Amnesty Journal Deutschland 09. Oktober 2015

Reportage: Willkommen in Deutschland

Notaufnahmelager in einer Turnhalle der TU Chemnitz

Notaufnahmelager in einer Turnhalle der TU Chemnitz

Sie leben in Baumärkten, Turnhallen, Zelten oder sogar ­unter freiem Himmel: Trotz großer Anstrengungen sind die Behörden mit der Unterbringung der zum Teil traumatisierten Flüchtlinge oftmals überfordert. Derweil gehen die rassistischen Anschläge weiter.

Von Heike Kleffner

Eine Wiese, auf der sich an diesem letzten heißen Augustabend kleine Gruppen von jungen Männern, Frauen und Kindern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan niedergelassen haben. In einer der Gruppen sitzt Periwan* aus Syrien mit Kai und lernt Deutsch. Auf einer tragbaren weißen Tafel notiert der schlaksige 19-Jährige immer neue Sätze. Das achtjährige Mädchen, ihr Onkel Hozan Kadr und die anderen Flüchtlinge schreiben sorgfältig mit: "Wie geht es Dir? Mir geht es gut." Dann sprechen sie die Sätze nach und lachen. Kai sei "the best teacher of the world", ruft einer der jemenitischen Männer, der bis zu seiner Flucht selbst als Englischlehrer gearbeitet hat. Und Deutschland "the land of my dreams", das Land seiner Träume. Alle aus der Gruppe nicken – und dennoch: Diese Wiese, mitten in der 16.000-Einwohnergemeinde Heidenau, ist nicht nur Ort von ersten Begegnungen mit Anwohnern wie Kai. Der junge Deutschlehrer kennt viele, die nach Periwans Ankunft Ende August auf dieser Wiese standen und "Nein zum Heim" brüllten. Gerade deshalb setzt er sich für alle sichtbar mit den Flüchtlingen auf das heruntergetrampelte Gras. Die Grünfläche neben dem ehemaligen Baumarkt, in dem die zierliche Periwan, ihr Onkel und sechshundert weitere Flüchtlinge seit dem 23. August untergebracht sind, markiert aber auch eine unsichtbare Grenze: Wer die Schnellstraße zum gegenüberliegenden Einkaufszentrum überquert, muss damit rechnen, beleidigt, angespuckt und bedroht zu werden.

Seine Nichte habe sich auf ihrem Feldbett panisch an ihn geklammert, als sie am Abend ihrer Ankunft die "Ausländer Raus"-Parolen, Feuerwerkskörper, Steinwürfe, Sirenen und klirrende Flaschen hörten, berichtet Hozan Kadr. Er selbst habe sich in der stickigen Baumarkthalle wie im Gefängnis gefühlt – eingesperrt und unsicher. Die Tage des rassistischen Hasses und der zurückweichenden Polizisten, die Besuche von Vize-Kanzler Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel, das von "Dresden Nazifrei" organisierte und erst nach bundesweiten Protesten durchgesetzte "Willkommensfest" – diese erste Woche in Heidenau liegt jetzt hinter den unfreiwilligen Bewohnern des Baumarkts. Die Hälfte kommt aus Syrien, auch Afghanen bilden eine größere Gruppe. Ein Sechstel sind Kinder, die meisten zwischen sechs und zwölf Jahre alt.

Er sei Deutschland sehr dankbar, dass die Flucht ein Ende und er mit seiner Nichte endlich ein festes Dach über dem Kopf habe, sagt Hozan Kadr. Und dennoch: Die nahezu fensterlose Baumarkthalle, in der Plastikplanen die langen Reihen von Feldbetten unterteilen, die knapp bemessenen Sanitäreinrichtungen, die stickige Luft, ein ständiger Geräuschteppich wirkt auf viele entmutigend. Bislang haben alle aus Kais Deutschkurs lediglich eine kopiertes Papier, das sie als "registrierte Asylbewerber" ausweist und eine Plastikkarte für die Essensausgabe. Der Mangel an Privatsphäre, die Ungewissheit über das weitere Verfahren und die bislang fehlende medizinische Erstuntersuchung machen allen hier Sorgen: "Wenn es so weitergeht, werden wir alle krank. Entweder, weil es unter uns Menschen mit ansteckenden Krankheiten gibt, oder weil wir krank im Kopf werden", sagt Hozan Kadr.

"Wie geht es Dir?" Deutschunterricht auf der Wiese vor der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau

"Wie geht es Dir?" Deutschunterricht auf der Wiese vor der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau

Durch Europa gelaufen

Solange das Wetter noch gut ist, bleiben ihnen die Wiese und der angrenzende Parkplatz als Fußballplatz und Open-Air-Klassenzimmer. In Syrien lebte Periwan in einem kurdischen Dorf nahe der irakischen Grenze. Eine Schule hat sie nie besucht. Arabisch zu lesen und zu schreiben, hat die Achtjährige in einem Flüchtlingslager im Nordirak gelernt, in das sie mit ihrer Familie geflohen war, nachdem der "Islamische Staat" ihr Dorf angegriffen hatte. Hier traf sie auch Hozan Kadr wieder. Der 26-Jährige wollte eigentlich seine Radiologen-Ausbildung beenden. Stattdessen arbeitete er in einem medizinischen Team zur Unterstützung der kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den "Islamischen Staat" – bis er sich gemeinsam mit Periwans Familie zur Flucht nach Europa entschloss. An der Grenze zwischen dem Nordirak und der Türkei wurden Hozan Kadr und Periwan im Gedränge zwischen türkischen Soldaten und Hunderten Flüchtlingen von den Eltern des Mädchens getrennt. Seitdem, sagt Hozan Kadr, ist die Achtjährige "fast immer gelaufen".

Hozan Kadr und seine Nichte hoffen jetzt auf ein Lebenszeichen von den Eltern des Mädchens und darauf, dass Periwan in einer richtigen Schule Deutsch lernen kann. Wann dies der Fall sein wird, kann keiner der dreißig Helfer des Roten Kreuzes sagen, die die Flüchtlinge im Schichtbetrieb betreuen. Zwischen sechs Wochen und drei Monaten blieben die Flüchtlinge derzeit in den Notunterkünften, heißt es bei der für die Unterbringung zuständigen Landesdirektion Sachsen. Erst dann haben sie einen Anspruch auf mindestens sechs Quadratmeter pro Person, ein Mindestmaß an Privatsphäre. Erst dann dürfen Flüchtlingskinder in Sachsen zur Schule gehen. Auch verlässliche Prognosen über die Dauer der Asylverfahren kann derzeit niemand treffen. Die Dresdener Anwältin Kati Lang hat die Erfahrung gemacht, dass eine Verfahrensdauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr bei syrischen Flüchtlingen inzwischen normal geworden ist. "Das Nadelöhr" sei derzeit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das in ganz Sachsen lediglich über eine Außenstelle in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Chemnitz verfügt. Es ist sowohl für die Annahme der Asylanträge als auch für die Anhörung und die Entscheidung über die Anträge zuständig. Lediglich bei Asylsuchenden aus sogenannten "sicheren Herkunftsländern" gebe es sehr schnell negative Entscheidungen.

Seit den rassistischen Angriffen sind Polizeibeamte in Mannschaftswagen vor dem Baumarkt in Heidenau stationiert. Während Periwan und ihr Onkel von ihrer Flucht berichten, setzen die Polizisten plötzlich ihre Helme auf und rennen los. Wenig später berichtet ein Bekannter von Hozan Kadr, es hab eine Prügelei bei der Essensausgabe gegeben. Andreas Heinz, Amnesty-Mitglied und Leiter der Klinik für Psychologie und Psychiatrie an der Berliner Charité, kennt Berichte von Gewaltausbrüchen in Massenunterkünften: "Hier sind die Flüchtlinge einerseits in Sicherheit, andererseits verlieren sie plötzlich die Kontrolle über ihr Leben", sagt er. Depressionen und Rückzugstendenzen seien häufige Symptome. Wenn Menschen mit unterschiedlichsten Traumata und Gewalterfahrungen auf engstem Raum zusammenleben, steige der Stresspegel für alle enorm.

Zeltstädte, Turnhallen, Baumärkte

"Rein technisch gesprochen", sagt Kai Kranich, Pressesprecher des Roten Kreuzes Sachsen, "ist der Baumarkt in Heidenau eine bessere Lösung als die Unterbringung in Turnhallen oder in Zelten." Es gebe genügend Platz für die Essensausgabe, abtrennbare Bereiche, Stromanschlüsse und Heizmöglichkeiten müssten nicht extra installiert werden und der Boden werde bei Regen nicht zur Schlammwüste wie beispielsweise in den Notunterkünften in Chemnitz. "Von menschenwürdig sind wir noch weit entfernt", meint Kranich. "Wir wollen keine Zelte, aber die Alternative wäre derzeit vielerorts, dass Menschen auf der Straße schlafen müssten."

Hozan Kadr und Periwan überlegen, ob ein Ausflug nach Dresden eine "Pause vom Camp" bringen könnte. Doch der Fußweg bis zum Bahnhof, die Frage, ob sie unter der Residenzpflicht für Asylbewerber überhaupt den Landkreis verlassen dürfen und die Fahrtkosten – nach einer Flucht über Tausende Kilometer scheint Dresden plötzlich eine Weltreise von Heidenau entfernt. "Mein letztes Geld hat der Schlepper bekommen", erzählt Hozan Kadr. Das wöchentliche Taschengeld von 33 Euro, das alleinstehende Asylbewerber bekommen, gibt es in Sachsen erst nach der medizinischen Erstuntersuchung. "Und zu Fuß zu gehen, erscheint mir hier nicht sehr sicher."

Vier Brandanschläge und 49 Aufmärsche vor Flüchtlingsunterkünften, 61 Angriffe auf Flüchtlinge, die Hälfte davon Körperverletzungen, hat die Amadeu Antonio Stiftung in den ersten acht Monaten des Jahres allein in Sachsen registriert. In Heidenau und zwei weiteren Unterkünften wurden Security-Mitarbeiter entlassen, nachdem sie als Neonazis enttarnt wurden. Hinzu komme ein großes Dunkelfeld nicht angezeigter Bedrohungen und Gewalttaten, sagt Andrea Hübler von der Opferberatung der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie in Sachsen. Hübler erinnert daran, dass in Orten wie Freital oder Meißen den Brandanschlägen monatelange "Nein zum Heim"-Kampagnen vorausgegangen waren, denen Kommunen und Strafverfolgungsbehörden nicht entschieden genug entgegengetreten seien.

"Wenigstens ein Dach über dem Kopf". Erstaufnahmestelle des Landes Thüringen in Eisenberg

"Wenigstens ein Dach über dem Kopf". Erstaufnahmestelle des Landes Thüringen in Eisenberg

Reis und Fladenbrot

Fero, ein 19-jähriger kurdischer Medienaktivist aus Damaskus und die zehn Jahre älteren Hassan und Suleiman aus Bagdad, die seit zwei Wochen mit knapp 950 weiteren Geflüchteten in der "Dresdener Zeltstadt" leben, sind sichtlich glücklich, als ihnen im kleinen Garten des kurdischen Kulturvereins im Dresdener Stadtteil Pieschen ein Stuhl und ein Teller mit Reis, Fladenbrot und gekochten Rindfleisch angeboten wird.

So unterschiedlich wie ihre Fluchtgründe ist jetzt auch ihr Umgang mit dem Leben in den Zelten. Hassan, bis vor wenigen Wochen noch Leiter einer Bankfiliale, hat seine Flucht mit dem Smartphone so präzise dokumentiert wie vor ein paar Monaten noch die Kontobewegungen seiner Kunden und postet jetzt Fotos auf Facebook. Suleiman, der Lebensmittelingenieur aus Bagdad, der in einem der zahllosen illegalen Gefängnisse schiitischer Milizen interniert war und sah, wie seinem jüngeren Bruder glühende Zigaretten auf dem Hodensack ausgedrückt wurden, berichtet leise, wie ängstlich er war, als ihm deutsche Polizisten Plastikfesseln anlegten. Fero, der zu einem Kollektiv syrischer Aktivisten gehörte, die im Internet Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg dokumentieren, floh erst, als er an den "Islamischen Staat" verraten und seine Cousins bei einem IS-Massaker in Tal Abyad ermordet wurden. Er träumt von einem Journalistik-Studium in Deutschland – um dann irgendwann "in einem demokratischen Syrien" als Journalist arbeiten zu können. Einig sind sich die drei in ihrem Wunsch nach einer warmen Dusche. "Wir schämen uns, anderen zu nahe zu kommen, weil wir stinken", sagt Hassan. Die anderen beiden nicken und fügen hinzu, dass sie "auf gar keinen Fall" nach Heidenau oder in eine Turnhalle nach Chemnitz umverteilt werden wollen. Dort leben 250 Männer und drei Jungen. "Schau dir meinen Käfig an", meint ein Zwölfjähriger und zeigt auf übereinandergestapelte Feldbetten mitten in der Halle.

Angst vor dem Regen

Im knapp 180 Kilometer entfernten Eisenberg wartet Kers­tin Dämmrich, die kommissarische Leiterin der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Thüringen, auf Nachrichten über die zu diesem Zeitpunkt noch im Budapester Bahnhof festsitzenden Flüchtlinge. Sie bereitet sich darauf vor, den bevorstehenden Ausnahmezustand zu bewältigen. Für den Nachmittag sind ein Unwetter vorhergesagt. Die ehemalige Polizistin warnte schon vor zwei Jahren, dass die Flüchtlingszahlen steigen würden und es an Ressourcen mangele. Während die Neuankömmlinge vor der Pforte warten, versucht Dämmrich diejenigen, die auf dem Gelände nicht in Gebäuden oder Containern, sondern in Zelten untergebracht sind oder im Freien warten, nach Suhl zu bringen. Doch die Nachricht, dass sich in der dortigen Unterkunft mit über 1.200 Flüchtlingen eine Massenschlägerei ereignete, hatte sich schnell verbreitet. Es dauert, bis die Menschen überzeugt werden können, in die Busse einzusteigen, die sie in die voll belegte ehemalige Kaserne in Suhl bringen sollen. "Dabei haben sie dort wenigstens ein Dach über den Kopf", sagt Kerstin Dämmrich erschöpft.

Mehr als 150 Menschen kommen täglich in Eisenberg an – manche werden von Schleppern an der nahen A4 ausgesetzt und dann von der Polizei gebracht, andere kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder aus der Umverteilung zwischen den Bundesländern. Längst sind in Eisenberg die Grenzen der Unterbringungsmöglichkeiten erreicht. Kerstin Dämmrichs Traum: mindestens zehn weitere Vollzeit-Mitarbeiter – und mehr Anerkennung für ihr Team, dessen Überstunden sie schon gar nicht mehr zählen kann. Und Zeit, "um mal wieder mit den Menschen, die hier ankommen, zu sprechen".

Im Baumarkt von Heidenau warten die Flüchtlinge Mitte September immer noch auf die medizinische Erstuntersuchung. Hozan Kadr und Periwan träumen inzwischen von warmen Decken. Mit einer Menschenkette appellierten die Flüchtlinge öffentlich: "Wir frieren." Auf ein Schild hat ein syrischer Mann geschrieben: "We die slowly – wir sterben langsam." Einige Stunden später marschieren erneut 250 Leute mit "Nein zum Heim"-Parolen durch Heidenau.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Journalistin und betreut seit über zehn Jahren das Rechercheprojekt "Todesopfer rechte Gewalt seit 1990".

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