Dringend benötigte Hilfe

Etwa 24 verletzte Menschen sitzen im Keller eines Gebäudes in Cizre in der Provinz Şırnak im Südosten der Türkei fest. Einige von ihnen sind schwer verletzt und benötigen dringend medizinische Versorgung. Vier Personen sollen bereits infolge ihrer Verletzungen gestorben sein. In Cizre gilt seit dem 14. Dezember 2015 eine ganztägige Ausgangssperre aufgrund von Operation der Sicherheitskräfte gegen die bewaffnete Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi – YDG-H), die Jugendbewegung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Für 13 Verletzte wurden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorläufige Maßnahmen beantragt.

Appell an

INNENMINISTER
Efkan Ala
İçişleri Bakanlığı
Bakanlıklar, Ankara, TÜRKEI
(Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (00 90) 312 418 1795

MINISTERPRÄSIDENT
Mr. Ahmet Davutoğlu
Vekaletler Caddesi Başbakanlık Merkez Bina
P.K. 06573, Kızılay / Ankara, TÜRKEI
(Anrede: Dear Prime Minister / Sehr geehrter Herr Ministerpräsident)
Fax: (00 90) 312 403 6282
E-Mail: ozelkalem@basbakanlik.gov.tr

Sende eine Kopie an

VORSITZENDER DER MENSCHENRECHTSINSTITUTION
Dr. Hikmet Tülen
Yüksel Caddesi No. 23
Kat 3, Yenişehir
06650 Ankara, TÜRKEI
Fax: (00 90) 312 422 2996
E-Mail: tihk@tihk.gov.tr

BOTSCHAFT DER REPUBLIK TÜRKEI
S. E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu
Tiergartenstr. 19-21
10785 Berlin
Fax: 030-275 90 915
E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Türkisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 8. März 2016 keine Appelle mehr zu verschicken.

Amnesty fordert:

E-MAILS, FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Bitte stellen Sie sicher, dass Rettungskräfte sofort Zugang zu dem Gebäude bekommen, in dem sich die Verletzten derzeit befinden, und sorgen Sie dafür, dass die Betroffenen jede erforderliche Notfall- und andere medizinische Versorgung erhalten.

  • Stellen Sie bitte sicher, dass in den von den Ausgangssperren betroffenen Gebieten medizinische Notfallversorgung zu jeder Zeit und für alle Menschen, die sie benötigen, zur Verfügung steht.

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass die Sicherheitskräfte nur zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung anderer gegen eine gegenwärtige Gefahr für das Leben oder eine gegenwärtige Gefahr schwerer Körperverletzung Gebrauch von Schusswaffen machen. Stellen Sie sicher, dass in Cizre keine Artilleriegeschütze mehr eingesetzt werden und dass sofort eine unabhängige und unparteiische Untersuchung zu den Toten und Verletzten in den von den Ausgangssperren betroffenen Gebieten durchgeführt wird.

PLEASE WRITE IMMEDIATELY

  • Urging the Turkish authorities to immediately ensure ambulances’ access to the building where the injured are currently located and ensure that all necessary emergency and other medical treatment is provided to all the injured.

  • Calling on them to ensure that emergency medical treatment is provided at all times to all those who need it in areas under curfew.

  • Urging them not to use firearms except in the event of imminent threat of death or serious injury, to cease the use of artillery in Cizre and to ensure prompt, independent and impartial investigations into deaths and injuries that have occurred in curfew areas.

Sachlage

Am 23. Januar suchte eine Gruppe von 28 Personen, von denen einige während Zusammenstößen schwer verletzt worden waren, Schutz im Keller eines Gebäudes in Cizre. Vier von ihnen sind seitdem ihren Verletzungen erlegen. Ein Mann, der sich selbst in dem Keller befindet und verletzt ist, sagte Amnesty International am Telefon, dass mindestens zehn Schwerverletzte vor Ort seien, die unter anderem offene Wunden hätten. Die Betroffenen können den Keller nicht verlassen, da in den Straßen weiterhin zum Teil mit Schusswaffen und schwerem Artilleriegeschütz geschossen wird. Die eingeschlossene Gruppe berichtet, dass auch das Gebäude, in dem sie sich befinden immer wieder von Artilleriegranaten getroffen werde. Laut dem Rechtsbeistand, der die Verletzten vertritt, weigern sich die Behörden aus "Sicherheitsgründen", Rettungsfahrzeugen die Erlaubnis zu erteilen, zu den Betroffenen zu fahren. Das Gebäude befindet sich nur wenige Hundert Meter von der Innenstadt von Cizre und medizinischen Einrichtungen entfernt.

Am 25. Januar wurde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Namen von 13 Personen, die sich derzeit in dem Keller des Gebäudes in Cizre befinden, ein Antrag eingereicht. Darin wurden vorläufige Maßnahmen beantragt, mit denen die türkischen Behörden verpflichtet werden, alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, um die dringend benötigte medizinische Notfallversorgung zu gewährleisten. Die Entscheidung des Gerichtshofs ist noch anhängig.

Seit dem 18. Januar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in fünf ähnlichen Fällen bereits vorläufige Maßnahmen erlassen, mit denen die türkische Regierung aufgefordert wurde, "alle ihnen möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller zu schützen". Laut ihren Rechtsbeiständen sind drei der Antragsteller_innen, Serhat Altun, Hüseyin Paksoy und Cihan Karaman, bereits an ihren Verletzungen gestorben, weil sie trotz der vorläufigen Maßnahmen keine medizinische Notfallversorgung erhalten hatten. Helin Öncü, für die ebenfalls vorläufige Maßnahmen erlassen wurden, wird derzeit in einem Krankenhaus behandelt. Von dem fünften Antragsteller, Orhan Tunç, fehlt jede Spur.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Wegen einer Operation der Sicherheitskräfte gegen die bewaffnete Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi – YDG-H), die Jugendbewegung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), ist am 14. Dezember 2015 in Cizre in der Provinz Şırnak eine ganztägige Ausgangssperre verhängt worden. Lokale Anwält_innen und Aktivist_innen sagten Amnesty International, dass dort seit Verhängung der Ausgangssperre bereits 40 Todesfälle gemeldet wurden. Unter den Toten, von denen viele mutmaßlich durch Scharfschützen der Sicherheitskräfte ums Leben kamen, sind auch Kinder. Am 11. Dezember wurde auch im Bezirk Sur der Stadt Diyarbakır in sechs Vierteln eine Ausgangssperre verhängt. Anwält_innen berichten, dass seitdem mindestens 13 Bewohner_innen getötet wurden. Etwa die Hälfte der Einwohner_innen des Bezirks soll in angrenzende Gebiete geflohen sein, in denen derzeit keine Ausgangssperre gilt. Proteste und Mahnwachen, die täglich außerhalb der von den Ausgangssperren betroffenen Bereiche abgehalten werden, werden regelmäßig von der Polizei unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst. Dabei kommt es häufig auch zu Festnahmen von Demonstrierenden.

In allen Bereichen, in denen Ausgangssperren verhängt wurden, herrschen gravierende Engpässe bei der Strom- und Wasserversorgung. Die Bewohner_innen können ihre Häuser nicht verlassen, um sich mit Grundnahrungsmitteln einzudecken, und Menschen mit gesundheitlichen Problemen ist es nicht möglich, ihre Viertel sicher zu verlassen, um Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. In einigen Fällen konnten Rettungswagen nicht in die betroffenen Bereiche einfahren, weil die Sicherheitslage zu schlecht war oder die Sicherheitskräfte ihnen den Zugang verwehrten.

Seit Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und der Regierung im Juli 2015 kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi – YDG-H), der Jugendbewegung der PKK, und Sicherheitskräften in den städtischen Gebieten im Südosten der Türkei.

Laut dem türkischen Innenminister wurden bei diesen jüngsten Gewalthandlungen mehr als 3.000 "Terroristinnen und Terroristen" getötet. Mitte Dezember 2015 nahmen die Auseinandersetzungen zu, nachdem es zu einem Masseneinsatz von Polizei- und Militärkräften in der Region kam.

In Ortschaften und Städten, in denen die Sicherheitskräfte Operationen gegen die YDG-H durchführen, sind ausgedehnte ganztägige Ausgangssperren verhängt worden, die es den Bewohner_innen untersagen, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Die Behörden geben an, dass diese Ausgangssperren erforderlich sind, um "das Ergreifen von Mitgliedern der separatistischen terroristischen Organisation [PKK] zu ermöglichen und die Sicherheit der Menschen und den Schutz ihres Eigentums zu gewährleisten".

Amnesty International hat Videomaterial erhalten, auf dem offenbar zu sehen ist, wie am 20. Januar auf eine Gruppe von mehr als 20 Personen geschossen wird. Die Gruppe hielt weiße Fahnen hoch und versuchte, verletzte Personen in Holzkarren aus dem Stadtteil Curdi in ein Krankenhaus in Cizre zu bringen. Mehrere Menschen erlitten Schussverletzungen, darunter auch Refik Tekin, ein Journalist, der für den nationalen Fernsehsender IMC TV arbeitet und der die Situation vor und während des bewaffneten Angriffs filmte.

Die Türkei ist verpflichtet, das Recht auf Bewegungsfreiheit zu wahren. Dieses Recht darf zwar gewissen Einschränkungen unterworfen werden, diese müssen jedoch stets dem "Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitstest" standhalten. Dies bedeutet, dass sie gesetzlich vorgesehen, einem legitimen Zweck dienen und erforderlich und angemessen sein müssen. Die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung kann ein legitimer Grund für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit sein. Die Verhängung ganztägiger Ausgangssperren auf unbestimmte Zeit stellt jedoch eine unverhältnismäßige Einschränkung dieses Rechts dar, von der die Menschen in einigen Orten nun bereits in der vierten Woche in Folge betroffen sind und die weitere Menschenrechtsverletzungen zur Folge hat. Auch andere Sicherheitsmaßnahmen müssen den "Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitstest" bestehen, um als rechtmäßig zu gelten. In allen Bereichen, in denen die Ausgangssperre gilt, besteht Berichten zufolge nur eingeschränkter Zugang zu Wasser. Zuzulassen, dass betroffene Personen kein Wasser und keinen Strom haben, ist eine unverhältnismäßige Maßnahme. Bewohner_innen daran zu hindern, Schutz in anderen Gebieten zu suchen, kann in keinem Fall als erforderliche Sicherheitsmaßnahme gerechtfertigt werden.

Internationale Standards zum Schutz des Rechts auf Leben schreiben vor, dass Beamt_innen mit Polizeibefugnissen nur dann Gebrauch von tödlicher Gewalt und insbesondere von Schusswaffen machen dürfen, wenn dies zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung anderer gegen eine gegenwärtige Gefahr für das Leben oder eine gegenwärtige Gefahr schwerer Körperverletzung dient. Ein gezielter tödlicher Schusswaffengebrauch ist allenfalls dann zulässig, wenn er zum Schutz menschlichen Lebens absolut unvermeidbar ist (Bestimmung 9 der UN-Grundprinzipien für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen).