Singapur: Weitere Hinrichtungen stoppen!

Vor gelbem Hintergrund ist ein Galgenstrick zu sehen, sowie die Schrift "Hinrichtung verhindern!"

27.4.22 - schlechte Nachrichten: Der malaysische Staatsangehörige Nagaenthran Dharmalingam ist heute morgen hingerichtet worden. Bitte schreibt weiter an die Behörden in Singapur! Aktualisierung: Am 29. April sollen Nagaenthran Dharmalingam und Datchinamurthy Kataiah, beide aus Malaysia, hingerichtet werden. Datchinamurthy Kataiah ist jedoch am 29. April bis zur Entscheidung über ein Rechtsmittel ein Hinrichtungsaufschub gewährt worden. Die Behörden von Singapur vollstrecken nach einer zweijährigen Unterbrechung wieder Todesurteile. Am 30. März 2022 wurde Abdul Kahar bin Othman hingerichtet. Am Tag zuvor wurden die noch anhängigen Rechtsmittel von Nagaenthran Dharmalingam abgewiesen; seine Hinrichtung könnte somit unmittelbar bevorstehen. Auch bei zahlreichen anderen Verurteilten wurden die Rechtsmittel abgelehnt. Es ist zu befürchten, dass nun weitere Menschen hingerichtet werden. Die Regierung von Singapur muss sämtliche geplanten Hinrichtungen stoppen, die Strafen aller Verurteilten umwandeln und gemäß dem Völkerrecht und menschenrechtlichen Standards erste Schritte zur vollständigen Abschaffung der Todesstrafe unternehmen.

Appell an

Premierminister

Lee Hsien Loong

Office of the Prime Minister

Orchard Road, Istana

238823

SINGAPUR

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie auf, alle geplanten Hinrichtungen sofort zu stoppen, die Strafen aller Betroffenen umzuwandeln und ein offizielles Hinrichtungsmoratorium als ersten Schritt zur vollständigen Abschaffung der Todesstrafe zu verhängen.

Sachlage

Abdul Kahar bin Othman wurde 2015 des Drogenschmuggels schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt, weil die Todesstrafe in Singapur bei Drogendelikten zwingend vorgeschrieben ist. Die Behörden informierten seine Familie in einem auf den 23. März 2022 datierten Brief über die bevorstehende Hinrichtung und erlaubten den Angehörigen, Vorkehrungen für letzte Besuche zu treffen. Das Todesurteil von Abdul Kahar bin Othman wurde eine Woche später, am 30. März, vollstreckt. Mit der Hinrichtung von Abdul Kahar bin Othman hat Singapur nach über zwei Jahren erstmals wieder ein Todesurteil vollstreckt. Die Regierung Singapurs muss diese Wiederaufnahme von Hinrichtungen umgehend stoppen und auf der zweijährigen Hinrichtungspause aufbauen. Sie muss Maßnahmen zur Reform der Todesstrafe ergreifen, anstatt neue Hinrichtungen zu veranlassen.

Die letzte bekannte Hinrichtung in Singapur – vor der jüngsten im März 2022 – war im November 2019 durchgeführt worden, noch vor der Corona-Pandemie. Die Behörden hatten weitere Hinrichtungen für 2020 und 2021 angesetzt, die jedoch aufgrund von anhängigen Berufungsverfahren ausgesetzt wurden. Amnesty International befürchtet, dass die Hinrichtung von Abdul Kahar bin Othman nur die erste in einer neuen Hinrichtungsserie sein könnte. So hat der Oberste Gerichtshof von Singapur bereits alle noch anhängigen Rechtsmittel von Roslan bin Bakar, Rosman bin Abdullah und einem anderen Mann am 9. März, bzw. am 16. März 2022 zurückgewiesen. Alle drei sind wegen Drogendelikten zum Tode verurteilt worden.

Unter dem Völkerrecht und nach internationalen Standards ist es verboten, die Todesstrafe als obligatorische Strafe bei Drogendelikten zu verhängen. Das Völkerrecht und internationale Standards sehen Beschränkungen für die Anwendung der Todesstrafe vor, um einen willkürlichen Entzug des Lebens zu verhindern. Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen dürfen nicht zum Tode verurteilt werden, ebenso wenig Menschen, deren Verfahren nicht den höchsten Standards für ein faires Gerichtsverfahren entsprach. Bei allen aktuellen Fällen scheinen diese Schutzmaßnahmen verletzt worden zu sein.

Singapur ist eines von vier Ländern, die in den vergangenen Jahren Hinrichtungen wegen Drogendelikten vollstreckt haben. Aufgrund der äußerst repressiven Drogenkontrollgesetze ist es Richter_innen nicht gestattet, bei der Strafzumessung mögliche mildernde Umstände – wie eine bestehende Drogenabhängigkeit – zu berücksichtigen. Dass Singapur auf äußerst drakonische Gesetze vertraut, konnte weder den Drogenkonsum und die Verfügbarkeit von Drogen im Land bekämpfen noch vor drogenbedingten Folgeschäden schützen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Nagaenthran K. Dharmalingam wurde am 22. November 2010 schuldig gesprochen, im April 2009 42,72 Gramm Heroin nach Singapur geschmuggelt zu haben, und zum Tode verurteilt. In einem solchen Fall muss in Singapur zwingend die Todesstrafe verhängt werden. Der Schuldspruch und das Todesurteil wurden im Juli 2011 von einem Berufungsgericht bestätigt. Die Behörden setzten seine Hinrichtung für November 2021 an. Nach internationaler Kritik und Appellen wurde eine letzte Berufungsanhörung mehrmals verschoben. Am 29. März 2022 lehnte das Gericht die anhängigen Rechtsmittel ab; seine Hinrichtung könnte nun unmittelbar bevorstehen.

Medizinische Sachverständige, die Nagaenthran K. Dharmalingam in den Jahren 2013, 2016 und 2017 begutachtet hatten, bescheinigten ihm eine Einschränkung seiner kognitiven Leistungsfähigkeit, was "zu einer fehlgeleiteten Loyalität und einer schlechten Einschätzung der Risiken bei der Zustimmung zur Durchführung der Straftat beigetragen haben könnte". In seiner letzten Anhörung am 29. März 2022 wies das Berufungsgericht die Bedenken bezüglich der Verschlechterung seines mentalen Zustands sowie seiner beeinträchtigten intellektuellen Leistungsfähigkeit zurück. Die Vertragsorgane des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, deren Vertragsstaat Singapur ist, stellen klar, dass diese Abkommen die Verhängung der Todesstrafe gegen Menschen verbieten, deren geistige und intellektuelle Einschränkung ihre wirksame Verteidigung behindert hat.

Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe. Bis heute haben 108 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft und mehr als zwei Drittel der Länder haben die Todesstrafe per Gesetz oder in der Praxis abgeschafft.

Das Völkerrecht und internationale Standards verbieten die Verhängung von obligatorischen Todesurteilen, da diese den Richter_innen die Möglichkeit nehmen, mildernde Umstände zu berücksichtigen. Darüber hinaus sehen das Völkerrecht und internationale Standards vor, dass die Todesstrafe nur für "schwerste Verbrechen" verhängt werden darf, z. B. bei vorsätzlicher Tötung. Besorgniserregend ist auch, dass sich die Staatsanwaltschaft möglicherweise auf das singapurische Gesetz über den Drogenmissbrauch stützt. Auf dieser Grundlage wird bei jeder Person, der der Besitz bestimmter Mengen verbotener Substanzen nachgewiesen wird, davon ausgegangen, dass sie Kenntnis sowohl von der gefundenen Substanz als auch von deren Menge hatte und dass sie diese zum Zwecke des Handels in ihrem Besitz hatte. Die beschuldigte Person muss dann das Gegenteil beweisen, was einen Verstoß gegen das Prinzip der Unschuldsvermutung darstellt.

Nach den 2013 in Kraft getretenen Änderungen des Gesetzes über den Drogenmissbrauch verfügen die Richter_innen in Singapur über einen gewissen Ermessensspielraum bei der Strafzumessung in Fällen, in denen sich die Rolle des_der Angeklagten auf den Transport von Drogen ("Kurier_in") beschränkte. Dies greift aber nur, wenn die Staatsanwaltschaft der beschuldigten Person bescheinigt, dass sie sich intensiv für die Zerschlagung des Drogenhandels eingesetzt hat, oder bei Personen mit geistigen oder intellektuellen Einschränkungen, die keine Verantwortung für ihre Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang mit der verhandelten Straftat übernehmen können. Diese Regelung im Falle einer Einstufung als "Kurier_in" bedeutet, dass das Gericht keinen Ermessensspielraum mehr hat und den_die Angeklagte_n zum Tode verurteilen muss, sofern die Staatsanwaltschaft keine entsprechende Bescheinigung vorlegt. Dadurch wird die Entscheidung über die Verurteilung in der Praxis der Staatsanwaltschaft übertragen.