Amnesty Journal Ägypten 28. Mai 2013

Einladung zur Veränderung

Zwei Jahre nach Mubarak treiben ägyptische Aktivisten die Revolution voran – im öffentlichen wie im virtuellen Raum.

Von Anne Françoise Weber

Kunst ist die Grundlage der ägyptischen Revolution", sagt Mohamed Assem, "denn die Graffiti in den Straßen haben die Leute aufgeweckt." Der hagere 22-Jährige steht auf dem Abdin-Platz in Kairo und zeigt auf eine große Leinwand, die er mit anderen Mitgliedern der Kunstinitiative "El Fann Midan" (Kunst ist ein Platz) auf dem Boden ausgebreitet hat. "Nur mit solcher Kunst erreicht man die einfachen Leute auf der Straße", sagt der Jurastudent und macht auf eine Handvoll einfach gekleideter älterer Männer aufmerksam, die neugierig auf das Gemälde schaut. "Hätten wir das im Fernsehen gezeigt, hätten diese Männer sich das bestimmt nicht angeschaut."

Auf der rund zehn Meter langen Leinwand sind rechts zwei Polizisten zu sehen, die ihre Knüppel gegen die Demonstranten in der Mitte des Bildes erheben. Blau und gelb mit Schweinsköpfen haben Assem und die anderen die Staatsgewalt gemalt: "Damit zeigen wir, dass wir keine Angst vor ihnen haben", sagt Assem, der schon des Öfteren mit der Polizei aneinandergeriet. Denn er ist nicht nur Mitinitiator eines Straßenkunstfestivals und Geschäftsführer eines Kulturzentrums, sondern gehört auch zu den radikalen Ultra-Fans des Ahly-Fußballclubs. Schon 2007 hat sich diese Fangruppe zusammengefunden. "Wir haben gemerkt, dass die Regierung Fußball als Ablenkung einsetzt", erzählt Assem. "Also haben wir uns im Stadion zusammengesetzt und angefangen, zu diskutieren. Wir haben unterschiedliche Ansichten, aber wir sind alle für die Freiheit und wollen nicht mehr misshandelt und unterdrückt werden." Mittlerweile organisieren sich die Ahly-Ultras über eine geschlossene Facebook-Gruppe mit 4.000 Mitgliedern; bei Fußballspielen erkennen sie einander an eigenen T-Shirts.

Bei der Revolution auf dem Tahrir-Platz vor zwei Jahren war Assem wie viele Ahly-Ultras dabei – nur einen Tag verbrachte er mit einem verletzten Freund im Krankenhaus. In letzter Zeit allerdings ging Assem nicht mehr demonstrieren. Ihn beschäftigt momentan vor allem der Prozess über die Gewalttaten bei dem Fußballspiel in Port Said im Februar 2012. Damals wurden mehr als 70 Menschen getötet, die meisten Opfer waren Ahly-Fans, darunter ein Freund von Assem. Für ihn ist klar, dass das Massaker geplant war und man sich an den revolutionsfreundlichen Ahly-Fans rächen wollte. Das im Januar 2013 gefällte Urteil, bei dem 21 Todesurteile gegen Fans des gegnerischen Al-Masry-Clubs verhängt wurden, hält Assem für politisch gefärbt – ebenso wie die Gefängnisstrafen, die Anfang März unter anderem gegen zwei hohe Polizeibeamte verhängt wurden. Wie viele andere Ahly-Fans fordert er, dass die politisch Verantwortlichen im Innenministerium belangt werden.

Von der neuen Regierung ist Assem enttäuscht, und auch die bevorstehenden Wahlen sind für ihn kein Hoffnungsschimmer. Er findet alle Parteien nutzlos; die Abgeordneten verfolgen in seinen Augen nur persönliche Interessen. "Nur die einfachen Leute haben Respekt vor denen, die verletzt wurden, deren Blut vergossen wurde." Deswegen ist Assem bei der Initiative "El Fann Midan". Sie organisiert einmal im Monat eine Art Straßenkunstfestival auf dem Abdin-Platz, einen knappen Kilometer Luftlinie vom Tahrir-Platz entfernt. Dann kommen Theatermacher, Musiker, Künstler, Fotografen und Kunsthandwerker und präsentieren ihre Werke dem Publikum. "Im Grunde ist es das Konzept des Platzes aus den ersten Revolutionstagen", sagt Bahaa al-Khateeb, einer der Organisatoren, der neben Assem auf dem Abdin-Platz steht. "Da fand sich der Ingenieur neben dem Arzt und neben was weiß ich wem, und alle haben sich ausgetauscht und voneinander gelernt. Das wollen wir auf die Kunst übertragen."

Eigentlich ist also am ersten Samstag im Monat immer ein buntes Treiben auf dem Abdin-Platz. Doch im Februar ist alles anders – die anhaltenden Proteste haben die Organisatoren dazu bewogen, das Festival ausfallen zu lassen. Präsent sein wollten sie dennoch. Deswegen hatten sie unter dem Thema "Die Revolution geht weiter" junge Künstler eingeladen, in verschiedenen Workshops große Transparente zu gestalten, die auf dem Abdin-Platz aufgehängt werden sollten. Aber auch zu den Workshops kamen nicht viele. Nur Assem und sein Team stellten in Nachtarbeit ihr Gemälde fertig, das jetzt auf dem Boden des Platzes ausgerollt ist. Oben, im Hintergrund, sind die Pyramiden und ein paar andere ägyptische Sehenswürdigkeiten zu sehen – aber ziemlich verschwommen. "Man kann das Panorama nur schlecht erkennen, denn gerade weiß niemand, wie es um Ägypten steht", erklärt Assem. Eins weiß er aber: dass er weiter für Freiheit kämpfen will – denn seine Freunde seien ­dafür gestorben.

"Participate in the change"
Nein, auf den Tahrir-Platz geht Mona Shahien zurzeit lieber nicht allein. Seit sie dort von einem Unbekannten angesprochen wurde, der behauptete, sie zu kennen, fühlt sich die 27-Jährige bedroht. Dabei liegt das Symbol der ägyptischen Revolution gleich um die Ecke von ihrem Büro in der Tahrir-Lounge, einem kurz nach Mubaraks Sturz gegründeten Begegnungszentrum im Untergeschoss des Kairoer Goethe-Instituts. Wenn Mona Shahien von den Anfängen des Projekts erzählt, strahlt sie über das ganze Gesicht: "Ich hatte wirklich Glück. Wer bekommt schon die Gelegenheit, so etwas aufzuziehen?"

Eine Begegnung mit dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle und die Unterstützung der deutschen Botschaft, mit der Shahien schon früher zusammengearbeitet hatte, verhalfen dazu, dass die Tahrir-Lounge im April 2011 die Arbeit aufnehmen konnte. Seither laufen hier Ausstellungen, Diskussionen und Workshops zu Themen wie journalistische Berufsethik oder Kampagnenorganisation, gedacht für Menschen zwischen 16 und 36.

Die gelernte Kommunikationswissenschaftlerin streckt vier Finger in die Höhe: "Wir haben von Anfang an auf dem Tahrir-Platz gerufen: Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde." An den Forderungen hat sich bis heute nichts geändert. An der Regierung schon – glücklich ist Mona Shahien mit dem aktuellen Präsidenten Mohammed Mursi aber nicht. "Als im vergangenen Dezember Protestierende vor dem Präsidentenpalast angegriffen wurden, war ich wirklich schockiert." Doch auch an der Opposition hat Mona Shahien Kritik, weil sie sich zersplittert, anstatt gemeinsam eine starke Kraft zu bilden. Mit der Tahrir-Lounge will sie sich aber nicht auf eine Seite schlagen: "Wir wollen neutral sein. Wir heißen hier alle willkommen, denn wir wollen eine Brücke schlagen zwischen Regierungsanhängern und -gegnern." Der Mitgründerin der Revolutionären Jugendunion geht es vor allem darum, dass sich junge Menschen engagieren, getreu dem Motto der Tahrir-Lounge: "Participate in the change" – Mach mit bei der Veränderung!

In den vergangenen Monaten musste die Tahrir-Lounge allerdings immer wieder Veranstaltungen absagen – zu heftig waren die Auseinandersetzungen auf dem benachbarten Tahrir-Platz. Als noch der Militärrat regierte, bevor Mohammed Mursi das Präsidentenamt übernahm, wurde bisweilen auch Druck ausgeübt, dieses oder jenes Thema besser nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Doch irgendwie haben Mona Shahien und ihr Team immer weiter gemacht, manchmal eben mit Themen, die etwas weiter von der Revolution entfernt sind, aber trotzdem mit der Zukunft Ägyptens zu tun haben – Wasserverbrauch zum Beispiel. Manches ist aber auch ganz nah dran an der großen Politik: Für die kommenden Wahlen sollen in der Tahrir-Lounge Beobachter ausgebildet werden.

Netizens und Citizens
Ahmed Zidan scheint der Inbegriff eines "Netizen" zu sein: ­eines Menschen, der sein bürgerliches Engagement über das Internet und soziale Netzwerke verwirklicht. Auf seiner Visitenkarte steht nicht nur "Redakteur bei 'Mideast Youth'", einer Internetplattform für Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte, auch seine Facebook- und seine LinkedIn-Seite sind angegeben, ebenso wie sein Twitter- und sein Skype-Name. Grinsend sagt der 25-Jährige: "Ich gehöre tatsächlich zu denen, die erst am 28. Januar 2011, drei Tage nach dem Beginn der großen Demonstrationen, auf den Tahrir-Platz gegangen sind – da hat nämlich das Regime Internet und Mobiltelefone abgeschaltet. Das hat sich gegen sie gewendet."

Ahmed Zidan ist zwar vorsichtig damit, die Ereignisse vor zwei Jahren als Facebook-Revolution zu bezeichnen, aber er ist sich sicher, dass Facebook die Revolution von den Straßen Südtunesiens bis nach Ägypten, Syrien, Bahrein und Jemen getragen hat. "Die 'Netizens' haben zur Revolution aufgerufen, und die 'Citizens', die Bürger, haben sich eingereiht", so beschreibt er die Entstehung der großen Proteste.

"Es ist sehr naiv, zu glauben, die Revolution sei nur in 18 Tagen passiert. Die Empörung der Menschen hat sich gesteigert, erst gegen Mubarak, dann gegen das Militär und jetzt gegen Präsident Mursi und die Muslimbruderschaft." Der Journalist verweist darauf, dass in vielen Ländern nach Revolutionen erst einmal repressive Organisationen ans Ruder kamen, weil diese am besten organisiert waren. Damit sei aber noch nicht das Ende der Revolution gekommen.

Für Zidan haben das Internet und die sozialen Netzwerke ein großes Veränderungspotenzial: "Die Internetpreise sind jetzt so niedrig, Smartphones so verbreitet und die neue Technik gerade von Tablets so einfach, dass das die Leute langfristig verändern wird – auch die, die nicht lesen und schreiben können. Und man interessiert sich heute einfach dafür, was hier und woanders passiert."

Dafür ist auch die Internetplattform "Mideastyouth" ein gutes Beispiel, die 2006 von dem bahreinischen Blogger Esra’a El Shafei gegründet wurde. Mittlerweile beteiligen sich mehr als 700 Blogger zwischen Afghanistan und der Westsahara an der Plattform, die zurzeit zehn verschiedene Projekte betreibt. Darin geht es um die Rechte von Kurden oder Bahai, um die Förderung von jungen Künstlern oder um Citizenjournalismus. Bei einem der Projekte, "Crowdvoices", können Bürger Bilder oder Filme hochladen oder anderes Material prüfen, indem sie nach ähnlichen Bildern suchen. "Wir haben Material über Demonstrationen und Polizeiübergriffe aus der ganzen Welt", erzählt Ahmed Zidan stolz.

Er selbst hat im April 2011 auf der Internetplattform das Projekt "Ahwaa" mitbegründet, ein Forum über Homo-, Bi- und Transsexualität – auch und gerade für heterosexuelle Menschen, betont Ahmed. "Ich glaube, eine Debatte über solche Themen ist ganz entscheidend. Es ist wichtig, dass Leute damit konfrontiert werden und sich Gedanken über Diversität machen." Über die Entscheidung eines ägyptischen Gerichts, YouTube wegen des islamfeindlichen Mohammed-Videos einen Monat lang zu blockieren, kann er nur den Kopf schütteln. Er sieht die Meinungsfreiheit in Ägypten immer stärker in Gefahr – und damit noch viel Arbeit für Projekte wie "Mideastyouth".

Ahmed Zidan allerdings hat seinen Chefredakteursposten erst einmal abgegeben, auch die Visitenkarte mit all den Internetadressen braucht er jetzt nicht mehr. In wenigen Tagen wird er in die USA ziehen, wo er ein Stellenangebot als Online-Redakteur bekommen hat, das er einfach nicht ablehnen konnte. "Ich möchte selbst in besseren Bedingungen leben, ein gutes Gehalt, frische Luft und frisches Wasser haben. Hier habe ich mir meine Freiheiten erschlichen, aber ich hoffe, dass ich das dort nicht mehr muss." Gibt er damit sein Engagement für die ägyptische Revolution auf? Nein, beteuert er, "ich werde von dort aus weiterhelfen".

Sexuelle Übergriffe
Mitten in einer Demonstration für Frauenrechte, die zum Tahrir-Platz führt, schaut Salma El Tarzi angespannt auf das Display ihres Mobiltelefons. Hektisch sucht sie eine Nummer heraus, macht einen Anruf, noch einen, wartet dann auf einen Rückruf. Sie hat eine Meldung über einen neuen sexuellen Übergriff erhalten, und während sie an der Demonstration teilnimmt, versucht sie zusammen mit anderen aus dem Team der "OpAntiSH" (Operation gegen sexuelle Übergriffe) der Betroffenen zu helfen. Später stellt sich heraus, dass es ein Missverständnis war – doch wurden Anfang 2013 zahlreiche Fälle von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen bei Großdemonstrationen bekannt, auch Amnesty International hat Fälle dokumentiert.
Am schlimmsten war es am zweiten Jahrestag der Revolution am 25. Januar 2013. Als Salma und andere von OpAntiSH ­bedrängten Frauen zu Hilfe eilen wollten, wurden sie selbst von einem männlichen Mob angegriffen und misshandelt. "Aber obwohl ich mich physisch unterlegen fühlte, wusste ich immer, dass ich stärker bin als diese Männer. Wenn sie mich derart angreifen müssen, dann heißt das, dass ich eine Bedrohung für sie bin", sagt die Filmemacherin.

Salma El Tarzi nimmt wie viele andere an, dass die sexuellen Angriffe auf Demonstrantinnen in den vergangenen Monaten gesteuert waren, um Frauen vom Demonstrieren abzubringen. Zumal auch schon früher Fälle bekannt wurden, in denen Frauen angegriffen oder vergewaltigt wurden, um sie politisch einzuschüchtern. "Das Schlimme ist: Wer auch immer das tut, er weiß, dass er nur zweihundert Männer dazu anstiften muss und zweitausend mitmachen werden – denn wir haben einfach ein enormes gesellschaftliches Problem hier." Die 35-Jährige sieht den Sexismus tief in der ägyptischen Gesellschaft verwurzelt. Sie will auch die Revolutionäre davon nicht ausnehmen, obwohl es in den ersten Tagen der Revolution auf dem Tahrir-Platz ihres Wissens nach keinen einzigen sexuellen Übergriff gab: "Das war einfach eine ganz besondere Stimmung, alle haben sich anders verhalten als sonst." Sie war mit dabei und hat auch auf dem Platz übernachtet. Vom Dach ihres nahe gelegenen Hauses konnte sie einmal Soldaten filmen, die von einem gegenüberliegenden Gebäude auf Demonstranten schossen. Seither ist Salma El Tarzi immer wieder zum Protestieren auf die Straße gegangen – Gründe gab es genug.

Im November 2012 zählte sie zu den Mitgründerinnen der OpAntiSH, einer Koalition von Einzelpersonen und Initiativen, die gegen sexuelle Angriffe bei Großdemonstrationen vorgehen und zugleich Aufklärungsarbeit leisten wollen. Für Salma El Tarzi ist es völlig inakzeptabel, dass von Seiten der Opposition nicht mehr Unterstützung in diesen Fragen kommt. "Wenn Leute, die sich selbst für Revolutionäre halten, nicht für die Gleichheit von Männern und Frauen eintreten, was können sie dann von der Gesamtgesellschaft erwarten?" Eine riesige Aufklärungsarbeit sei noch nötig, sagt El Tarzi.

Aber manchmal ist es ihr doch zu viel, für die nächste Demonstration schon wieder ihr weißes OpAntiSH-T-Shirt mit der roten Aufschrift "Ein sicherer Platz für alle – gegen sexuelle Belästigung" anzuziehen und loszugehen, um Frauen zu schützen und Demonstranten über das Problem aufzuklären. Ob sie Hoffnung hat, dass die Ziele der Revolution irgendwann umgesetzt werden? "Das ist keine Frage der Hoffnung", sagt sie und schaut kämpferisch. "Wir haben einfach keine Alternative, wir müssen weitermachen. Sonst kann ich nur dasitzen und darauf warten, dass sie mich in meinem Haus einschließen. Und das werde ich nicht tun."

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Kairo.

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