Amnesty Report 22. Mai 2013

Äthiopien 2013

 

Amtliche Bezeichnung: 
Demokratische Bundesrepublik Äthiopien Staatsoberhaupt: Girma Wolde-Giorgis Regierungschef: Hailemariam Desalegn (folgte im August Meles Zenawi im Amt)

Die Regierung unterdrückte das Recht auf freie Meinungsäußerung, indem sie die Aktivitäten von unabhängigen Medien, Oppositionsparteien und Menschenrechtsorganisationen stark einschränkte. Abweichende Meinungen wurden in keinem Bereich geduldet. Die Behörden inhaftierten tatsächliche und vermeintliche Gegner der Regierung. Friedliche Proteste wurden unterdrückt. Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen blieben an der Tagesordnung, und Folter und andere Misshandlungen waren in Hafteinrichtungen weit verbreitet. Es gingen sehr viele Berichte über Zwangsräumungen im ganzen Land ein.

Hintergrund

Im August 2012 gaben die Behörden den Tod von Ministerpräsident Meles Zenawi bekannt, der Äthiopien 21 Jahre lang regiert hatte. Hailemariam Desalegn wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Außerdem wurden drei stellvertretende Ministerpräsidenten ins Amt berufen, damit alle ethnisch basierten Parteien in der Regierungskoalition repräsentiert waren.

Die Regierung bot ausländischen Investoren weiterhin große Landflächen zur Pacht an. Dies ging häufig mit dem Villagization-Programm einher, bei dem Hunderttausende Menschen umgesiedelt wurden. Die Aktivitäten waren oft von zahlreichen Vorwürfen über groß angelegte rechtswidrige Zwangsräumungen begleitet.

In mehreren Landesteilen, u.a. in den Regionen Somali, Oromia und Afar, fanden nach wie vor Gefechte zwischen der äthiopischen Armee und bewaffneten Gruppen statt.

Äthiopische Streitkräfte führten weiterhin Militäroperationen in Somalia durch. Es gab Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen, willkürliche Inhaftierungen sowie Folter und andere Misshandlungen durch die äthiopischen Truppen und Milizen, die mit der somalischen Regierung zusammenarbeiteten. Im März 2012 fielen äthiopische Truppen zweimal in Eritrea ein und berichteten später, dass sie Lager angegriffen hätten, in denen äthiopische Rebellengruppen ausgebildet würden (siehe Länderbericht Eritrea). Äthiopien beschuldigte Eritrea, eine bewaffnete oppositionelle Gruppe zu unterstützen, die im Januar europäische Touristen in der Region Afar angegriffen hatte.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Mehrere Journalisten und Mitglieder der Opposition wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Man beschuldigte sie terroristischer Vergehen, weil sie zu Reformen aufgerufen, die Regierung kritisiert oder Verbindungen zu friedlichen Protestbewegungen unterhalten hatten. Bei dem Beweismaterial, das gegen sie verwendet wurde, handelte es sich zum großen Teil um Beispiele der Ausübung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit.

Gerichtsverfahren waren von gravierenden Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, u.a. wurden Foltervorwürfe nicht untersucht, und die Angeklagten hatten nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu rechtlichem Beistand. Zudem ließen die Gerichte unter Zwang erpresste "Geständnisse" als Beweismittel zu.

  • Im Januar 2012 wurden die Journalisten Reyot Alemu, Woubshet Taye und Elias Kifle sowie der Vorsitzende der oppositionellen Ethiopian National Democratic Party, Zerihun Gebre-Egziabher, und der ehemalige Unterstützer der Opposition, Hirut Kifle, terroristischer Vergehen für schuldig befunden.

  • Im Juni erhielten der Journalist Eskinder Nega und der Oppositionsführer Andualem Aragie und andere Dissidenten Gefängnisstrafen zwischen acht Jahren und lebenslanger Haft aufgrund terroristischer Anklagen.

  • Im Dezember 2012 wurden die Oppositionsführer Bekele Gerba und Olbana Lelisa wegen "Anstiftung zu Verbrechen gegen den Staat" zu acht bzw. 13 Jahren Gefängnis verurteilt.

Zwischen Juli und November 2012 wurden im ganzen Land Hunderte Muslime bei einer Reihe von Protestveranstaltungen gegen mutmaßliche Einschränkungen der Religionsfreiheit durch die Regierung festgenommen. Viele der Festgenommenen wurden zwar anschließend wieder freigelassen, doch zahlreiche andere befanden sich zum Jahresende weiter in Haft, unter ihnen auch Schlüsselfiguren der Protestbewegung. Die Regierung unternahm erhebliche Anstrengungen, um die Protestbewegung niederzuschlagen und eine Berichterstattung über die Proteste zu verhindern.

  • Im Oktober wurden 29 führende Persönlichkeiten der Protestbewegung auf Grundlage des Antiterrorgesetzes angeklagt, darunter Mitglieder eines von der muslimischen Gemeinde ernannten Ausschusses, der Belange der Gemeinde gegenüber der Regierung vertreten soll, sowie mindestens ein Journalist.

  • Im Mai und im Oktober 2012 wurden eine Korrespondentin und ein Korrespondent der Voice of America vorübergehend inhaftiert und zu Interviews verhört, die sie mit Protestierenden geführt hatten.

Die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien wurden noch stärker in ihrer Arbeit eingeschränkt.

  • Im April 2012 verurteilte ein Gericht Temesgen Desalegn, den Herausgeber der Wochenzeitschrift Feteh, eines der letzten unabhängigen Printmedien, zu einer Geldstrafe wegen "einseitiger Berichterstattung" über das Verfahren gegen Eskinder Nega und andere. Die Berichterstattung wurde als Missachtung des Gerichts angesehen. Feteh hatte Aussagen einiger Angeklagter veröffentlicht. Im August wurde Temesgen Desalegn wegen Artikeln, die er geschrieben oder veröffentlicht hatte und die als regierungskritisch eingestuft wurden oder zu friedlichen Protesten gegen die Repression der Regierung aufriefen, angeklagt. Man ließ ihn nach wenigen Tagen in Haft wieder frei, und die Anklagen wurden fallen gelassen.

Im Mai veröffentlichten die Behörden eine Direktive, die die Verlagshäuser aufforderte, Inhalte aus ihren Publikationen zu streichen, die von der Regierung als rechtswidrig betrachtet werden könnten. Die übermäßig weit gefassten Vorgaben des Antiterrorgesetzes hatten zur Folge, dass rechtskonforme Inhalte leicht als rechtswidrig eingestuft werden konnten.

  • Im Juli beschlagnahmten staatliche Behörden eine Ausgabe von Feteh, nachdem sie Einwände gegen eine Titelgeschichte über muslimische Proteste und einen anderen Bericht geäußert hatten, in dem über den Gesundheitszustand des Ministerpräsidenten spekuliert wurde. Anschließend weigerte sich die staatliche Druckerei Berhanena Selam, Feteh und die Publikation der größten Oppositionspartei Einheit für Demokratie und Gerechtigkeit, Finote Netsanet, zu drucken. Im November gab die Partei bekannt, dass die Regierung Finote Netsanet verboten hatte.

Zahlreiche Nachrichten- sowie politische und Menschenrechts-Websites wurden gesperrt.

Im Juli verabschiedete das äthiopische Parlament die Telecom Fraud Offences Proclamation, ein Gesetz, das die Bereitstellung und Nutzung verschiedener Internet- und Telekommunikationstechnologien behindert.

Menschenrechtsverteidiger

Das Gesetz über gemeinnützige Organisationen und Verbände und damit verbundene Vorschriften schränkte die Tätigkeit von Menschenrechtsverteidigern erheblich ein, insbesondere da es ihnen den Zugang zu dringend notwendigen Geldern verweigerte.

  • Im Oktober 2012 entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Guthaben der zwei führenden Menschenrechtsorganisationen, des Äthiopischen Rats für Menschenrechte (Ethiopian Human Rights Council) und der Vereinigung der Äthiopischen Rechtsanwältinnen (Ethiopian Women Lawyers Association) in Höhe von rund 1 Mio. US-Dollar weiterhin gesperrt bleiben. Die Konten waren nach der Verabschiedung des Gesetzes 2009 eingefroren worden.

  • Im August 2012 untersagte die Behörde für gemeinnützige Organisationen und Verbände dem Rat für Menschenrechte, der ältesten Menschenrechts-NGO Äthiopiens, landesweit die Sammlung von Spenden.

Berichten zufolge begann die Behörde damit, eine gesetzliche Vorschrift umzusetzen, die NGOs dazu verpflichtet, sich von einer zuständigen Regierungsbehörde kontrollieren zu lassen, und stellte damit die Unabhängigkeit der NGOs eklatant in Frage.

Folter und andere Misshandlungen

Gefangene wurden vielfach gefoltert oder in anderer Weise misshandelt, insbesondere bei Verhören und in Untersuchungshaft. Üblicherweise wurden die Gefangenen dabei mit Händen und Fäusten sowie Stöcken und anderen Gegenständen geschlagen, ihnen wurden Handschellen angelegt und man hängte sie an der Wand oder der Decke auf. Ferner wurden sie über lange Zeiträume mit Schlafentzug und Einzelhaft gequält. In einigen Fällen wurde über die Anwendung von Elektroschocks sowie vorgetäuschtem Ertränken und dem Anbringen von Gewichten an den Genitalien berichtet. Viele Gefangene zwang man zur Unterzeichnung von Geständnissen. Zudem wurden Gefangene dazu genötigt, an anderen Gefangenen Züchtigungsstrafen vorzunehmen.

Foltervorwürfe von Gefangenen wurden nicht untersucht, selbst dann nicht, wenn sie vor Gericht vorgebracht wurden.

Die Haftbedingungen waren extrem schlecht. Nahrung und Wasser waren knapp und die sanitären Anlagen in sehr schlechtem Zustand. Die medizinische Versorgung war unzureichend und wurde den Gefangenen manchmal ganz vorenthalten. Berichten zufolge kam es in Gewahrsam zu Todesfällen.

  • Im Februar 2012 wurde der inhaftierte Oppositionsführer Andualem Aragie von einem Mithäftling verprügelt, der einige Tage zuvor in seine Zelle verlegt worden war. Später im Jahr widerfuhr dem Oppositionsführer Olbana Lelisa Berichten zufolge dieselbe Behandlung.

  • Im September 2012 wurden zwei schwedische Journalisten, die 2011 wegen terroristischer Aktivitäten zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden waren, begnadigt. Nach ihrer Freilassung berichteten die beiden Männer, dass man sie gezwungen habe, sich selbst zu belasten, und dass sie einer Scheinhinrichtung ausgesetzt worden seien, bevor sie Zugang zu ihrer Botschaft bzw. einem Anwalt erhielten.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Die Behörden nahmen Mitglieder von Oppositionsparteien und andere tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner fest. Willkürliche Inhaftierungen waren weit verbreitet.

Nach Aussagen von Angehörigen "verschwanden" einige Menschen nach ihrer Festnahme. Die Behörden nahmen Familien von Verdächtigen ins Visier, inhaftierten und verhörten sie. Es gab Berichte über inoffizielle Haftanstalten.

  • Im Januar 2012 forderte die All Ethiopian Unity Party die Freilassung von 112 Parteimitgliedern, die, laut Angaben der Partei, im Januar im Verlauf einer Woche in der Region Southern Nations, Nationalities and Peoples (SNNP) festgenommen worden waren.

Hunderte Angehörige der Oromo wurden unter dem Vorwurf festgenommen, die Oromo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front – OLF) zu unterstützen.

  • Im September 2012 wurden Berichten zufolge mehr als 100 Menschen während des traditionellen Irreechaa-Festes der Oromo festgenommen.

Aus der Region Somali gingen Meldungen ein, denen zufolge viele Zivilpersonen unter dem Vorwurf, die Ogaden-Befreiungsfront (Ogaden National Liberation Front – ONLF) zu unterstützen, festgenommen und willkürlich inhaftiert wurden.

  • Die Behörden hielten den äthiopischen UN-Mitarbeiter Yusuf Mohammed, der Ende 2010 festgenommen worden war, nach wie vor in Jijiga willkürlich in Haft. Dem Vernehmen nach sollte damit die Rückkehr seines im Exil lebenden Bruders erzwungen werden, dem vorgeworfen wurde, Verbindungen zur ONLF zu haben.

Zwischen Juni und August 2012 wurden zahlreiche Angehörige der Sidama in der Region SNNP festgenommen. Dies war Meldungen zufolge eine Reaktion auf die anhaltenden Forderungen nach einem Regionalstaat für die Sidama in Äthiopien. Während der Feierlichkeiten zum sidamischen Neujahrsfest Fichee im August kam es zu etlichen Festnahmen. Viele der Festgenommenen wurden kurzzeitig inhaftiert und dann wieder freigelassen. Doch eine Reihe führender Repräsentanten der Gemeinschaft blieb in Haft und wurde wegen Verbrechen gegen den Staat angeklagt.

Es gab Berichte über Menschen, die verhaftet wurden, weil sie an friedlichen Protesten teilgenommen und sich öffentlich gegen bestimmte "Entwicklungsprojekte" ausgesprochen hatten.

Exzessive Gewaltanwendung

Die Polizei wurde beschuldigt, im Jahr 2012 bei mehreren Vorfällen im Rahmen der muslimischen Proteste mit exzessiver Gewalt reagiert zu haben. Zwei Vorfälle im Juli in Addis Abeba endeten gewalttätig. Dabei soll die Polizei mit scharfer Munition geschossen und Protestierende in den Straßen und in Haft geschlagen haben, wobei es viele Verletzte gab. Bei mindestens zwei weiteren Vorfällen im Zusammenhang mit den Protesten in anderen Teilen des Landes schoss die Polizei ebenfalls mit scharfer Munition und verletzte und tötete mehrere Menschen. Keiner dieser Vorfälle wurde untersucht.

  • Im April erschoss die Polizei Berichten zufolge mindestens vier Menschen in Asasa in der Region Oromia. Die Berichte der Zeugen und der Regierung widersprachen sich.

  • Im Oktober schoss die Polizei auf Bewohner der Stadt Gerba in der Region Amhara. Sie tötete dabei mindestens drei Menschen und verletzte weitere Personen. Die Behörden gaben an, dass die Gewalt zuerst von den Protestierenden ausging. Die Protestierenden hingegen berichteten, die Polizei habe mit scharfer Munition auf Unbewaffnete geschossen.

Die Sicherheitskräfte verübten mutmaßlich außergerichtliche Hinrichtungen in den Regionen Gambela, Afar und Somali.

Konflikt in der Region Somali

Im September 2012 nahmen die Regierung und die ONLF kurzeitig Friedensverhandlungen auf, um den seit zwei Jahrzehnten andauernden Konflikt in der Region Somali zu beenden. Im Oktober kamen die Gespräche jedoch zum Stillstand.

Der Armee und ihrer Stellvertreter-Miliz, der Liyu-Polizei, wurden wiederholt Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, darunter willkürliche Inhaftierungen, außergerichtliche Hinrichtungen und Vergewaltigungen. Es gab verbreitete Berichte über Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen. Keiner dieser Vorwürfe wurde untersucht, und der Zugang zu der Region war nach wie vor stark eingeschränkt.

  • Im Juni 2012 wurde der UN-Mitarbeiter Abdirahman Sheikh Hassan wegen vermeintlicher Verbindungen zur ONLF terroristischer Straftaten für schuldig befunden und zu sieben Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Er war im Juli 2011 festgenommen worden, nachdem er mit der ONLF über die Freilassung von zwei Mitarbeitern des UN-Welternährungsprogramms verhandelt hatte.

Zwangsräumungen

Maßnahmen im Zuge der Villagization, eines Programms, das die Umsiedlung von Hunderttausenden Menschen umfasst, fanden in den Regionen Gambela, Benishangul-Gumuz, Somali, Afar und SNNP statt. Die Umsetzung des Programms, das angeblich auf die Verbesserung des Zugangs zu staatlichen Leistungen abzielt, sollte freiwillig sein. Berichten zufolge handelte es sich bei vielen der Räumungen um rechtswidrige Zwangsräumungen.

Im Zusammenhang mit der Verpachtung riesiger Gebiete an ausländische Investoren und Staudammprojekten gab es Berichte über Vertreibungen der Bevölkerung in großem Stil, dabei soll es sich teilweise um rechtswidrige Zwangsräumungen gehandelt haben.

Der Bau von großen Staudämmen wurde fortgesetzt. Er war begleitet von ernsthaften Bedenken wegen des Mangels an Konsultationen, der Vertreibung der lokalen Bevölkerung ohne angemessene Schutzmaßnahmen und der negativen Auswirkungen auf die Umwelt.

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