Amnesty Report Kirgisistan 24. Mai 2013

Kirgistan 2013

 

Amtliche Bezeichnung: Kirgisische Republik Staatsoberhaupt: Almasbek Atambajew Regierungschef: Schantoro Satibaldijew (löste
im September Omurbek Babanow im Amt ab)

Folter und andere Misshandlungen waren im ganzen Land weit verbreitet. Doch gingen Polizei und Justizbehörden entsprechenden Vorwürfen nicht nach. In Bezug auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Juni 2010 und deren Folgen hatten die Behörden nach wie vor keine unparteiischen und effektiven Untersuchungen eingeleitet. Und den Tausenden von Opfern schwerer Straftaten und Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, war noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren. Ethnische Usbeken waren im Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen vom Juni 2010 weiterhin in unverhältnismäßigem Umfang von Inhaftierung und Strafverfolgung betroffen.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren 2012 nach wie vor verbreitet, trotz eines umfassenden staatlichen Programms zur Folterbekämpfung, das auf der Grundlage von Empfehlungen des UN-Sonderberichterstatters über Folter entwickelt wurde, und eines Gesetzes, das die Einrichtung eines Nationalen Zentrums zur Verhütung von Folter und anderen Misshandlungen vorsah.

Der UN-Sonderberichterstatter erklärte im Februar 2012, Fälle von Folter und anderen Misshandlungen zum Erzwingen von Geständnissen seien "nach wie vor an der Tagesordnung". Außerdem gebe es "praktisch kein klares Verfahren, das festlegt, welche Maßnahmen Gerichte zu ergreifen haben, wenn Beweismittel auftauchen, die durch Folter oder Misshandlungen erlangt wurden". Zudem scheine es in der Praxis keine Anweisung an die Gerichte zu geben, dieses Grundprinzip auch umzusetzen und bei Verstößen dagegen unverzügliche, unparteiische und effektive Ermittlungen einzuleiten.

Ferner erklärte der Sonderberichterstatter, im Gegensatz zu Maßnahmen und Erklärungen des derzeitigen Staatspräsidenten, der früheren Staatspräsidentin sowie der Generalstaatsanwältin seien ihm keine Anweisungen der zuständigen Beamten des Innenministeriums bekannt, die Folter und andere Misshandlungen verurteilten und unmissverständlich erklärten, dass man Folter und andere Misshandlungen durch Polizeibeamte nicht dulde.

  • Am 11. September 2012 nahmen Polizisten Anna Ageeva in Bischkek unter Mordverdacht fest. Die schwangere 18-Jährige wurde drei Tage lang in der Polizeiwache des Bezirks Swerdlowsk ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam gehalten. Anna Ageeva gab an, Polizisten hätten sie während dieser Zeit an den Haaren gezogen und mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Außerdem habe man sie in den Bauch und in die Nieren getreten und geschlagen, um sie zu zwingen, den Mord an einer anderen jungen Frau zu "gestehen". Ein Anwalt der NGO Kylym Shamy erstattete wegen der Folterungen Anzeige beim Bezirksstaatsanwalt von Swerdlowsk. Drei weitere Straftatverdächtige, darunter der 17-jährige Aidiana Toktasunova, die im Zusammenhang mit derselben Mordsache inhaftiert waren, legten ähnliche Beschwerden bei der Bezirksstaatsanwaltschaft ein. Auch sie gaben an, Polizisten hätten sie gefoltert, um ein "Geständnis" zu erpressen. Das Innenministerium wies die Foltervorwürfe als "absurd" zurück.

Untersuchungen des Ministeriums hätten keinerlei Beweise für ein Fehlverhalten der Polizisten ergeben. Die Bezirksstaatsanwaltschaft leitete wegen der Foltervorwürfe im Oktober strafrechtliche Ermittlungen ein.

  • Im November 2012 schrieb die Menschenrechtsorganisation Spravedlivost (Gerechtigkeit) an die Generalstaatsanwältin mit der Bitte, sie persönlich möge die Ermittlungen leiten bezüglich des Vorwurfs, mehr als ein Dutzend Polizisten hätten acht Häftlinge im Untersuchungsgefängnis von Dschalalabat misshandelt.

Mitarbeiter von Spravedlivost hatten das Haftzentrum besucht, nachdem Angehörige der Inhaftierten die Organisation auf die Verstöße aufmerksam gemacht hatten.

Die Inhaftierten berichteten, Polizisten hätten sie ins Gesicht, auf den Kopf und den Körper geschlagen. Außerdem habe man sie nackt ausgezogen und gezwungen zu rennen. Zwei Tage nach den Spravedlivost-Mitarbeitern besuchte die zuständige Ombudsperson das Untersuchungsgefängnis und traf alle 42 Häftlinge. 37 von ihnen bestätigten, misshandelt worden zu sein. Daraufhin bat die Ombudsperson die Bezirksstaatsanwaltschaft, den Vorwürfen nachzugehen. Das Innenministerium leitete ebenfalls eine interne Untersuchung ein, behauptete jedoch, keinerlei Hinweise auf Misshandlungen gefunden zu haben.

Die willkürlichen Festnahmen, die sich insbesondere gegen ethnische Usbeken richteten, schienen 2012 abzunehmen. Doch gingen weiterhin Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen ein, die an ethnischen Usbeken im Zusammenhang mit den laufenden Untersuchungen der gewalttätigen Ausschreitungen vom Juni 2010 verübt wurden. Dazu zählten Folter und andere Misshandlungen, erzwungene "Geständnisse" und unfaire Gerichtsprozesse. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter zeigte sich in seinem Bericht vom Februar 2012 besorgt darüber, dass die "schweren Menschenrechtsverletzungen in Verbindung mit diesen Ermittlungen in den vergangenen Monaten unvermindert andauerten".

Unfaire Gerichtsverfahren

Der UN-Sonderberichterstatter über Folter erklärte, er habe Zeugenaussagen gehört, wonach "bei Gerichtsverhandlungen, die die gewaltsamen Ausschreitungen vom Juni 2010 betrafen, Richter und Staatsanwälte es wiederholt versäumten, Informationen über Folter und Misshandlungen nachzugehen, die von Angeklagten oder deren Anwälten vorgebracht wurden". Außerdem sei die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 20. Dezember 2011, Azimzhan Askarovs Rechtsmittel abzuweisen und die gegen ihn verhängte lebenslange Haftstrafe zu bestätigen, ein "Beispiel
für das Versagen des höchsten Gerichts, Vorwürfen wegen Folter und Misshandlung nachzugehen". Die Regierung warf dem UN-Sonderberichterstatter Einseitigkeit vor und erklärte, die Generalstaatsanwaltschaft habe alle von Azimzhan Askarov und seinen Mitangeklagten erhobenen Vorwürfe der Folter und erzwungener Geständnisse gründlich untersucht und keine überzeugenden Indizien gefunden, die diese Behauptungen gestützt hätten.

  • Der bekannte Menschenrechtsverteidiger und gewaltlose politische Gefangene Azimzhan Askarov befand sich Ende 2012 weiterhin in Einzelhaft. Laut einem Bericht der NGO Ärzte für die Menschenrechte (Physicians for Human Rights – PHR) vom Oktober hatte sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert, insbesondere was seine Sehkraft, sein Nervensystem und seine Atmung betraf.

Doch wurde ihm die notwendige ärztliche Versorgung verweigert, was eine Form der Misshandlung darstellte. Bei einer Untersuchung im Januar hatten PHR-Experten bei Azimzhan Askarov Anzeichen für eine traumatische Gehirnverletzung infolge von Folter festgestellt. Im November legte sein Anwalt Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss ein.

Straflosigkeit

Zwar unternahmen die Behörden in den vergangenen zwei Jahren Anläufe, um die gewaltsamen Ausschreitungen vom Juni 2010 in den Städten Osch und Dschalalabat aufzuklären – oft gegen erheblichen internen Widerstand, doch gelang es nicht, die Ereignisse und ihre Folgen effektiv aufzuklären und den Tausenden Opfern schwerer Straftaten und Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Im April 2012 gab der Staatsanwalt der Stadt Osch bekannt, dass von 105 Fällen, die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen vom Juni 2010 vor Gericht verhandelt wurden, lediglich zwei mit Freispruch geendet hätten. Nur in einem Fall war ein ethnischer Usbeke angeklagt, und zwar Farrukh Gapirov. Der Sohn des Menschenrechtsverteidigers Ravshan Gapirov kam frei, nachdem das Berufungsgericht festgestellt hatte, dass seine Verurteilung auf einem "Geständnis" beruhte, das unter Folter erpresst worden war. Gegen die Polizisten, die für die Folter verantwortlich waren, wurden jedoch keine strafrechtlichen Schritte eingeleitet.

Die erste – und bisher einzige – Verurteilung ethnischer Kirgisen wegen Mordes an ethnischen Usbeken während der Ausschreitungen vom Juni 2010 wurde aufgehoben.

  • Im Mai 2012 hob das Bezirksgericht von Dschalalabat den Schuldspruch gegen vier ethnische Kirgisen auf, denen die Ermordung von zwei Usbeken während der Ausschreitungen vom Juni 2010 zur Last gelegt wurde. Zwei der Angeklagten waren im November 2010 zu 25 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt worden. Die Männer hatten angegeben, in Haft gefoltert worden zu sein. Die beiden anderen Angeklagten hatten dreijährige Bewährungsstrafen erhalten. Das Berufungsgericht hob die Urteile gegen die vier Männer auf, verwies den Fall zur weiteren Untersuchung und ließ die Angeklagten gegen Kaution frei. Drei der Angeklagten wurden freigesprochen, während derjenige, der vom erstinstanzlichen Gericht zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, unter Auflagen auf freien Fuß kam.

Trotz offizieller Anweisungen der Generalstaatsanwaltschaft, jedem einzelnen Bericht über Folter nachzugehen, versäumten es die Staatsanwälte regelmäßig, entsprechende Vorwürfe gründlich und unparteiisch zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nach Ansicht des UN-Sonderberichterstatters über Folter erwiesen sich die Bemühungen der Übergangsregierung zur Aufklärung und Bestrafung der Menschenrechtsverstöße im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Juni 2010 als weitgehend ineffektiv.

  • Im März 2012 wurde ein Verfahren gegen vier Polizeibeamte, die wegen Folter vor Gericht standen, nach Dschalalabat zurückverlegt. Den Angeklagten wurde die Folterung von Usmonzhon Kholmirzaev zur Last gelegt, der im August 2011 an den Folgen gestorben war. Der Vorsitzende Richter am Bezirksgericht von Dschalalabat forderte weitere Ermittlungen und ließ zwei der angeklagten Polizisten gegen Kaution frei. Vor Beginn der Verhandlung im September 2011 hatten Angehörige und Anhänger der beschuldigten Polizisten öffentliche Protestkundgebungen abgehalten, die teilweise gewaltsam endeten. Vor dem Gerichtsgebäude und im Verhandlungssaal schüchterten sie Zeugen der Anklage sowie die Angehörigen und den Anwalt von Usmonzhon Kholmirzaev ein. Außerdem übten sie Druck auf den Richter aus, die Angeklagten für nicht schuldig zu erklären. Die Verhandlung wurde daraufhin aus Sicherheitsgründen in das 500 Kilometer entfernte Tschüi-Gebiet verlegt. Doch wurden die Hauptzeugen dennoch mit Gewalt bedroht, und manche änderten ihre Aussage zugunsten der Angeklagten ab. Einige sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen, um die Sicherheit ihrer Familien zu gewährleisten. Trotz Beschwerden der Witwe von Usmonzhon Kholmirzaev und ihrer Anwälte hatte die Bezirksstaatsanwaltschaft von Dschalalabat Ende 2012 noch keine Ermittlungen gegen die Angehörigen und Anhänger der Angeklagten eingeleitet. Am 26. Dezember vertagte das Bezirksgericht die Verhandlung auf unbestimmte Zeit, nachdem drei Verteidiger der Angeklagten nicht zu einer Anhörung erschienen waren.

Amnesty International: Missionen und Bericht

Delegierte von Amnesty International besuchten Kirgisistan im April, Mai, September und Dezember.

Kyrgyzstan: Dereliction of duty

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