Amnesty Journal China 22. Januar 2013

Erinnerungsarbeit

Die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens ("Tiananmen") in Peking am 4. Juni 1989 ist ein absolutes Tabuthema in China. Der mittlerweile in Berlin im Exil lebende Schriftsteller Liao Yiwu hat Überlebende des Massakers interviewt. Sein neues Buch "Die Kugel und das Opium" dokumentiert die verdrängte Geschichte.

Von Wera Reusch

Die Zeit ist vergangen, aber sie ist zu einem Stein geronnen, einem Stein, der in der Hand brennt", sagt der Maler Wu Wenjian. "Ich male nur Panzer, die Menschen zerquetschen, den Tiananmen, wie er im Blut versinkt, die Göttin der Freiheit … Jeder Pinselstrich auf meinen Bildern ist ein unartikulierter Schrei." Wu Wenjian war 19 Jahre alt, als er 1989 an den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens teilnahm. Er war Augenzeuge des Massakers vom 4. Juni und entkam nur knapp. Kurze Zeit später wurde er festgenommen und saß sieben Jahre lang wegen "Aufwiegelung" im Gefängnis.

Anfang Juni 1989 hatte die chinesische Regierung 200.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee mobilisiert, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam niederzuschlagen. Die sogenannten "Ausnahmetruppen" richteten ein Massaker an, das die Welt schockierte. Die Zahl der Opfer ist bis heute unklar. Internationale Menschenrechtsorganisationen und das chinesische Rote Kreuz schätzen, dass bis zu 3.000 Menschen erschossen, zu Tode geprügelt und von Panzern überrollt wurden. Zehntausende Menschen wurden anschließend ins Gefängnis geworfen, Hunderttausende flohen ins Ausland. Mehr als 22 Jahre später ist dieses blutige Kapitel der chinesischen Geschichte noch immer tabu.

Mit seinem neuen Buch "Die Kugel und das Opium" hat der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu dieses Schweigen gebrochen. Es enthält 14 Gespräche mit Zeitzeugen, die er über sieben Jahre hinweg ausfindig gemacht und teils unter konspirativen Bedingungen – an abgelegenen Orten und mitten in der Nacht – interviewt hat. "Erinnerungsarbeit" nennt er sein Vorgehen. Dabei interessierten Liao Yiwu weniger prominente Vertreter der Demokratiebewegung, als vielmehr die einfachen Leute, die sich mit den Studenten solidarisierten und dafür einen hohen Preis zahlen mussten.

Einige von ihnen waren politisiert, andere kamen aus reiner Neugier zum Platz des Himmlischen Friedens und wurden dann in die Ereignisse verwickelt – sei es als Passanten, Streikposten oder Straßenkämpfer. Ihr Vergehen bestand darin, sich den Panzern entgegenzustellen, Steine zu werfen, an ihren Arbeitsplätzen zur Solidarität aufzurufen, Eier auf ein Bild Maos zu werfen oder ein Armeefahrzeug anzuzünden. Die "Rowdys vom 4. Juni", wie sie offiziell heißen, wurden in Schnellverfahren wegen "Aufwiegelung", "Brandstiftung", "Sabotage" oder "bewaffneter Rebellion" zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Gegen manche wurde die Todesstrafe verhängt, die auf Bewährung ausgesetzt und später in eine lange Freiheitsstrafe mit Umerziehung im Arbeitslager umgewandelt wurde. Viele der Interviewten berichten von Folter, unter anderem mit Elektroknüppeln. Alle schildern grauenvolle Haftbedingungen – überfüllte Zellen, verdorbenes Essen und furchtbare hygienische Zustände.

Nach der Entlassung aus dem Gefängnis fiel es den Männern schwer, wieder Tritt zu fassen. Die Gesellschaft hatte sich verändert, niemand interessierte sich für ihre Geschichte. Ehen gingen in die Brüche, Kinder wiesen ihre Väter zurück. Arbeit zu finden, war so gut wie aussichtslos. Manch einer sah sich gezwungen, wieder bei seinen Eltern einzuziehen und schämte sich, den alten Leuten auf der Tasche zu liegen. Einige der Interviewten deuten an, dass sie bis heute mit Impotenz und Inkontinenz zu kämpfen haben – nicht zuletzt aufgrund der erlittenen Folter.

Die Gespräche sind eindrucksvoll, denn die Männer äußern sich Liao Yiwu gegenüber offen, vielfach drastisch und oft auch voll bitterem Humor. Der Schriftsteller weiß genau, wovon die Rede ist, denn er saß wegen seines Gedichts "Massaker" ebenfalls vier Jahre lang in Haft (siehe Amnesty Journal 10-11/2012). "Vor dem Massaker am 4. Juni 1989 war ich ein Dichter, der gegen die Tradition rebellierte, besessen davon, mich herumzutreiben, zu prügeln, die Nacht zum Tage zu machen und viel Unsinn zu reden", heißt es an einer Stelle, "dann wurde ich wegen meiner Gedichte bestraft und saß im Gefängnis. Meine romantische Dichterhaut ist mir bei lebendigem Leibe abgezogen worden".

Im vergangenen Jahr floh Liao Yiwu aus China und lebt jetzt in Berlin im Exil. Im Oktober 2012 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede erinnerte er an den neunjährigen Lü Peng, der sich in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 ohne Wissen seiner Eltern aus dem Haus gestohlen hatte, um sich den Trubel auf den Straßen anzuschauen. Er wurde frontal von einer Kugel getroffen und niedergestreckt. Die aufgebrachte Menge legte den Leichnam auf ein Auto, das durch die Hauptstraßen fuhr, um zu zeigen, dass die Armee selbst kleine Kinder umbrachte.

Lü Peng war der Jüngste unter den Opfern des Tiananmen-Massakers und sein Name ist der erste in einer Liste von 202 Todesopfern, die in "Die Kugel und das Opium" dokumentiert ist. Zusammengestellt wurde die Liste von der "Bewegung der Mütter vom Tiananmen", die seit mehr als 20 Jahren mühsam versucht, die Namen der Todesopfer in Erfahrung zu bringen. Die Liste ist nur die Spitze des Eisbergs – genau wie die 14 Interviews von Liao Yiwu, doch sind diese Dokumente von enormer Bedeutung, weil sie gegen die Verdrängung wirken, die in China herrscht. Der wirtschaftliche Erfolg wirke wie Opium, sagt der Schriftsteller: "Opium betäubt und verwischt das Gedächtnis an das Massaker." Viele der Interviewten äußern den Wunsch, irgendwann einmal rehabilitiert zu werden. Auch der Maler Wu Wenjian. Er hofft, eines Tages werde es ein Museum für die Opfer des 4. Juni 1989 geben. Dorthin will er seine Bilder geben.

Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2012, 430 Seiten, 24,99 Euro.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Köln.

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