Amnesty Report 28. Mai 2013

Sierra Leone 2013

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Sierra Leone Staats- und Regierungschef: Ernest Bai Koroma

Der frühere liberianische Staatspräsident Charles Taylor wurde wegen Verbrechen, die während des elfjährigen Bürgerkriegs in Sierra Leone begangen worden waren, schuldig gesprochen und verurteilt. In Sierra Leone fanden die dritten Wahlen seit Ende des Konflikts statt. Nach Angaben internationaler Wahlbeobachter verlief der Urnengang ordnungsgemäß und transparent. Die Polizei ging gegen unbewaffnete Bürger mit rechtswidriger Gewalt vor. Die Regierung unternahm weitere Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe. Verträge zwischen der Regierung und Unternehmen waren nicht transparent. Die von den Unternehmensaktivitäten betroffenen Gemeinden wurden nicht in angebrachter Form konsultiert und über mögliche Auswirkungen aufgeklärt.

Hintergrund

Der Sondergerichtshof für Sierra Leone (Special Court for Sierra Leone – SCSL) befand den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor im April 2012 für schuldig, während des Bürgerkriegs in Sierra Leone persönlich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geplant und Beihilfe zu diesen Verbrechen geleistet zu haben. Der Schuldspruch bezog sich auf sämtliche elf Punkte der Anklage, u.a. auf den Einsatz von Kindersoldaten, Mord, Vergewaltigung und sexuelle Sklaverei. Taylor wurde im Mai zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli legten sowohl die Verteidigung als auch die Anklage Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Eine Entscheidung wurde für 2013 erwartet.

Da das Friedensabkommen von Lomé eine Amnestieklausel enthält und das Mandat des SCSL beschränkt ist, wurde gegen Tausende Täter, die während des Konflikts für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, weder ermittelt noch wurden sie strafrechtlich belangt. Zehntausende Opfer und ihre Familien warteten nach wie vor auf die vollständige Umsetzung umfassender Entschädigungsprogramme.

Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2012 kam es gelegentlich zu Zusammenstößen zwischen den Anhängern der beiden größten politischen Parteien; die Wahlen verliefen jedoch insgesamt friedlich. Präsident Ernest Bai Koroma, Kandidat des regierenden Allgemeinen Volkskongresses (All People’s Congress – APC), wurde für eine zweite Amtszeit gewählt.

Die Überarbeitung der Verfassung war in Sierra Leone seit Jahren überfällig. Die Regierung sicherte zu, den Diskussionsprozess über die Reform nach den Wahlen 2012 wiederzubeleben. Ende des Jahres lagen dem Parlament weiterhin zwei wichtige Gesetzentwürfe – der Entwurf für ein Gesetz zur Informationsfreiheit und der Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz – zur Beratung vor. Die Regierung machte keine Anstalten, die Bestimmungen des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von 1965 abzuschaffen, die Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung vorsehen.

Todesstrafe

Nachdem die Regierung 2011 ein Hinrichtungsmoratorium angeordnet hatte, vollzog sie 2012 weitere Schritte auf dem Weg zur Abschaffung der Todesstrafe. Zum Ende des Jahres befanden sich nach Angaben von zivilgesellschaftlichen Organisationen keine Inhaftierten mehr in den Todeszellen, und es waren keine weiteren Todesurteile verhängt worden.

Laut Gesetz kann die Todesstrafe allerdings weiterhin für Landesverrat und schweren Raub verhängt werden. Bei Mord ist sie zwingend vorgeschrieben.

Justizsystem

Das Gesetz für unentgeltliche Rechtsberatung wurde zwar verabschiedet, jedoch bis Ende 2012 nicht umgesetzt. Das Justizsystem litt weiterhin unter einem Mangel an Kapazitäten und Ressourcen. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten, dass viele Betroffene die Kautionsbestimmungen nicht in Anspruch nehmen konnten, weil auf den Polizeiwachen oder in den Gerichten die Gewährung einer Kaution häufig an die Zahlung von Schmiergeld geknüpft wurde.

Wie es aus den Kreisen von zivilgesellschaftlichen Organisationen hieß, war es allgemein üblich, Menschen wegen Schulden oder Veruntreuung und anderer Vorwürfe sowie wegen "Herumlungerns" ins Gefängnis zu stecken. Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt als Händlerinnen oder mit Unterstützung von Mikrokreditinstituten zu verdienen versuchten, liefen Gefahr, wegen ihrer Verschuldung ins Gefängnis zu kommen. Zu den gravierendsten Problemen der Strafjustiz zählten der Mangel an juristischen Fachkenntnissen und die Korruption. Viele Menschen saßen über lange Zeiträume hinweg im Gefängnis, weil sie keinen Zugang zu Anwälten hatten.

Ständige Prozessverschiebungen, Verzögerungen bei der Anklageerhebung, der Verlust von Akten und ein Mangel an Richtern trugen dazu bei, dass Verdächtige lange in Untersuchungshaft saßen und die Gefängnisse überfüllt waren.

Polizei und Sicherheitskräfte

Im Januar 2012 wurde der Presse die Information zugespielt, dass die sierra-leonische Polizei Waffen im Wert von mehreren Millionen US-Dollar gekauft hatte. Unter den gelieferten Waffen waren auch Kleinwaffen, Munition und Granatwerfer. Die Lieferung, die vor den Wahlen im November erfolgte, alarmierte Akteure im In- und Ausland. Mitglieder des UN-Sicherheitsrats besuchten das Land im Mai und führten diesbezüglich Gespräche mit der Regierung, die zusicherte, einen Teil der Waffen an die Streitkräfte übergeben zu haben.

  • Im April tötete die Polizei die unbewaffnete Musu Conteh bei einer friedlichen Demonstration von Arbeitnehmern eines Bergbauunternehmens, die sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Bezahlung richtete. Mindestens elf Frauen und Männer wurden verletzt. Die Menschenrechtskommission von Sierra Leone untersuchte den Vorfall und stellte ihre Untersuchungsergebnisse im September vor. Der Kommissionsbericht enthielt auch Empfehlungen für die Bereiche der strafrechtlichen Ermittlung und Verfolgung. Die Regierung ordnete ein gerichtliches Verfahren zur Untersuchung der Todesursache von Musu Conteh an, der Bericht war bis Jahresende noch nicht veröffentlicht worden. Für den Vorfall wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

  • Im Juni wurden Alien Sonkoh und Ishmael Kargbo-Sillah in Wellington von Polizisten erschossen. Ein dritter Mann erlitt bei dem Vorfall schwere Verletzungen. Nach Angaben der Familien und von Mitbürgern, die den Vorfall miterlebten, gehörten die unbewaffneten Männer einer Nachbarschaftswache an und waren in einer Gegend unterwegs, in der die Polizei nach einem Wagen fahndete. Präsident Koroma besuchte die Gemeinde und ordnete auch für diesen Vorfall ein gerichtliches Verfahren zur Untersuchung der Todesursache an. Die Untersuchung wurde im Juli abgeschlossen. Die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse stand bei Jahresende weiterhin aus.

  • Ebenfalls im Juni erschoss die Polizei in Goderich einen Motorradfahrer, der an einer Polizeikontrolle nicht angehalten hatte. Ein Polizist wurde in diesem Zusammenhang verhaftet und wegen Mordes angeklagt. Das Verfahren wurde Ende 2012 fortgesetzt.

Zivilgesellschaftliche Gruppen forderten ein wirksames unabhängiges Aufsichtssystem zur Untersuchung von Beschwerden, dessen Verantwortliche auch die Kompetenz haben sollten, die Polizei zur Rechenschaft zu ziehen.

Recht auf Gesundheit

Im Hinblick auf die kostenlose Gesundheitsversorgung für Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren erzielte die Regierung gewisse Fortschritte, die darauf hoffen ließen, dass das 2010 eingeführte Programm endlich umgesetzt wird. Im Juni verabschiedete die Regierung das Gesetz zur Einrichtung einer Abteilung, die den Einkauf von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung überwachen und regulieren soll. Nach Angaben von Mitarbeitern im Gesundheitswesen gab es nach wie vor Probleme bei der Versorgung mit wichtigen Medikamenten und anderem medizinischen Bedarf.

Die Umsetzung der kostenlosen Gesundheitsversorgung für Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren erwies sich weiterhin als schwierig. Medizinische Versorgungseinrichtungen erhoben auch 2012 Gebühren für Leistungen, die eigentlich kostenfrei sein sollten. Um eine Beschwerdemöglichkeit für Menschen zu schaffen, die Leistungen, auf die sie einen Anspruch hatten, nicht erhielten, wurde eine gebührenfreie Telefonnummer eingerichtet. Das Verfahren war jedoch schwerfällig und wenig effizient.

Das Gesamtbudget für das Gesundheitswesen wurde 2012 von 11% auf 7,4% zusammengestrichen, d.h. auf knapp die Hälfte der 15%, die in der Erklärung von Abuja für die Finanzierung des Gesundheitswesens empfohlen wird.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im August 2012 wurde das Gesetz über Sexualverbrechen verabschiedet, es hatte aber bei Jahresende noch keine Rechtskraft erlangt.

Artikel 27 (4) (d) der Verfassung, der Diskriminierung von Frauen bei Adoption, Eheschließung, Scheidung, Bestattung und Erbschaft sowie bei verschiedenen anderen individualrechtlichen Interessen zulässt, bestand im Berichtsjahr unverändert fort.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen war 2012 weiterhin weit verbreitet. Nach wie vor wurden gefährliche traditionelle Praktiken angewandt. Dazu gehörten auch Frühverheiratungen und Genitalverstümmelung.

Unternehmensverantwortung

Bei Landnutzungsvereinbarungen zwischen Gemeinden, Unternehmen und der Regierung wurden multinationale Unternehmen gegenüber den Gemeinden wesentlich besser gestellt. Traditionelle Autoritäten (chiefs) übertrugen Ländereien an Unternehmen, obwohl die betroffene Bevölkerung kaum oder nicht in angebrachter Form konsultiert wurde. Die Landnutzungsvereinbarungen waren häufig nicht in den einheimischen Sprachen verfügbar und wurden Menschen, die nicht lesen konnten, auch nicht vermittelt. Mitbürger betroffener Gemeinden und Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich für die Pflicht von Unternehmen zur Rechenschaftslegung und Transparenz engagierten, waren Schikanen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.

Im April kamen in Freetown, der Hauptstadt des Landes, Bauern, zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger zusammen und verlangten, alle in der jüngsten Vergangenheit abgeschlossenen Landnutzungsvereinbarungen auf den Prüfstand zu stellen. Sie forderten die Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarungen zwischen Gemeinden und multinationalen Unternehmen fair und transparent seien.

Amnesty International: Missionen und Berichte

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