Amnesty Journal Kolumbien 03. Juni 2014

Kein Frieden ohne Wahrheit und Gerechtigkeit

Kolumbien steht vor entscheidenden Monaten: Seit über sechs Jahrzehnten tobt im Land ein bewaffneter Konflikt zwischen paramilitärischen Verbänden, Guerrilla-Gruppen, Polizei und Militär. Nach eineinhalb Jahren zäher Friedensgespräche in Havanna, Kuba, scheint sich inmitten von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eine Einigung zwischen Regierung und der größten Guerrilla-Gruppe FARC allmählich abzuzeichnen. Ein Friedensprozess mit internationalem Präzedenzcharakter wird wahrscheinlicher.

Von Matthias Schreiber

Juan Manuel Santos Calderón ist stinksauer. Kolumbiens Präsident hatte gerade grünes Licht vom Verfassungsgericht für ein Gesetz seines Kabinetts erhalten, das dem Parlament erlaubt, Gefängnisstrafen für Menschenrechtsverbrecher nach einem Friedensschluss mit den FARC komplett auszusetzen, da wurde bekannt, dass die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes, Fatou Bensouda, in einem Brief an die obersten Verfassungshüter just diese Klausel als Verstoß gegen internationales Recht kritisiert und indirekt mit einer Intervention Den Haags gedroht hatte. Im Radio polterte der sonst so besonnen auftretende Präsident, er verbitte sich eine Einmischung aus dem Ausland in den nationalen Friedensprozess, notfalls auch durch ein Machtwort des UN-Sicherheitsrates an das Weltstrafgericht, seinerseits qua Vertrag an die UN gebunden.

Das war im September 2013. Längst hat sich die Aufregung um den Brief aus Den Haag wieder gelegt. An Aktualität eingebüßt hat er nichts. Sollten FARC und Kolumbiens Regierung in diesen Monaten wirklich Frieden schließen, drängen grundsätzliche Fragen: Wie umfassend klären die Konfliktparteien ihre Verbrechen auf? Ziehen sie die Täter unter den Guerrillas und bei Polizei, Militär und Paramilitärs endlich für ihre Vergehen zur Rechenschaft? Schützt der Staat seine Bevölkerung künftig vor neuer Gewalt?

Die Skepsis der Chefanklägerin, dass es die Beteiligten im Konflikt bei dessen Lösung nicht allzu ernst meinen könnten mit den Rechten der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Nicht-Wiederholung erlittenen Unrechts, sie ist wohlbegründet. Erst Anfang Juni veröffentlichten FARC und Regierung gemeinsam zehn Prinzipien, auf die sie sich für den künftigen Umgang mit ihren Opfern verpflichten würden. Die Bestrafung von Verbrechern auf beiden Seiten gehört nicht dazu.

Wieder wirft die Vergangenheit ihre Schatten voraus: In einer 2003 begonnenen "Demobilisierung" legten schon einmal rund 32.000 Paramilitärs die Waffen nieder – so stellt es die Regierung heute dar. Dank des unter Expräsident Álvaro Uribe Vélez und seinem späteren Verteidigungsminister Santos 2005 in Kraft getretenen Gesetzes 975 für "Gerechtigkeit und Frieden" erwarteten sie im Gegenzug für vertiefte – zur späteren rechtlichen Verwertung nicht mehr zulässige – Geständnisse ihrer Verbrechen Sondergerichtsverfahren und Haftstrafen von höchstens acht Jahren, selbst bei schwersten Menschenrechtsverletzungen.

Das Ergebnis heute: 22 Paramilitärs wurden verurteilt. 1.700 haben sich überhaupt zu Straftaten bekannt. Nachfolgeorganisationen, geführt von früheren Kommandeuren meist mittleren Ranges, operieren seit 2007 im ganzen Land. Von ihren Vorläufern unterscheiden sie allenfalls neue Namen. Sie verfügen über tausende neue und alte Mitglieder, militärische Bewaffnung und feste Kommandostrukturen. Ihre Interessen verfolgen sie mit altbekannter Brutalität. Für die Regierung Santos sind diese "kriminellen Banden", so die offizielle Sprachregelung, dennoch kein Teil des Konflikts. Sie ordnet sie dem ganz "gewöhnlichen" organisierten Verbrechen zu. Da wundert, dass sie das Sonder-Amnestie-Gesetz 975 der vorgeblich längst demobilisierten Paramilitärs zuletzt trotzdem für Straftaten verlängerte, die bis Mitte 2012 von eben diesen, ihrer Ansicht nach nicht-paramilitärischen Paramilitärs begangen wurden.

Weit zurückhaltender waren die Behörden beim Aufklären von Verbrechen von Polizei und Militär: Rund 4.800 Fälle außergerichtlicher Hinrichtungen von Zivilisten liegen derzeit bei der Generalstaatsanwaltschaft. Verübt zumeist von Soldaten zwischen 2004 und 2008. Urteile wurden bisher in weniger als 300 Fällen gesprochen.

Gleichzeitig gab sich die Regierung alle Mühe, die Zuständigkeit von Militärgerichten, die eigentlich geringfügige Dienstvergehen von Soldaten sanktionieren sollen, per Gesetz immer weiter auf Fälle von Menschenrechtsverstößen auszudehnen. Nur das Verfassungsgericht verhinderte im Oktober 2013, dass ihre Vorlagen in Kraft traten – weil es Verfahrensfehler bei deren Verabschiedung im Parlament feststellte. Die Regierung kündigte bereits an, die Entwürfe erneut einzubringen.

In der Truppe selbst ist den Wenigsten an Aufklärung gelegen: Erst Mitte Februar feuerte Präsident Santos den Generalkommandeur der Streitkräfte. Er hatte in einem geleakten Telefonat zum Komplott gegen Staatsanwälte aufgerufen, die wegen zweifachen Mordes gegen einen Oberstleutnant ermittelten, der zudem, schon in Untersuchungshaft sitzend, noch für ein Dutzend Generäle die Veruntreuung von Millionensummen aus dem Militärhaushalt orchestrierte. Zuvor hatte die Zeitschrift Semana aufgedeckt, dass Abhörspezialisten des Militärs Abgesandte der Regierung bei den Friedensgesprächen auf Kuba bespitzelten, aber auch NGOs und Journalisten, die die Verhandlungen vor Ort verfolgen. Das Programm startete 2012, kaum ein Jahr nachdem der Inlandsgeheimdienst wegen zahlloser illegaler Überwachungsaktionen komplett aufgelöst worden war.

Immerhin, mit dem Amtsantritt von Präsident Santos 2010 beendete die Regierung ihr jahrelanges Leugnen der Existenz eines bewaffneten Konfliktes im Land. Sie hat ein Forschungszentrum eingerichtet, das diesen historisch aufarbeiten soll und damit auch von Staatsseite eine Erinnerungskultur für seine Opfer angestoßen. Und sie hat, wiewohl mit vielen Haken, mit dem seit 2012 gültigen "Opfer- und Landrückgabe-Gesetz" konkret Maßnahmen zu deren Entschädigung ergriffen.

Die Zivilbevölkerung besser schützen konnte sie nicht: Seit Jahren werden konstant über 15.000 Menschen jährlich ermordet und um die 250.000 von ihrem Land vertrieben. Diejenigen, die geraubtes Land zurückfordern, werden seit Beginn der staatlichen Restitutionsinitiative zunehmend bedroht: Kürzlich räumte die Regierung ein, dass trotz über 900 gerichtlich verfügten Rückgaben nur wenige Familien auf ihr Land zurückgekehrt sind. Über 1.000 Anträge auf Schutz von Menschen, die sich für Landrückgabe einsetzen, sind dagegen bei den Behörden eingegangen. Die NGO Forjando Futuros dokumentierte in solchen Fällen sogar 64 Morde seit 2008. Und die Justiz selbst untersucht die Ermordung von über 7.000 Vertriebenen.

Ob ein Friedensschluss von FARC und Regierung diese Menschenrechtskrise beendet? Bisher haben sich die Parteien in drei von sechs Punkten geeinigt. Was genau ihre Vereinbarungen über eine "umfassende Landreform", die Abkehr vom "illegalen Drogenhandel" und die "politische Teilhabe" künftiger Exguerrilleros vorsehen, bleibt bis zum Abschluss der Verhandlungen geheim. Die strittigsten Fragen wurden bisher vertagt, etwa wie Menschenrechtsverbrecher der Guerrilla bestraft werden. Oder ob ein landesweites Referendum über einen Friedensvertrag entscheidet, so der Wille der Regierung, oder er in eine neu auszuarbeitende Verfassung einfließt wie es die FARC fordern.

Gesichert ist zumindest vorerst der Fortgang der Verhandlungen: Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft am 25. Mai konnte Juan Manuel Santos sein Amt mit über der Hälfte aller Stimmen verteidigen. Doch die Gegner jeglicher Gespräche mit den Guerrilla-Gruppen sind im Aufwind : Anfang März ist ihr prominentester Vertreter, Expräsident Uribe, bereits bei den Parlamentswahlen als Anführer der zweitstärksten Partei in die Senats-Kammer eingezogen. Und der von ihm für seine Partei auserkorene Kandidat für das höchste Staatsamt, Óscar Iván Zuluaga Escobar, verpasste Amtsinhaber Santos mit seinem deutlichen Sieg im ersten Wahlgang einen empfindlichen Denkzettel – und überzeugte auch bei der zweiten Abstimmung noch beachtliche 45 Prozent der WählerInnen. In der Frage, wie Frieden geschaffen werden soll, ist Kolumbien so gespalten wie nie.

Aber: Frieden mit den FARC oder der kleineren Guerrilla-Gruppe ELN, mit der die Regierung ebenfalls Gespräche führen will, zerschlägt weder die paramilitärischen Verbände im Land. Noch entschärft sie den tieferliegenden gesellschaftlichen Sprengstoff, der seit jeher alle bewaffneten Gruppen nährt: die extreme soziale Ungleichheit; die kazikenhaften Herrschaftsverhältnisse und Klientelgeflechte in Politik, Verwaltung und Wirtschaft in einzelnen Regionen Kolumbiens; die Konflikte zwischen Landbewohnern, Regierung und nationalen wie internationalen Konzernen, wie die vielen rohstoffreichen, fruchtbaren und zentral gelegenen Ländereien Kolumbiens genutzt werden soll.

Ob das Land Frieden findet hängt vor allem von der Lösung dieser Zusammenhänge ab. Sie aufzudecken, dafür wäre eine umfassende Untersuchung aller Menschenrechtsverbrechen so wichtig.

Ende September 2013 erläuterte Präsident Santos der UN-Vollversammlung seine Vorstellungen einer Konfliktlösung: "Wir können nicht das Ziel haben, jedes einzelne Vergehen, das in über einem halben Jahrhundert von Gewalt begangen wurde, zu untersuchen. Und wir können nicht jeden Einzelnen der Verantwortlichen belangen". Die internationale Gemeinschaft und ihre Institutionen sollten respektieren wie Kolumbien seinen Friedensprozess gestaltet.

Angesichts hunderttausendfachen Mordes, Vertreibung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassens in mehr als 60 Jahren sind Gerichtssaal und Gefängnis schon aus praktischen Gründen nur bedingt als Ort und Instrument des Aufklärens und Strafens geeignet.

Gerichtliche Strafverfolgung auszusetzen, auch Straferlasse für Täter zu gewähren, darf deshalb im Einzelfall kein Tabu sein. Doch dies zu beschließen und wie Verbrechen stattdessen aufgeklärt, wie Täter alternativ bestraft werden, verlangt dann mehr denn je nach einer Entscheidung aller KolumbianerInnen und vor allem der Überlebenden, die Frieden letztlich tragen.

Das heißt auch: Sie dürfen nicht länger Zuschauer der Friedensgespräche bleiben. Den Unterhändlern per Internetforum, Konferenzen oder runde Tische Vorschläge für ein Abkommen machen, über ausgewählte Vertreter auf Kuba Forderungen an sie herantragen oder an der Wahlurne über einen Friedensvertrag abstimmen zu dürfen, ist der Teilhabe nicht genug. Sie sollten – ohne Rache – Frieden aktiv entwickeln können, im Aufklären der Verbrechen, deren Umstände und Hintergründe, im Hören der Opfer, im Strafen der Täter.

Mit Kolumbien stellt sich erstmals ein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes einem Friedensprozess. Wie es diesen rechtlich ausgestaltet, wird Präzedenzcharakter für kommende Fälle haben. Deshalb steht das Land unter besonderer Beobachtung aus Den Haag. Wie es den Konflikt außerhalb der Gerichte, gesamtgesellschaftlich aufarbeitet, damit kann Kolumbien jenseits dieser juristischen Dimension ebenfalls Maßstäbe setzen. Eine historische Chance, auf die die Haager Chefanklägerin mit ihren Briefen mittelbar vielleicht auch hinweisen wollte. Sollten sich FARC und Regierung am Ende einigen, es wäre zum Frieden nur der erste Schritt.

Der Autor ist Mitglied der Kolumbien-Koordinationsgruppe von Amnesty International

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