Amnesty Journal 05. August 2009

Die Scheibenputzer aus Odobeasca

Eine junge Romni vor der St.-Marien-Liebfrauenkirche in Berlin, 29. Mai 2009

Eine junge Romni vor der St.-Marien-Liebfrauenkirche in Berlin, 29. Mai 2009

In Ungarn werden sie von Rechtsradikalen terrorisiert, in Rumänien leben sie ohne Wasser und Kanalisation. Viele Roma flüchten vor Armut und rassistischer Verfolgung nach Deutschland. Aber auch hier sind sie unerwünscht.

Die Autofahrer am Kottbusser Damm sind entnervt. Sie wollen ihre Scheiben nicht waschen lassen. Einige hupen wild, andere kramen Kleingeld hervor, um die lästigen Bettler loszuwerden. Iulian Cretu, genannt "Kent", sitzt einige Meter entfernt auf einer Bank und schaut seinen Kumpels zu, wie sie sich abmühen, ein paar Cent zu ergattern. "Die Leute geben kaum was", sagt der 23-Jährige frustriert. Er ist ein schmaler, nervöser Typ, mehr Junge als Mann. Vor ein paar Tagen ist er aus dem südrumänischen Dorf Odobeasca gekommen. Dort sind sie zehn Geschwister und hausen in zwei Lehmhütten. Keiner von ihnen kann richtig lesen und schreiben, keiner hat einen Beruf.

Iulian Cretu hat gehört, dass Deutschland reich ist, also ist er hergekommen, Bekannte haben ihn in einem Kleinbus mitgenommen, "aus Mitleid". So erzählt er es. Jetzt bettelt er, wäscht Scheiben, verdient "sechs, sieben Euro" am Tag. Wie als Entschuldigung sagt er: "Wir stehlen nicht, wir brechen nicht ein, wir bringen niemanden um, wir betteln doch nur ein bisschen."

Berlin, im Juni 2009. So wie Iulian Cretu waren sie plötzlich da. Gut hundert Roma, die meisten aus dem südrumänischen Ort Rosiorii de Vede und aus Dörfern des Umlandes. Erst kampierten sie im Görlitzer Park in Kreuzberg, dann besetzten sie mit Hilfe von autonomen Unterstützern ein Künstlerhaus, später eine Kirche, schließlich kamen sie zehn Tage lang in einem staatlichen Flüchtlingsheim unter. Um sie loszuwerden, zahlte die Stadt Berlin ihnen eine "Rückkehrhilfe", zwischen 250 und 500 Euro pro Person. Die meisten verließen Berlin offenbar, einige sollen in der Stadt geblieben sein.

Der Fall sorgte für Aufsehen und erregte die Gemüter, vor ­allem am Stammtisch. "Geld weg, Zigeuner geblieben", lautete der Tenor populistischer Kommentare in Medien und Internetforen. Auf der anderen, der vermeintlich politisch korrekten ­Seite forderte etwa die "tageszeitung" "Sonderregeln" für die "mobile europäische Minderheit", wegen ihrer "Lebensweise".

Die Zahl der Klischees und Missverständnisse über Roma ist groß. Natürlich gibt es weder "die Zigeuner", noch ist die Mehrheit der Roma "mobil" oder hat eine bestimmte Lebensweise, die Sonderregeln braucht. Vielmehr dürfte wohl keine Minderheit in Europa so heterogen sein wie die der schätzungsweise sechs bis zwölf Millionen Roma. Selbst in ihren Herkunftsländern ist ihre Lage uneinheitlich, auch in Rumänien, wo schätzungsweise zwei Millionen Roma leben. Es gibt Arme und Reiche, es gibt Bettler, Musiker, Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler. Manche sind viel herum gekommen, viele nicht einmal über die Kreisstadt hinaus. Es gibt kleine ultrareligiöse Gemeinschaften, die abgeschottet und traditionell leben. Vor allem aber gibt es viele Entwurzelte und Verelendete. Vermutlich ist dieser sozialökonomische Status die einzig herausragende Gemeinsamkeit einer Mehrheit der Roma in Osteuropa.

Zu den Modernisierungsverlierern, die ihre Existenz am Rande der Gesellschaft fristeten, gehörte die Mehrheit der Roma in Osteuropa schon seit Beginn der Industrialisierung. Die kommunistischen Regime änderten daran nichts. Roma dienten als Manövriermasse und billiges Arbeitskräftereservoir in der Landwirtschaft und in großen Bergbau- und Industrieprojekten, sie strömten zu Zehntausenden in künstlich aufgeblähte agro­industrielle oder urbane Regionen. Modernisierungsverlierer blieben die meisten Roma auch nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen. Sie gerieten sogar noch tiefer in den Teufelskreis aus Armut, fehlender Bildung und Diskriminierung.

Beispiel Rosiorii de Vede. Das 30.000-Einwohner-Städtchen im südrumänischen Kreis Teleorman ist ein armseliger Ort in einer armen Gegend Rumäniens, halb graues Neubauviertel, halb Dorf mit schwer befahrbaren Sand- und Schotterwegen. ­Arbeitsplätze gibt es wenige: in einer Brauerei, einer Ölmühle und in ein paar kleinen Textilbetrieben, in denen Frauen zu erbärmlichen Löhnen Kleider für westeuropäische Firmen nähen. Viele Einwohner arbeiten – wie Millionen andere Rumänen – seit Jahren im westeuropäischen Ausland.

Die meisten Roma wohnen am Ortsrand oder im Umland in ghettoartigen Vierteln. So wie auch Iulian Cretu und seine Familie. Odobeasca, wo ihre Lehmhütten stehen, ein paar Kilometer von Rosiorii de Vede entfernt, ist ein Dorf wie ein Dritte-Welt-Slum. Es gibt Strom, sonst aber keine Infrastruktur. Kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, keine Müllabfuhr. In einer der beiden Lehmhütten, in denen die Cretus hausen, steht ein Fernseher. Er bringt die schöne, bunte Welt hierher, die Fata Morgana eines besseren Lebens.

Iulian Cretus Eltern waren früher Hilfsarbeiter in einer nahe gelegenen Kooperative. Nach dem Sturz des Präsidenten Nicolae Ceausescu 1989 wurde sie aufgelöst, seitdem lebt die Familie von Sozialhilfe. Iulian Cretu ist das viertjüngste von zehn Kindern, er hat mit Biegen und Brechen fünf Schulklassen geschafft, aber seine Bildung hat das Niveau eines Erst- oder bestenfalls Zweitklässlers. Gearbeitet hat er außer als Tagelöhner in der Landwirtschaft und auf dem Bau nie regelmäßig. Er findet auch keine Arbeit. In erster Linie, weil Roma den Rumänen zutiefst verhasst sind. Doch nicht nur das. Manche Einrichtungen sind für ihn und für andere Roma regelrechtes Sperrgebiet.

Im Februar 2008 filmten Reporter eines rumänischen Fernsehsenders mit versteckter Kamera, wie Roma in einer Bar von Rosiorii de Vede auf Anweisung des Besitzers nicht bedient wurden, weil sie "Zigeuner" seien. Einige von ihnen waren Verwandte von Iulian Cretu. Die Journalisten filmten, wie der Besitzer die Roma angriff und wie Polizisten die Roma aus der Bar prügelten. In gefälschten Ermittlungsakten hieß es, die Roma seien gewalttätig geworden. Die Polizisten bekamen Disziplinarstrafen. In der Öffentlichkeit löste die Aktion der Journalisten Empörung aus. Darüber, dass der Sender "kriminelle Zigeuner" schütze.

Das Beispiel illustriert die Situation in Rumänien bestens. Nachdem es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre häufig zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Roma kam, bei denen die Behörden oft tatenlos zusahen, manchmal sogar mithalfen, ist das EU-Mitglied Rumänien nach außen hin inzwischen um ein gutes Image bemüht. Es gibt einen staatlichen Anti-Diskriminierungsrat, es gibt im Staatsfernsehen Spots gegen Rassismus, Regierung und Minister haben Roma-Intellektuelle als Berater, an Gymnasien und Universitäten sind Plätze für Roma reserviert.

Ein Fortschritt, zweifellos. Doch Rassismus und rassistische Gewalt existieren weiterhin: Dort, wo sie schlecht dokumentierbar sind oder Rassisten sich unbeobachtet wähnen. Wie im Fall von Rosiorii de Vede. Oder im Fall des Präsidenten Traian Basescu. Der hatte im Mai 2007 während eines Einkaufs eine Journalistin als "stinkende Zigeunerin" beschimpft, aber nicht bedacht, dass die Sprachaufzeichnung ihres Mobiltelefons eingeschaltet war. In den spezifischen Rassismus gegen Roma mischt sich zunehmend ein Hass auf ihre sozialökonomische Lage. Man verzeiht ihnen nicht, dass sie arm und ungebildet sind.

Wohin solcher Rassismus führen kann, ist derzeit in Ungarn zu beobachten. Dort leben rund 600.000 Roma. Viele wohnen in Elendssiedlungen im armen, unterentwickelten Nordosten, sind arbeitslos und bekommen Sozialhilfe und Kindergeld. Gegen Roma haben Rechtsextreme in den letzten Jahren erfolgreich ein Klima hysterischen Hasses erzeugt; Bürgerwehren schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Panikstimmung wegen sogenannter Zigeunerkriminalität und der angeblich immer schlechter werdenden öffentlichen Sicherheit hat inzwischen eine Mehrheit der Gesellschaft erfasst, darunter auch große Teile der politischen und intellektuellen Elite. Das Ergebnis: Die rechtsextreme Partei "Jobbik" (Die Besseren) erhielt kürzlich bei den Europawahlen aus dem Stand 15 Prozent der Stimmen.

Gewalt gegen Roma ist nahezu alltäglich. In den letzten anderthalb Jahren wurden acht Roma ermordet, darunter Ende Februar zwei auf besonders hinterhältige Weise: In Tatárszentgyörgy südlich von Budapest zündeten Unbekannte das Haus ­einer Roma-Familie an. Als der 27-jährige Familienvater mit ­seinem vierjährigen Sohn aus den Flammen flüchtete, erschoss einer der Täter die beiden mit einer Schrotflinte.

Ungarn steht damit an einem Tiefpunkt seiner postkommunistischen Geschichte. Es ist auch das Ergebnis einer jahrelangen Erosion von staatlicher Autorität und Vertrauen in den Staat. Die politische Elite macht durch Korruptionsaffären Schlagzeilen, wirtschaftlich geht es bergab, Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen kommen nicht voran, der Staat steht wegen der Finanzkrise vor der Pleite.
"Die rechtsextreme Hysterie und die Stimmungsmache gegen Roma sind eigentlich eine Erhebung des Mittelstandes", sagt der Philosoph und frühere Bürgerrechtler Gáspár Miklós Tamás. "In den ökonomisch sehr schwachen osteuropäischen Gesellschaften ist der Staat für viele der einzige Garant eines erträglichen Lebensniveaus. Aber seine Ressourcen werden immer kleiner. Also muss man seine Konkurrenten kriminalisieren und ausschalten."

Wenn Tamás von "Konkurrenz ausschalten" spricht, meint er damit eher den sozialen Kahlschlag, der in Ungarn auf Kosten der Armen, Alten und Kranken betrieben wird, nicht Morde an Roma. Dass die Verbrechen an Roma immer brutaler werden und es kaum öffentliches Mitgefühl für sie gibt, entsetzt viele brillante Köpfe im Land. Die Roma-Aktivistin Timea Borovszky hat eine Erklärung dafür. "Die politische Elite", sagt sie, "müsste als Ganzes aufstehen und in tiefster Entschlossenheit verkünden, dass solche Verbrechen nicht geduldet werden. Statt dessen signalisiert die Politik der Öffentlichkeit Desinteresse. Das ist viel besorgniserregender als die Verbrechen an sich."

Von Keno Verseck.
Der Autor ist Journalist, lebt in Berlin und berichtet regelmäßig aus
Ungarn und Rumänien.

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