht darstellt. Auch fand die Gruppe heraus, dass die Gefangenen sich nicht beschweren dürfen. Wenn sie es aber doch tun, werden sie dafür bestraft. Ebenfalls im Widerspruch zu russischem Recht gibt es ein informelles Bestrafungssystem, das die Bestrafung von Gefangenen durch Mithäftlinge vorsieht.

In Bezug auf den Hungerstreik von Nadeschda Tolokonnikowa kam die Arbeitsgruppe jedoch zu der Schlussfolgerung, dass dieser im Vorfeld geplant, organisiert und von außen inszeniert gewesen sein könnte. Diese Einschätzung basierte auf dem Bericht eines Gefängnisbeamten, der Telefongespräche überwacht. Die Arbeitsgruppe verwies auch auf Gegendarstellungen des stellvertretenden Direktors der Strafkolonie, er werde von Nadeschda Tolokonnikowas Ehemann und ihrem Rechtsbeistand erpresst. Seinen Angaben zufolge hätten sie ihn überreden wollen, Nadeschda Tolokonnikowa für leichtere Arbeiten einzuteilen, ansonsten werde sie in den Hungerstreik treten und eine Beschwerde einreichen, er habe sie mit dem Tod bedroht.

Nadeschda Tolokonnikowa wurde am 17. Oktober in die Strafkolonie zurückverlegt, nachdem sie mehrere Tage im Gefängniskrankenhaus verbracht hatte. Am folgenden Tag erklärte sie, sie werde erneut in den Hungerstreik treten, weil ihre Forderungen, in eine andere Strafkolonie verlegt zu werden und ihre Beschwerde über die Morddrohungen zu untersuchen, nicht erfüllt worden seien.