Amnesty Journal 25. Januar 2012

Übergang ins Nirgendwo

Demonstration gegen die Regierung Orbán in Budapest, 2. Januar 2012.

Demonstration gegen die Regierung Orbán in Budapest, 2. Januar 2012.

Vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise eskaliert in Osteuropa
die rassistische Gewalt. Der Hass gegen Minderheiten wird von breiten Teilen
der Bevölkerung getragen und oftmals, wie in Ungarn, sogar durch Politiker
legitimiert.

Von Keno Verseck

In Bulgarien demonstrierten im vergangenen Herbst Tausende Menschen landesweit gegen Roma, viele beteiligten sich an gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Minderheit. Ungefähr zur selben Zeit marschierten in einem nordtschechischen Grenzort wochenlang Neonazis gegen Roma auf, aus Sachsen und Thüringen reisten Gesinnungsgenossen an. Derweil wurden in manchen Orten in der Slowakei und Rumänien Mauern um Roma-Wohnviertel gebaut. Und in Ungarn zogen, wie seit langem üblich, uniformierte rechtsextreme Privatmilizen durch Dörfer und Siedlungen, in denen Roma leben, und versuchten durch ihr martialisches Auftreten, Angst und Schrecken zu verbreiten.

Es sind Ereignisse, wie sie in ähnlicher Form zuletzt vor zwei Jahrzehnten stattgefunden haben – in den ersten, chaotischen Jahren nach dem Sturz der kommunistischen Diktaturen in osteuropäischen Ländern. Damals ging eine Welle antiziganistischer Gewalt durch Osteuropa. Es kam zu Fällen brutalster Selbstjustiz wie im September 1993 in dem siebenbürgischen Dorf Hadareni, als in Anwesenheit von Polizisten drei Roma gelyncht wurden.

Nun also wieder. Gewalt gegen Roma in Osteuropa ist in den vergangenen Jahren erneut zu einem flächendeckenden Phänomen geworden. Die massiven Ausschreitungen vom letzten Herbst waren dabei nur der bisherige Höhepunkt.
In nahezu allen osteuropäischen Ländern herrscht heute ein öffentliches Hassklima gegen Roma, Antiziganismus ist unter großen Teilen der Bevölkerung Konsens, legitimiert von Politikern und Machthabern.

So erklärte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán die Gewalt gegen Roma mit deren mangelndem Integrationswillen und der rumänische Staatschef Traian Basescu beschimpfte eine Journalistin als "dreckige Zigeunerin". Behörden gehen bei Ausschreitungen gegen Roma nur zögerlich vor, gegen rassistische Straftäter wird nur schlampig ermittelt.

Die Situation erscheint Beobachtern wie dem ungarischen Roma-Aktivisten und Bürgerrechtler Aladár Horváth als so bedrohlich, dass er, der sonst eigentlich kein Freund alarmistischer Diagnosen ist, von den Roma als "schutzloser Minderheit" spricht – Bürger, um die sich der Staat praktisch kaum noch kümmert und die er, wenn überhaupt, nur notdürftig schützt.

Das ist eine düstere Diagnose. Immerhin existieren in ost­europäischen Ländern seit zwei Jahrzehnten freiheitliche, demokratische Staatsordnungen. Doch das hat das Bewusstsein der herrschenden Eliten wie auch der einzelnen Gesellschaften womöglich weniger geprägt, als es bisher den Anschein hatte.

Tatsächlich finden die antiziganistischen Ausschreitungen vor dem Hintergrund tiefer, seit langem anhaltender Krisen in diesen Ländern statt. Nach einer kurzen Euphorie über den Fall der Diktaturen erlebten die allermeisten Menschen in Osteuropa den Systemwandel als nicht enden wollenden Übergangsprozess mit immer neuen Beschwernissen.

Ganze Volkswirtschaften brachen zusammen, Millionen wurden arbeitslos, während sich eine kleine, alt-neue Elite durch einen betrügerischen Privatisierungsprozess am ehemaligen Volkseigentum bereicherte. Reformen wurden immer wieder begonnen und nicht zu Ende geführt und mancherorts rückten Bürgerkriegsszenarien wie in Ex-Jugoslawien in greifbare Nähe. Länder wie die Slowakei oder Rumänien verloren sich während eines ganzen Jahrzehnts in solchen Wirren.

Der Übergangsprozess war noch nicht ansatzweise abgeschlossen, als die Wirtschaften der Region bereits mit der Globalisierung und später der EU-Osterweiterung konfrontiert wurden. Letztere war ein nachhaltiger ökonomischer Schock, da sich nur wenige Volkswirtschaften und Unternehmen gut auf den EU-Beitritt vorbereitet hatten. Die Hoffnungen einiger osteuropäischer Länder in den Jahren 2004 bis 2007, zum Beispiel Rumäniens, im Zuge eines Banken- und Immobilienbooms in ihren Ländern zu "Tigerstaaten" der Region zu werden, zerschlugen sich mit der weltweiten Finanzkrise wieder.

Die allermeisten Menschen in Osteuropa hat die Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte zutiefst zermürbt. Noch bevor stabile Wirtschaften und gefestigte Demokratien mit gut und berechenbar funktionierenden Institutionen entstanden sind, hat sich Demokratiemüdigkeit stark ausgebreitet, sinkt die Wahlbeteiligung. Der Frust über das einstmals vergötterte Westeuropa, über die Europäische Union, wird größer. Meinungsumfragen zeigen, dass Xenophobie, Chauvinismus, Antisemitismus und Antiziganismus zunehmen.

Besonders die Roma eignen sich hervorragend als Sündenböcke. Der größte Teil von ihnen lebt abgeschottet und völlig verelendet in ghettoartigen Siedlungen. Viele sind Analphabeten, die meisten arbeitslos, ihr Lebensunterhalt besteht häufig nur aus Sozialhilfe und Kindergeld. Sie haben keine Lobby und sind politisch kaum organisiert. Für die komplexen Fehlentwicklungen in postkommunistischen Gesellschaften bieten sich die Roma als einfache Erklärung der Misere an.

Der ungarische Philosoph, frühere Bürgerrechtler und heutige neomarxistische Analytiker Gáspár Miklós Tamás spricht in diesem Zusammenhang von einer rechtsextremen Erhebung des Mittelstands in Osteuropa, deren Ursache die Statuspanik sei. "Es gibt in den osteuropäischen Gesellschaften einen staatsabhängigen Mittelstand, dessen Lage sehr unsicher ist und der deshalb immer tiefer in eine rechte Hysterie verfällt." Es gehe darum, wer die knappen staatlichen Gelder bekomme, so Tamás. Im Ressourcenkampf kriminalisiere der Mittelstand seine Konkurrenten.

Wie sehr Antiziganismus eskalieren kann und wohin die Entwicklung in der gesamten Region führen könnte, zeigt Ungarn. Nach den Wendejahren 1989/90 war es das Musterreformland in Osteuropa und bevorzugtes Ziel westlicher Investoren. Ungarn schaffte den Übergang zur Demokratie am reibungslosesten, den Wandel zur Marktwirtschaft am schnellsten – so schien es anfangs. Doch ab Mitte der neunziger Jahre scheiterten mehrere Anläufe zur Sanierung der Staatsfinanzen, die umfangreiche Sparmaßnahmen und Entlassungen in Verwaltung und öffentlichem Dienst mit sich gebracht hätten.

Nach acht Jahren einer sozialistisch-liberalen Koalitionsregierung, die von politischer Instabilität, Misswirtschaft und Korruption geprägt war, gewannen die nationalkonservativen Jungdemokraten (Fidesz) im April 2010 mit einem stark populistisch-nationalistisch gefärbten Wahlkampf eine Zweidrittel­mehrheit im ungarischen Parlament. Seitdem baut Partei- und Regierungschef Viktor Orbán Ungarn im Interesse einer langjährigen Machtsicherung radikal um. Viele Beobachter sehen diktatorische Verhältnisse heraufziehen. "Das Orbán-Regime hat die institutionelle Ordnung der Gewaltenteilung im Eiltempo aufgelöst", sagt József Debreczeni, der prominenteste Publizist des Landes, "in Ungarn wurde eine Willkürherrschaft errichtet".

Die öffentliche Stimmung hingegen prägen nicht Orbán und seine Jungdemokraten, sondern die Rechtsextremen der Jobbik-Partei (Die Besseren). Sie erlebte in den vergangenen Jahren einen spektakulären Aufstieg zur inzwischen zweitstärksten politischen Kraft des Landes.

Bei den Wahlen 2010 erhielt Jobbik auf Anhieb fast 17 Prozent. Eine der Parolen, mit denen die "Besseren" es so weit brachten, lautete: "Kampf gegen Zigeunerkriminalität". Angeblich, so die Jobbik-Ideologie, würden viele der etwa 700.000 Roma in Ungarn ihren Lebensunterhalt durch Straftaten wie Nahrungsmittel- und Metalldiebstahl oder Zinswucherei bestreiten.

Zwar sind ethnische Kriminalitätsstatistiken in Ungarn verboten. Dennoch ist es der Jobbik-Partei gelungen, den Begriff "Zigeunerkriminalität" im öffentlichen Bewusstsein fest zu verankern. Das Thema stand auch ganz am Anfang des spektakulären Aufstiegs der Partei – sie schlug dabei Kapital aus einem furchtbaren Verbrechen: Im Herbst 2006 wurde ein Lehrer aus der ostungarischen Stadt Tiszavasvári im nahegelegenen Dorf Olaszliszka von einer Gruppe Roma zu Tode geprügelt, nachdem er ein Roma-Mädchen angefahren hatte. Die Familie glaubte, ihre Tochter sei tot – in Wirklichkeit war sie kaum verletzt und hatte sich nach dem Unfall nur versteckt. Der Mann wurde vor den Augen seiner beiden minderjährigen Töchter von dem Mob gelyncht.

Der Mord erschütterte die ungarische Gesellschaft und führte zu einem radikalen Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Die 700.000 Roma, eine sehr heterogene Minderheit, wurden als Ganzes für verantwortlich und mitschuldig erklärt, rechtsextreme Gruppierungen erlebten einen rapiden Zulauf, darunter vor allem die Jobbik-Partei. Im August 2007 gründete die Jobbik-Parteiführung die "Ungarische Garde", eine SA-ähnliche, paramilitärische Privatmiliz, deren schwarz uniformierte Mitglieder es sich zur Aufgabe machten, im Gleichschritt durch Roma-Siedlungen oder von Roma bewohnte Stadtviertel zu ziehen. Vielerorts wurden die Gardisten wie Retter gefeiert.

Doch es blieb nicht nur bei psychologischem Terror: In den Jahren 2008 und 2009 verübten rechtsterroristische Attentäter eine grausame Anschlags- und Mordserie. Unter anderem erschossen sie im Dorf Tatárszentgyörgy einen Vater und seinen fünfjährigen Sohn, die aus den Flammen eines zuvor in Brand gesetzten Hauses flüchteten. Die Mutter und eine Tochter wurden schwer verletzt. Die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft reagierte gleichgültig auf diese Verbrechen.

Roma sind freilich nur die am meisten betroffenen Opfer von rechtsextremer Stimmungsmache und Terror in Ungarn. Längst sind sie nicht die einzigen. Seit Jahren beispielsweise hetzen die Jobbik-Partei und andere rechtsextreme Gruppierungen gegen Homosexuelle. Mehrmals wurden Teilnehmer von Gay-Pride-Paraden gewaltsam attackiert, rechtsextreme Internetseiten veröffentlichen unter dem Stichwort "Genetischer Müll" Adressen und Telefonnummern prominenter Homosexueller. Im ungarischen Parlament blasen rechtsextreme Abgeordnete zur Hatz gegen Róbert Alföldi, den Direktor des Ungarischen Nationaltheaters. Mal nennen sie ihn "Schwuchtel Alföldi", mal "Róberta". Kollegen anderer Parteien lachen meist verschämt mit.

Auch Hetze gegen Juden findet immer offener statt. Seit ­Ungarn immer mehr unter seinen Schuldenproblemen leidet, hat die Jobbik-Partei die "Versklavung der ungarischen Nation durch das internationale Finanzkapital" als Thema entdeckt. "Die Panzer sind abgezogen, die Banken gekommen", lautet die Parole, und gemeint ist, dass Ungarn statt von den Russen nun vom "Judenkapital" beherrscht wird.

Umfragen der vergangenen Jahre zeigen, wie sehr sich das Hassklima in Ungarn ausgebreitet hat. So sind nach einer Ende 2011 veröffentlichten Untersuchung des Tárki-Institutes 63 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass der Hang zur Kriminalität bei den Roma genetisch bestimmt sei. Selbst unter den Wählern der liberal-grün-alternativen Partei "Politik kann anders sein" (LMP) glauben dies noch 49 Prozent, bei den Sozialisten sind es über 60 Prozent. Zu den am meisten verhassten "Fremden" zählen neben Roma Araber, Rumänen, Afrikaner, Chinesen – und die "Pyresen", eine fiktive, extra für die Tárki-Umfrage erfundene Volksgruppe.

Die Ausbreitung von antihumanistischem Gedankengut ist freilich nichts, was in Europa nur auf seine östlichen Regionen beschränkt wäre. In Deutschland etwa konstatieren Soziologen, dass eine mit Fremdenfeindlichkeit und antisozialem Denken gepaarte Statusangst in breiten Teilen der Mittelklasse seit einigen Jahren stark zugenommen hat. In Italien kam es Ende 2007 zu schweren Ausschreitungen gegen rumänische Roma, nachdem ein Rom eine Italienerin vergewaltigt hatte und diese an den Folgen der Tat verstorben war. Im August 2010 ließ Frankreich auf Initiative seines Präsidenten Nicolas Sarkozy massenhaft rumänische Roma abschieben, flankiert von einer populistisch-rassistischen Kampagne.

Spezifisch für Osteuropa dürfte jedoch eines sein: die praktisch inexistente Empathie osteuropäischer Eliten für die Opfer rassistischer Gewalttaten, für die Verlierer der postkommunistischen Entwicklung, darunter vor allem für die Roma. Nirgendwo in Osteuropa gibt es einen "Aufstand der Anständigen", kein Politiker versucht ihn auszurufen. "Entsetzlich traurig" findet das die Budapester Roma-Aktivistin und Rechtsanwältin Tímea Borovszky, wenn sie beispielsweise an die Opfer der terroristischen Mordserie in Ungarn denkt. "Die politischen Eliten in der Region müssten sich ganz entschieden von rassistischer Gewalt abgrenzen", sagt Borovszky. "Doch das geschieht nicht. Und das ist schlimmer als die Gewalt an sich."

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

Weitere Artikel