Amnesty Journal Nepal 31. März 2015

"Hundert Prozent Straffreiheit"

In Nepal sind die blutigen Kämpfe zwischen der Regierung und der maoistischen Guerilla längst beendet. Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam sind aber noch ­immer üblich. Ein Gespräch mit der Anwältin und ­Menschenrechtsaktivistin Mandira Sharma.

Amnesty International hat eine weltweite Kampagne gegen Folter gestartet. Wie ist die Situation in Nepal?

Folter ist in Nepal weit verbreitet. Unsere Untersuchungen von Haftzentren zeigen, dass etwa 20 Prozent der Gefangenen in Polizeigewahrsam Folter oder Misshandlungen ausgesetzt sind. Unser "Advocacy Forum" besucht regelmäßig mehr als 50 Haftzentren im ganzen Land, um die Behandlung von Häftlingen und Fälle von Folter zu dokumentieren. Obwohl unsere Untersuchungen auch zeigen, dass es einen stetigen Rückgang der Folter in den von uns besuchten Haftzentren gibt, ist sie noch immer ein wichtiges Menschenrechtsthema.

Hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert?

Die Foltersituation in Nepal hat sich gegenüber früher verbessert. Es gibt weniger Akteure. Zum Beispiel ist die nepalesische Armee nicht mehr dafür zuständig, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die bewaffnete Polizei hat ebenfalls andere Aufgaben und nimmt deshalb keine Zivilpersonen in Gewahrsam. Die Maoisten haben ihre Waffen übergeben und sind in ­einen friedlichen, demokratischen Prozess eingetreten. Die Art von Folter, die wir während des bewaffneten Konflikts beobachten konnten, gibt es nicht mehr. Dennoch ist die Anwendung von Folter in strafrechtlichen Verfahren immer noch ein Problem. Folter wird nach wie vor eingesetzt, um Geständnisse und Informationen zu erhalten.

Gibt es Gruppen, die besonders gefährdet sind, gefoltert zu werden?

Ja. Unsere Untersuchungen zeigen, dass arme und marginalisierte Menschen sowie Kinder besonders häufig von Folter und anderen Misshandlungen betroffen sind.

Welche Arten von Folter werden angewandt?

Die häufigste Foltermethode in polizeilichen Haftzentren ist das Schlagen auf die Fußsohlen. Inhaftierte berichten, dass die Folterer eine Eisenstange in ein Plastikrohr schieben und damit zuschlagen. Danach zwingen sie die Opfer zu springen – so sind äußerlich keine Verletzungen sichtbar, keine Schwellungen – aber es ist sehr schmerzhaft. Eine weitere Foltermethode zwingt Inhaftierte dazu, über einen gewissen Zeitraum in schmerzhaften Positionen zu verharren. Willkürliches Schlagen ist auch weit verbreitet. Außerdem wird Inhaftierten damit gedroht, man werde sie wegen schwerer Verbrechen anklagen, weiter ­foltern oder töten.

Gibt es ausreichend Gesetze, um Folter zu bestrafen und zu bekämpfen?

Nein. Obwohl Folter so weit verbreitet ist, ist sie bisher nicht strafbar. Daher herrscht in Nepal 100 Prozent Straffreiheit in Fällen von Folter. Nepal hat das UNO-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ratifiziert und versprochen, Folter unter Strafe zu stellen. Aber bis heute ist kein entsprechendes Gesetz verabschiedet worden. Wir haben zwar seit 1996 ein Folterentschädigungsgesetz. Es weist allerdings gravierende Mängel auf und wird internationalen Standards und Verpflichtungen nicht gerecht.

Was könnte noch getan werden, um Folter zu bekämpfen und die Opfer zu stärken?

Als erstes muss ein Gesetz verabschiedet werden, das Folter unter Strafe stellt und das Recht der Opfer auf Entschädigung anerkennt. Zweitens müssen die Haftzentren systematisch kontrolliert werden. Dafür muss Nepal das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ratifizieren und nationale Kontrollmechanismen entwickeln. Drittens müssen die strafrechtlichen Ermittlungen verbessert und gestärkt werden. Viertens müssen die Auswirkungen von Folter Teil der medizinischen und juristischen Ausbildung werden. Richter, Staatsanwälte und Polizisten müssen entsprechend weitergebildet werden.

Warum verläuft der Übergang zur Rechtsstaatlichkeit in Nepal so schleppend?

Der Hauptgrund liegt darin, dass die politischen Parteien und die Regierung eine Amnestie für jene Personen wollen, die während des Bürgerkriegs an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Opfer und Menschenrechtsverteidiger setzen sich jedoch gegen dieses Ansinnen der Regierung zur Wehr.

Fragen: Annemarie Willjes

Mandira Sharma
Die Rechtsanwältin Mandira Sharma ist eine führende Menschenrechtsaktivistin in Nepal und Preisträgerin des "Human Rights Defenders Award" der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Mandira Sharma hat die Organisation "Advocacy Forum" gegründet, in der Anwälte und Menschenrechtsverteidiger zusammenarbeiten, um Fälle von Menschenrechtsverletzungen, auch aus der Zeit des Bürgerkriegs, zu dokumentieren, die Rechte der Opfer zu stärken und auf eine Strafverfolgung der Täter hinzuwirken.

Zehn Jahre Bürgerkrieg
Während des bewaffneten Konflikts in Nepal zwischen 1996 und 2006 wurden mehr als 13.000 Menschen getötet. Beide Konfliktparteien, sowohl der nepalesische Staat als auch die Maoisten, die den sogenannten "Volkskrieg" ausgerufen hatten, begingen schwere Menschenrechts­verletzungen, darunter außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen, Entführungen, Folter und Vergewaltigungen. Noch heute ist das Schicksal von mehr als 1.300 Verschwundenen ungeklärt. Anfang Oktober 2012 forderte die UNO-Menschenrechtskommissarin eine Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen und verwies auf mindestens 9.000 Fälle, die nach internationalem Recht als schwere Menschenrechtsverbrechen zu betrachten sind. Bis heute musste sich kein Täter vor einem Strafgericht verantworten.

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