Russland: inhaftierter Ukrainer in Gefahr

Das Bild zeigt das Porträtbild eine Mannes

In Russland inhaftiert: Der Ukrainer Oleksandr (Aleksandr) Marchenko.

Der ukrainische Staatsbürger Oleksandr Marchenko, der in Russland unter dem fingierten Vorwurf der Spionage inhaftiert ist, wird in der Haft weiterhin schikaniert und misshandelt. Die Strafvollzugsbehörden haben Oleksandr Marchenko unter fadenscheinigen Gründen zeitweise in Straf- oder Arrestzellen untergebracht und untersagen ihm den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin. Ihm wird zudem regelmäßig eine dringende medizinische Versorgung verweigert, was eine Gefahr für sein Leben darstellt und Folter gleichkommen kann.

Appell an

Staatsanwalt der Republik Burjatien
Mikhail Yurievich Filichev
23a, Borsoeva Street
Ulan-Ude, Republic of Buryatia
RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation 
S. E. Herrn Sergej J. Netschajew
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin

Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie nachdrücklich auf, eine Überprüfung der Behandlung von Oleksandr Marchernko in den Strafkolonien in Burjatien einzuleiten, um sicherzustellen, dass er nicht aus fadenscheinigen Gründen mit Disziplinarmaßnahmen konfrontiert wird. Bitte sorgen Sie außerdem dafür, dass ihm die erforderliche medizinische Versorgung zuteil wird und dass seine Misshandlungsvorwürfe unverzüglich, wirksam und unparteiisch untersucht werden.

Sachlage

Oleksandr Marchenko sitzt derzeit eine zehnjährige Haftstrafe in der Strafkolonie FKU IK-8 ab. Am 3. Januar 2024 ordnete die Verwaltung der Strafkolonie für eine Woche seine Unterbringung in einer Strafisolationszelle (SHIZO) an. Am 10. Januar wurde er für sechs Monate in einer Arrestzelle (PKT) untergebracht. Diese Strafen wurden mit der fadenscheinigen Begründung "Verstoß gegen die Kleiderordnung" verhängt. Nach Regel 36 der UN-Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) ist "Disziplin und Ordnung aufrechtzuerhalten, wobei nicht mehr Einschränkungen vorgenommen werden dürfen, als zur Gewährleistung eines sicheren Gewahrsams erforderlich sind ...". Regel 39(2) desselben internationalen Dokuments schreibt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen einer Disziplinarstrafe und dem Vergehen fest, für das sie verhängt wurde. Bei der Verhängung der Strafen wurde gegen diese internationalen Normen verstoßen. Die Strafvollzugsbehörden haben Oleksandr Marchenko wiederholt willkürlichen Disziplinarmaßnahmen unterworfen. Darüber hinaus wird Oleksandr Marchenko der Kontakt zu seiner Partnerin verweigert. Die Umstände seines Falles und die Art und Weise seiner Behandlung in den Strafvollzugsanstalten geben Anlass zu der Vermutung, dass er aufgrund seiner Staatsangehörigkeit einer härteren Behandlung unterzogen wird.

Die wiederholte Unterbringung von Oleksandr Marchenko in Strafzellen könnte zu einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands führen. Im Jahr 2016 wurde Oleksandr Marchenko aufgrund von Krebs seine Schilddrüse entfernt. Er benötigt täglich Medikamente, monatliche Bluttests und andere medizinische Untersuchungen alle drei Monate. Soweit bekannt, erhält er jedoch nicht die erforderliche medizinische Versorgung, während die lebenswichtigen Medikamente von seiner Familie auf eigene Kosten beschafft werden müssen. Die Verweigerung der medizinischen Versorgung sowie die ständige Unterbringung in Strafzellen können gegen das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen verstoßen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Wie der ukrainische Staatsangehörige Oleksandr (Aleksandr) Marchenko seinen Rechtsbeiständen berichtete, reiste er im Dezember 2018 wegen persönlicher Angelegenheiten von der ukrainischen Hauptstadt Kiew über Russland in das von Russland besetzte Donezk in der Ostukraine. Am 18. Dezember 2018 wurde er bei der Rückreise über Russland von maskierten Männern entführt. Ihm zufolge stülpten die Männer ihm einen Sack über den Kopf, nahmen ihm sein Mobiltelefon und andere persönliche Gegenstände weg und brachten ihn in ein geheimes Gefängnis der sogenannten "Volksrepublik Donezk" (DNR). Dort wurde er ohne Kontakt zur Außenwelt im Keller in einer fensterlosen Zelle ohne Bett, Toilette oder fließendes Wasser festgehalten. Ab dem Tag seiner Entführung war Oleksandr Marchenko Folter und anderen Misshandlungen wie Stromstößen ausgesetzt, bis er sich bereiterklärte, sich in einem "Geständnis" auf Video selbst zu belasten.

Am 18. Februar 2019 wurde er gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, denen zufolge er keine Beschwerden gegen das "Ministerium für Staatssicherheit der DNR" vorzubringen habe. Danach wurde er zur russischen Grenze gefahren und dem russischen Geheimdienst FSB übergeben. Die Angehörigen des FSB stülpten Oleksandr Marchenko einen Sack über den Kopf und brachten ihn auf einer mehrstündigen Fahrt zum regionalen FSB in Krasnodar. Dort wurde er zu einem Mann befragt, den er nach eigenen Angaben nie kennengelernt hatte. Wie Oleksandr Marchenko seinen Rechtsbeiständen mitteilte, wurde er nach dem Verhör von Angehörigen des FSB zu einer Polizeiwache gebracht, wo er die Nacht verbrachte. Auf der Grundlage eines von der Polizei konstruierten Protokolls über eine Ordnungswidrigkeit entschied ein Gericht am nächsten Tag, Oleksandr Marchenko für zehn Tage in Haft zu nehmen. Im Anschluss daran leitete die Polizei zwei weitere konstruierte Verwaltungsverfahren gegen Oleksandr Marchenko ein, und zwar immer dann, sobald er seine vorherige Verwaltungshaft vollständig verbüßt hatte (am 1. März 2019 und am 16. März 2019). So blieb er weiter in Haft. Während seiner willkürlichen Verwaltungshaft wurde Oleksandr Marchenko wiederholt von Angehörigen des FSB sowie "Sicherheitskräften" der "DNR" verhört und dazu gezwungen, ein "Geständnis" zu unterschreiben. Sie drohten ihm und seiner Familie und verweigerten ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand. Am 1. Mai 2019 wurde Oleksandr Marchenko von einem Gericht wegen Schmuggels in Untersuchungshaft genommen, zunächst für zwei Monate. Diese Haft wurde im Anschluss mehrfach verlängert. Am 6. Dezember 2019 wurde Oleksandr Marchenko wegen Spionage angeklagt. Am 26. November 2020 verurteilte das Regionalgericht in Krasnodar ihn nach Paragraf 276 des russischen Strafgesetzbuchs ("Spionage") zu zehn Jahren Gefängnis in einer Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen. Seine Rechtsmittel wurden abgelehnt.

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben Fälle dokumentiert, in denen Personen vom sogenannten "Ministerium für Staatssicherheit" in der von Russland besetzten Ostukraine ihrer Freiheit beraubt wurden, indem sie in geheime Haft genommen und gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, um ein "Geständnis" zu erzwingen, das dann zu ihrer "Verurteilung" herangezogen wurde. Nähere Informationen zu solchen Praktiken finden Sie in dem gemeinsamen Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch "You Don’t Exist: Arbitrary detentions, enforced disappearances, and torture in eastern Ukraine" unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur50/4455/2016/en/.

Seitdem ihm 2016 wegen einer Krebserkrankung die Schilddrüse entfernt wurde, benötigt er täglich Medikamente, monatliche Blutuntersuchungen und weitere medizinische Untersuchungen alle drei Monate. Seit seiner Inhaftierung 2018 hatte er jedoch bisher erst eine Blutuntersuchung im Juli 2021, die von seiner Familie privat organisiert wurde. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände wurden ihm in mindestens zwei Fällen von den Strafvollzugsbehörden über längere Zeiträume hinweg die benötigten Medikamente verwehrt. Einmal von April bis Mai 2021, als er im Untersuchungsgefängnis SIZO-1 und in der Strafkolonie IK-14 in Krasnodar festgehalten wurde, und dann vom 12. bis 28. Dezember 2021, als er in SIZO-1 in Ulan-Ude in Burjatien inhaftiert war. Ohne die für ihn lebenswichtigen Medikamente hat sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert. Auch in der Strafkolonie IK-8 wurden ihm die regelmäßig erforderlichen Untersuchungen verweigert. Die von ihm dringend benötigten Medikamente müssen von der Familie auf eigene Kosten bereitgestellt werden. Die Verweigerung medizinischer Versorgung kann eine Form von Folter bzw. anderer Misshandlung darstellen. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände soll die Verwaltung der Hafteinrichtung SIZO-1 in Ulan-Ude Oleksandr Marchenko darüber hinaus mit dem Tod und mit sexualisierter Gewalt gedroht haben. Berichten zufolge wurde er außerdem 15 Tage lang zusammen mit einem an Tuberkulose erkrankten Mann in eine Strafzelle gesperrt, weil er versucht hatte, das ukrainische Konsulat zu erreichen. 2022 hielt ihn die Verwaltung der Strafkolonie IK-8 mindestens acht Mal in Straf- oder Arrestzellen fest und verwehrte ihm den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin. Auch im Jahr 2023 wurde er wiederholt in Straf- oder Arrestzellen untergebracht. Im Jahr 2022 leiteten die Behörden der Strafkolonie ein Verwaltungsverfahren gegen ihn gemäß Paragraf 20.3.3 (1) des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, "Diskreditierung der russischen Streitkräfte", ein. Am 29. Dezember 2022 befand das Bezirksgericht von Ulan-Ude Oktjabrskij, dass Oleksandr Marchenko gegen diesen Paragrafen verstoßen hatte, und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe. Am 7. Februar bestätigte das Oberste Gericht von Burjatien das Urteil im Berufungsverfahren.

Am 4. März 2022 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das erdrückende Geldstrafen oder Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für "Verbrechen" wie die "vorsätzliche Verbreitung von Falschnachrichten" über die russischen Streitkräfte (Paragraf 207.3 im Strafgesetzbuch) oder die "Diskreditierung" russischer Truppen (Paragraf 280.3 im Strafgesetzbuch und Paragraf 20.3.3 im Gesetzbuch für Ordnungswidrigkeiten) vorsieht. Wer dieser "Straftaten" beschuldigt wird, dem drohen hohe Geldstrafen oder eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren. Diejenigen, die wegen "Diskreditierung" mit Verwaltungsstrafen belegt wurden, könnten bei Wiederholung dieser "Straftat" strafrechtlich belangt werden. Nach Angaben der russischen Nichtregierungsorganisation OVD-Info gab es bis November 2023 mindestens 268 Strafverfolgungen nach Paragraf 207.3 und mindestens 159 Strafverfolgungen nach Paragraf 280.3 des Strafgesetzbuchs.