Amnesty Journal Argentinien 21. Dezember 2016

Aus Engagement wird Freundschaft

Aus Engagement wird Freundschaft

Freundschaften durch Einsatz für Menschenrechte

Unzählige Leute setzen sich gemeinsam mit Amnesty International für andere ein: Für Menschen, die sie noch nie gesehen haben und die vielleicht Tausende Kilometer entfernt leben. Manchmal entstehen aus diesem Einsatz tiefe Freundschaften.

Von Carole Scheidegger, Lynn Dudenhöefer (Texte) und Julia Krusch (Zeichnungen)

Befreundet seit 35 Jahren

"Ich hatte sie dreieinhalb Jahre im Herzen, als ich Briefe für sie schrieb. Und plötzlich stand ein Mensch aus Fleisch und Blut vor mir." Ileana Heer erinnert sich noch genau an den Tag vor 35 Jahren, als sie Rosa* am Flughafen Zürich endlich umarmen durfte.

Zeichnung: Schweizerin Ileana und Bolivianerin Rosa, Ileana forderte mit Briefen an die argentinische Junta Rosas Freilassung

Zeichnung: Schweizerin Ileana und Bolivianerin Rosa, Ileana forderte mit Briefen an die argentinische Junta Rosas Freilassung

Die gebürtige Tessinerin, die schon seit Langem in der Deutschschweiz lebt, hatte zuvor viele Briefe an die argentinische Militärjunta geschrieben. Darin forderte sie die Freilassung von Rosa, einer jungen Bolivianerin, die während der argentinischen Militärdiktatur in den siebziger Jahren inhaftiert wurde, weil sie sich für die Menschenrechte eingesetzt hatte. "Ich war natürlich nicht allein in meinem Einsatz; meine ganze Amnesty-Gruppe schrieb Briefe. Auch die damalige Vizepräsidentin der Schweizer Amnesty-Sektion, Marta Fotsch, engagierte sich stark", erinnert sich Ileana Heer.

Endlich kam Rosa frei und es gelang, sie in die Schweiz zu holen. Von hier aus suchte die Bolivianerin nach ihrer kleinen Tochter Tamara, die während der Gefangenschaft der Mutter verschwunden war. Schließlich fand sie das Mädchen mit Hilfe der "Abuelas de Plaza de Mayo" in Buenos Aires – das sind jene Großmütter, die seit Jahrzehnten nach ihren während der Militärdiktatur verschwundenen Kindern und Enkelkindern suchen. Rosa konnte ihre Tochter mit in die Schweiz nehmen.

Ileana Heer nahm an dieser bewegten Geschichte stetig Anteil, war Rosas Trauzeugin und wurde viele Jahre später auch zur Hochzeit der mittlerweile erwachsenen ­Tamara eingeladen. Manchmal lag ein langer Weg zwischen den beiden Frauen, denn Rosa zog zuerst nach Spanien, dann nach Bolivien und wieder zurück nach Spanien. Dennoch riss der Draht nie ab, erzählt Ileana Heer: "Zwischen uns gibt es eine Verbundenheit, die nicht endet, selbst wenn wir uns länger nicht sehen."

* Nachname der Redaktion bekannt

Befreit aus der Todeszelle

Wie ein Kind vor Weihnachten: So fühlte sich Charles Perroud in den Tagen, bevor er endlich Hamid Ghassemi-Shall persönlich treffen konnte. Hamid war eben erst nach Kanada zurückgekehrt. Davor hatte er fünf Jahre lang im berüchtigten Evin-Gefängnis in der iranischen Hauptstadt Teheran gesessen.

Der kanadisch-iranische Doppelbürger war im Mai 2008 festgenommen worden, als er seine Mutter im Iran besuchte. Auch sein ­älterer Bruder wurde verhaftet. In einem unfairen Verfahren verurteilte ein Gericht beide Männer wegen "Spionage" zum Tode. Hamids Bruder Alborz starb im Januar 2010 im Gefängnis. Die Todesursache ist unklar.

Antonella Mega, die in Kanada lebende Frau von Hamid Ghassemi-Shall, hörte eineinhalb Jahre lang nichts von ihrem Mann, der in Einzelhaft saß. Irgendwann erhielt sie die Nachricht von einer drohenden Hinrichtung. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich im Februar 2011 an Amnesty International Kanada. So lernte sie Charles Perroud kennen. Er war damals als Aktivismus-Koordinator angestellt, nebenbei war er auch als ehrenamtlicher Fachmann für das Thema Todesstrafe und für Aktionen zum Iran bei Amnesty tätig.

Zeichnung: Charles und Hamid aus Kanada, Charles organisierte Aktionen für Hamids Freilassung aus dem Evin-Gefängnis in Teheran

Zeichnung: Charles und Hamid aus Kanada, Charles organisierte Aktionen für Hamids Freilassung aus dem Evin-Gefängnis in Teheran

Charles Perroud organisierte diverse Aktionen zum Fall Ghassemi-Shall, eine davon in Montreals Innenstadt: Amnesty-Mitglieder bauten aus Holz eine Gefängniszelle nach, in der Charles Perroud 24 Stunden lang trotz kanadischen Winterwetters ausharrte. Die Aktionen zeigten Wirkung, die Medien und die Politik begannen sich schließlich für Hamid Ghassemi-Shall zu interessieren. "Ich habe mich schon für viele Gefangene eingesetzt, aber so berührt wie dieser hat mich kein Fall", sagt Charles Perroud.

Als schließlich 2013 die erlösende Nachricht von der Freilassung kam, übte er zuerst Zurückhaltung: "Ich wollte sicher sein, dass die Sache stimmt – schließlich wäre es nicht die erste Falschmeldung aus dem Iran." Aber doch, es war wahr, und Hamid Ghassemi-Shall kehrte am 10. Oktober 2013 nach Kanada zurück.

Drei Wochen später konnte Charles Perroud den Mann, für den er sich so intensiv eingesetzt hatte, endlich in die Arme schließen. Noch heute haben die beiden Kontakt. Da 600 Kilometer zwischen ihren Wohnorten Quebec und Toronto liegen, sehen sie sich nicht so oft, wie sie das gern hätten. Aber die Verbindung bleibt. Auch mit Antonella Mega ist Charles Perroud befreundet. Schließlich arbeiteten sie so lange Seite an Seite für Hamids Freilassung – eine prägende Erfahrung.

Die Hoffnung bleibt

Kevin Cooper wurde 1985 wegen vierfachen Mordes zum Tode verurteilt. Mehr als 30 Jahre später sitzt er immer noch in der Todeszelle im San-Quentin-Gefängnis in Kalifornien. Er hat stets betont, dass er unschuldig sei. Kate Orange ist Ärztin und langjährige Amnesty-Unterstützerin. Sie lebt in Upper Hutt in Neuseeland. Zwischen den beiden liegen mehr als 10.000 Kilometer. Dennoch unterhalten sie eine einmalige Freundschaft.

Zeichnung: Kevin und Kate aus Kalifornien, Kate schreibt Kevin regelmäßig Briefe ins San-Quentin-Gefängnis

Zeichnung: Kevin und Kate aus Kalifornien, Kate schreibt Kevin regelmäßig Briefe ins San-Quentin-Gefängnis

Kate Orange hörte erstmals von Kevin Cooper, als sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Kalifornien lebte. Das war 1992. Sie begann, ihm Briefe zu schreiben. Aus Briefen wurden Besuche. Kate Orange beschreibt Kevin Cooper als starke Persönlichkeit. Er lese und informiere sich über "die Welt draußen". Deshalb schickt die Ärztin dem Gefangenen regelmäßig Fotos. Er hat in seiner Zelle keinen Stuhl oder Schreibtisch. Wenn er schreibt, sitzt er auf einem Eimer.

Trotz zahlreicher Besuche im San-Quentin-Gefängnis kann sich Kate Orange nicht an die Umgebung gewöhnen, in der Kevin Cooper seine Tage verbringt: Mehr als 700 Männer leben in käfigähnlichen Zellen. "Es ist schwer zu beschreiben, was ich nach einem Gefängnisbesuch fühle", erzählt Kate Orange. "Ich bekomme meinen Pass zurück und man wünscht mir 'einen schönen Tag'. Ich bringe dann immer keine Antwort heraus und kann nur nicken."

Im Februar 2004 wurde Kevin Cooper beinahe hingerichtet. Nur vier Stunden vor der Hinrichtung wurde diese aufgeschoben. Kate Orange kann diesen Tag nicht vergessen: "Wie soll man verstehen, dass einem Freund ein Termin gesetzt wurde, an dem er sterben soll?" Heute haben Kate Orange und Kevin Cooper beide die Hoffnung, dass sein ­Todesurteil in eine Haftstrafe umgewandelt werden könnte.

"Als Kevin kurz vor der Hinrichtung stand, wollte er, dass seine Asche in Neuseeland verstreut wird, weil er auf meinen Fotos gesehen hat, wie es hier aussieht", sagt Kate Orange. "Zum Glück kam es nie so weit. Jetzt sprechen wir darüber, dass seine Asche nach Neuseeland geschickt wird, wenn er als alter Mann stirbt – hoffentlich in Freiheit."

Mehr Informationen auf savekevincooper.org

Dieser Artikel ist in der Dezember/Januar-Ausgabe 2016/2017 des Amnesty Journal erschienen

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