Amnesty Journal Ukraine 21. Mai 2014

Eine Entschuldigung ist nicht genug

In der Ukraine wurden bei den Protesten gegen Präsident Viktor Janukowitsch 100 Menschen getötet und 800 verletzt. In dem osteuropäischen Land gibt es eine langjährige Kultur der Straflosigkeit. Miss­handlungen und Übergriffe der Polizei werden zumeist nicht ­geahndet.

Von Jovanka Worner

Im Juli 2013 besuchte ich das Büro von Amnesty International in Kiew und traf mich mit Vertretern verschiedener NGOs. Dabei schlenderte ich auch über den Maidan – den zentralen Unabhängigkeitsplatz – und genoss das schöne Wetter. Kaum vorzustellen, dass es knapp ein halbes Jahr später auf diesem Platz und in anderen Städten der Ukraine zu Demonstrationen kommen sollte, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Auslöser war, dass die ukrainische Regierung im November 2013 die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgebrochen hatte. Bei den anschließenden Protesten wurden mehr als 100 Menschen getötet und 800 verletzt.

"Es fühlte sich an wie Krieg." So beschreibt Zoryan Kis von Amnesty Ukraine die Ereignisse auf dem Maidan am 19. Februar 2014: "Die Polizei hat scharfe Munition gegen die Protestierenden eingesetzt, neue russische Blendgranaten, Tränengas, Gummigeschosse, drei Wasserwerfer und zwei Truppentransporter." Amnesty hat seit Beginn der Proteste zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen die Sicherheitskräfte unverhältnismäßige Gewalt angewendet haben. Außerdem kam es zu unfairen Verfahren gegen Demonstranten. Personen, die Beschwerde gegen das Vorgehen der Behörden einlegten, wurden eingeschüchtert.

So wie im Fall von Iryna Rabchenyuk. Die 54-Jährige nahm am 1. Dezember 2013 in Kiew gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter an einer friedlichen Demonstration auf dem Maidan teil. Sie berichtete Amnesty später, die Luft sei voller Rauch gewesen, deshalb habe sie die Bereitschaftspolizei, die sich ihr näherte, nicht kommen sehen. Iryna Rabchenyuk hatte gerade ihrem Sohn aufgeholfen, der vor ihr gestolpert war, als sie sich umdrehte und einem Beamten der Bereitschaftspolizei gegenüberstand. Er schlug sie mit einem Schlagstock ins Gesicht, obwohl er sehen konnte, dass sie unbewaffnet war.

Durch den Schlag wurde Iryna Rabchenyuks Nase gebrochen und ihr rechtes Auge verletzt. Außerdem erlitt sie eine Schädelfraktur und eine Gehirnerschütterung. Gegenwärtig kann sie auf dem rechten Auge nicht sehen, und es ist möglich, dass sie ihre Sehfähigkeit nie wieder erlangt. Ihr Sohn und ihr Mann wurden von Beamten der Bereitschaftspolizei ebenfalls mit Schlagstöcken traktiert. Iryna Rabchenyuk reichte wegen ihrer Verletzungen bei der Kiewer Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Als ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft sie deswegen im Krankenhaus besuchte, fragte er lediglich, ob sie an der De­mons­tration in der Bankova-Straße teilgenommen habe, bei der es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen war.

Iryna Rabchenyuks Fall ist nur einer von vielen, die Amnesty im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten in der Ukraine dokumentiert hat. Bereits in den vergangenen Jahren gab es etliche Fälle von Misshandlungen und Folter durch die Polizei. In der Ukraine stellen Polizeigewalt, Folter und Straflosigkeit seit Jahren ein Problem dar, das in Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen Präsident Viktor Janukowitsch auf besonders drastische Weise zutage trat. Menschen werden oft willkürlich festgenommen, ohne Grund in Untersuchungshaft gehalten und schwer misshandelt und gefoltert. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Todesfälle in Haft, die zumeist nicht aufgeklärt wurden. Die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen werden nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen. Tausende Menschen werden jedes Jahr Opfer von gewalttätigen Übergriffen der Polizei und anderer Ordnungskräfte. Aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen erstatten die Opfer jedoch nur selten Anzeige. Und die Staatsanwaltschaft ist nicht in der Lage, entsprechende Vorwürfe unparteiisch zu untersuchen.

Im Sommer 2012, anlässlich der Fußball-EM in Polen und der Ukraine, unterzeichneten mehr als 25.000 Menschen die Amnesty-Petition "Rote Karte für Polizeigewalt", in der eine unabhängige Institution zur Untersuchung von Amtsmissbrauch durch die Polizei gefordert wurde. Eine solche Institution einzurichten, wäre nach der im November 2012 eingeführten Strafprozessordnung möglich. Bisher wurden jedoch noch keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen.

Anfang des Jahres lenkten Presseberichte über einen Maidan-Demonstranten, der von Sicherheitsbeamten ausgezogen, gedemütigt und geschlagen wurde, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf Folter und Misshandlung in der Ukraine. In einem ungewöhnlichen Schritt entschuldigte sich der damalige ukrainische Innenminister öffentlich bei dem Betroffenen – doch eine Entschuldigung allein ist nicht ausreichend.

Im Februar erklärte Valeriya Lutkovska, die Beauftragte des ukrainischen Parlaments für Menschenrechte, bei einer Veranstaltung in Berlin, dass die für den Vorfall Verantwortlichen identifiziert worden seien und zur Verantwortung gezogen würden. In der Zwischenzeit wurde Präsident Janukowitsch abgesetzt und eine Interimsregierung gewählt. Ende Mai 2014 sollen in der Ukraine vorgezogene Präsidentschaftswahlen stattfinden. Doch ganz unabhängig davon, wie sich die politische Lage entwickeln wird, fordert Amnesty, alle Todesfälle und Verletzungen, die durch ukrainische Sicherheitskräfte verursacht wurden, zügig und unabhängig zu untersuchen. Außerdem müssen die Verantwortlichen für die zahlreichen Übergriffe strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und die Kultur der Straflosigkeit bei Amtsmissbrauch beendet werden.

Die Autorin ist Sprecherin der Belarus/Ukraine-Ländergruppe der ­deutschen Amnesty-Sektion.

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