Tunesien: Politiker seit über einem Jahr willkürlich in Haft

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Das Bild zeigt eine Collage mit Porträtfotos von acht Personen

Wurden angeklagt und teilweise inhaftiert, weil sie die tunesische Regierung kritisierten (v.l.n.r.): Abdelhamid Jelassi, Ridha Belhaj, Lazhar Akremi, Khayyam Turki, Jaouhar Ben Mbarek, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi und Chaima Issa.

Die Oppositionspolitiker Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi sind seit Februar 2023 wegen unbegründeter Anschuldigungen der "Verschwörung gegen die Staatssicherheit" willkürlich inhaftiert. Im Januar 2024 wies ein Richter die jüngsten Rechtsmittel ab, die vom Ausschuss für die Verteidigung politischer Gefangener gegen die verlängerte Untersuchungshaft der sechs Inhaftierten eingelegt worden waren. Das Antiterrorgericht in Tunesien ermittelt gegen alle acht wegen des Versuchs, "die Staatsform zu verändern", worauf gemäß Paragraf 72 des Strafgesetzbuchs die Todesstrafe steht. Die tunesischen Behörden müssen die Angeklagten umgehend und bedingungslos freilassen und die Anklagen gegen sie fallenlassen, da diese ausschließlich auf der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte beruhen. 

Bitte setzt euch für sechs willkürlich inhaftierte Oppositionelle ein!

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Exzellenz,

die beiden Oppositionspolitiker*innen Chaima Issa und Lazhar Akremi sind zwar seit Mitte 2023 unter Auflagen wieder frei, aber Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi befinden sich nach wie vor willkürlich in Haft.

Seit ihrer Festnahme im Februar 2023 ist keiner der Inhaftierten im Zusammenhang mit Handlungen befragt worden, die international als Straftaten anerkannt wären. Die Anklagen gegen sie sind somit unbegründet. Die Angeklagten wurden zu ihren Beziehungen untereinander und zu ausländischen Diplomat*innen befragt, zu Treffen, an denen sie gemeinsam teilgenommen haben, sowie zu Nachrichten, in denen sie sich untereinander über die politischen Lage in Tunesien ausgetauscht haben. Ihre strafrechtliche Verfolgung verstößt gegen Artikel 19 und 21 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie gegen Artikel 9 und 11 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, die beide die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung garantieren. Tunesien hat diese Menschenrechtsabkommen ratifiziert.

Sorgen Sie bitte dafür, dass Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi umgehend aus der willkürlichen Haft entlassen werden. 

Heben Sie außerdem die Einschränkungen gegen Chaima Issa und Lazhar Akremi auf, und lassen Sie alle Anklagen gegen sie fallen, da diese allein auf der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte beruhen.

Stellen Sie bis zur Freilassung der Inhaftierten sicher, dass sie Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung nach den Grundsätzen der Medizinethik erhalten, zu denen Vertraulichkeit, Patientenautonomie und die Einwilligung nach Aufklärung gehören. 

Stellen Sie bitte überdies die gezielte Festnahme von Regierungskritiker*innen wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ein.

Hochachtungsvoll

Your Excellency,

I write to you to express my grave concern over the prolonged arbitrary detention of opposition figures Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj and Abdelhamid Jelassi on unfounded "conspiracy" accusations. Over a year after their arrests, authorities have failed to release them from arbitrary detention. Under international human rights law, everyone is entitled to their right to liberty. Also, the presumption of innocence is one of the requirements of the right to fair trial (Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights and Article 7 of the African Charter on Human and Peoples’ Rights). 

Since their arrest in February 2023, none of the detainees have been questioned in relation to acts that would amount to recognizable crimes under international law, and the charges against them are therefore unfounded. They were questioned about their relationship with each other and with foreign diplomats as well as on meetings they undertook together and messages they exchanged about the political situation in Tunisia. Their prosecution violates articles 19 and 21 of the International Covenant on Civil and Political Rights and articles 9 and 11 of the African Charter on Human and Peoples’ Rights which together guarantee the rights to freedom of expression and peaceful assembly. Tunisia has ratified these human rights treaties.

Despite their release in July 2023, political activists Chaima Issa and Lazhar Akremi who spent nearly five months arbitrarily detained in the same case have been banned from travelling and from "appearing in public spaces".

I therefore urge you to ensure that Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj and Abdelhamid Jelassi, are immediately released from arbitrary detention. I also urge you to ensure that the restrictions against Chaima Issa and Lazhar Akremi immediately lifted, and all the charges against them dropped, as the charges stem solely from the peaceful exercise of their human rights. Pending the release of the detained individuals, ensure that they have access to adequate healthcare, in compliance with medical ethics, including the principles of confidentiality, autonomy, and informed consent. Moreover, I call on you to cease your targeted arrests of critics for the peaceful exercise of their rights to freedom of expression and peaceful assembly.

Yours sincerely,

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Appell an

Präsident
Kais Saied
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Tunesischen Republik
S.E. Herrn Wacef Chiha
Lindenallee 16
14050 Berlin

Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn

Amnesty fordert:

  • Sorgen Sie bitte dafür, dass Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi umgehend aus der willkürlichen Haft entlassen werden. 
  • Heben Sie außerdem die Einschränkungen gegen Chaima Issa und Lazhar Akremi auf, und lassen Sie alle Anklagen gegen sie fallen, da diese allein auf der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte beruhen.
  • Stellen Sie bis zur Freilassung der Inhaftierten sicher, dass sie Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung nach den Grundsätzen der Medizinethik erhalten, zu denen Vertraulichkeit, Patientenautonomie und die Einwilligung nach Aufklärung gehören. 
  • Stellen Sie bitte überdies die gezielte Festnahme von Regierungskritiker*innen wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ein.

Sachlage

Die Oppositionellen Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi sind nach wie vor wegen unbegründeter Verschwörungsanklagen inhaftiert. Auch mehr als ein Jahr nach ihrer Festnahme wurden sie von den Behörden noch immer nicht aus der willkürlichen Haft entlassen. Nach internationalen Menschenrechtsnormen hat jeder Mensch ein Recht auf Freiheit. Zudem gehört die Unschuldsvermutung zu den Voraussetzungen für das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und Artikel 7 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker). 

Seit ihrer Festnahme im Februar 2023 ist keiner der Inhaftierten im Zusammenhang mit Handlungen befragt worden, die international als Straftaten anerkannt wären. Die Anklagen gegen sie sind somit unbegründet. Die Angeklagten wurden zu ihren Beziehungen untereinander und zu ausländischen Diplomat*innen befragt, zu Treffen, an denen sie gemeinsam teilgenommen haben, sowie zu Nachrichten, in denen sie sich untereinander über die politischen Lage in Tunesien ausgetauscht haben. Ihre strafrechtliche Verfolgung verstößt gegen Artikel 19 und 21 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie gegen Artikel 9 und 11 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, die beide die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung garantieren. Tunesien hat diese Menschenrechtsabkommen ratifiziert.

Die politischen Aktivist*innen Chaima Issa und Lazhar Akremi wurden zwar im Juli 2023 nach fast fünf Monate willkürlicher Inhaftierung freigelassen, allerdings unter der Auflage, nicht ins Ausland zu reisen oder an "öffentlichen Orten aufzutreten".

Hintergrundinformation

Hintergrund

Seit Februar 2023 laufen in Tunesien gegen mindestens 50 Personen strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen haltloser Verschwörungsvorwürfe. Amnesty International hat die Fälle von acht Personen dokumentiert, von denen derzeit sechs im Zusammenhang mit diesen Ermittlungen inhaftiert sind. Zu ihnen gehören der Politiker Khayam Turki, der am 11. Februar 2023 festgenommen wurde, der Dissident und Politiker Abdelhamid Jelassi, der am 12. Februar 2023 festgenommen wurde, und der oppositionelle Aktivist Issam Chebbi, der am 22. Februar 2023 in Gewahrsam genommen wurde; außerdem der oppositionelle Aktivist Jaouhar Ben Mbarek, der am 24. Februar 2023 festgenommen wurde, und schließlich die Rechtsanwälte Ghazi Chaouachi und Ridha Belhaj, die am 25. Februar 2023 in Gewahrsam kamen. Die bekannte Oppositionspolitikerin Chaima Issa und der Regimekritiker Lazhar Akremi, die am 22. Februar bzw. 13. Februar 2023 festgenommen wurden, wurden nach fast fünf Monaten willkürlicher Inhaftierung am 13. Juli 2023 vorläufig freigelassen. 

Am 12. Februar 2024 begannen die sechs Inhaftierten einen Hungerstreik, um gegen ihre willkürliche Inhaftierung zu protestieren. Zwei von ihnen mussten den Hungerstreik aus gesundheitlichen Gründen beenden, während Khayyam Turki, Abdelhamid Jelassi, Issam Chebbi und Jaouhar Ben Mbarek diesen bis zum 27. Februar fortsetzten. Dem Menschenrechtsanwalt Ayachi Hammami zufolge, der auch Mitglied des Ausschusses für die Verteidigung politischer Gefangener ist, hat sich der Gesundheitszustand der Inhaftierten verschlechtert. Dies ist schon der zweite Hungerstreik, denn sie waren aus den gleichen Gründen bereits vom 26. September bis zum 12. Oktober 2023 in einem Hungerstreik, den sie schließlich aufgrund gesundheitlicher Bedenken beendeten.

Gegen alle acht Angeklagten wird aufgrund konstruierter Verschwörungsanklagen nach zehn Bestimmungen des tunesischen Strafgesetzbuches ermittelt, darunter Paragraf 72, der die Todesstrafe für den Versuch vorsieht, "die Staatsform zu verändern". Außerdem stehen sie wegen Verstößen gegen 17 Paragrafen des Antiterrorgesetzes von 2015 unter Anklage, darunter Paragraf 32, der eine Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren für die "Bildung einer terroristischen Vereinigung" vorsieht. Der Richter und das Berufungsgericht in Tunis lehnten die Anträge der Rechtsbeistände auf Entlassung der acht Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zunächst ab. Im Juli 2023 ließ das Gericht Chaima Issa und Lazhar jedoch frei, mit der Auflage, nicht ins Ausland zu reisen oder an "öffentlichen Orten aufzutreten". Für die verbleibenden sechs Angeklagten verlängerte das Gericht die Untersuchungshaft mit der Begründung, der "ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen müsse sichergestellt werden".

Im Oktober 2023 wurde der Menschenrechtsanwalt Ayachi Hammami, gegen den in demselben Fall wegen ähnlicher Vorwürfe wie gegen seine inhaftierten Mandanten ermittelt wird, zur Vernehmung durch den Ermittlungsrichter vorgeladen. Im Oktober 2023 leiteten die Behörden separate Gerichtsverfahren gegen die Rechtsbeistände Dalila Msaddek Ben Mbarek und Islam Hamza ein, weil sie sich in Radiosendungen öffentlich zu dem Fall geäußert hatten. Beide sind Mitglieder des Ausschusses für die Verteidigung politischer Gefangener. Gegen sie wird gemäß des repressiven Cybercrime-Gesetzes 54 wegen der "Verbreitung falscher Nachrichten" ermittelt. Seit Beginn der Ermittlungen im Februar 2023 haben die Justizbehörden mindestens 42 weitere politische Aktivist*innen, Oppositionelle, Geschäftsleute, ehemalige Parlamentsabgeordnete, Rechtsbeistände, Menschenrechtsverteidiger*innen und ehemalige Sicherheitskräfte im Rahmen des gleichen Verfahrens vorgeladen.

Am 14. Februar 2023 äußerte sich der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Turk, besorgt über die jüngste Festnahmewelle gegen zivilgesellschaftlich engagierte Personen und vermeintliche Regierungsgegner*innen sowie über die anhaltende Aushöhlung der Justiz durch die tunesischen Behörden. Ein*e Sprecher*in des Hochkommissars sprach ausdrücklich die Strafverfolgung von "vermeintlichen politischen Gegner*innen" auf der Grundlage von "Verschwörung gegen die Staatssicherheit" an. Der UN-Hochkommissar forderte die Behörden auf, "das Rechtsstaatsprinzip und die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren in allen Gerichtsverfahren zu respektieren und umgehend alle willkürlich Inhaftierten freizulassen, auch diejenigen, die sich wegen der Wahrnehmung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung in Haft befinden". Am 22. Februar erklärte Präsident Saied alle, die "es wagen, sich auf die Seite krimineller Netzwerke zu stellen", zu "Mitschuldigen". Diese Aussage sowie die Tatsache, dass der Präsident im Jahr 2022 insgesamt 57 Richter*innen willkürlich entlassen hatte, hat in der Justiz zu einem zunehmend eingeschüchterten Klima geführt.

Am 25. Juli 2021 gab sich Präsident Saied Notstandsbefugnisse, die, so seine Begründung, gemäß der tunesischen Verfassung von 2014 zustehen würden. Seit seiner Machtergreifung hat Präsident Saied das ehemalige tunesische Parlament aufgelöst, per Präsidialdekret Gesetze erlassen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung gefährden, eine neue Verfassung ausarbeiten lassen und versucht, seinen Einfluss auf die Justiz zu vergrößern. Am 1. Juni 2022 entließ Präsident Saied willkürlich 57 Richter*innen auf der Grundlage von Vorwürfen wie Versäumnissen bei der Untersuchung terrorismusbezogener Fälle, Ehebruch oder der Beteiligung an "durch Alkohol angeheizten Partys". Das Justizministerium weigerte sich, der vom tunesischen Verwaltungsgericht angeordneten Wiedereinsetzung von 49 dieser Richter*innen Folge zu leisten.