Amnesty Report Venezuela 08. Mai 2012

Venezuela 2012

 

Amtliche Bezeichnung: Bolivarische Republik Venezuela Staats- und Regierungschef: Hugo Chávez Frías Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 29,4 Mio. Lebenserwartung: 74,4 Jahre Kindersterblichkeit: 17,5 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 95,2%

Menschenrechtsverteidiger erhielten Drohungen, und gegen Regierungskritiker wurden weiterhin politisch motivierte Anklagen erhoben. Es mangelte an wirkungsvollen Verfahren, die sicherstellten, dass Polizeibeamte im Falle von Verstößen zur Rechenschaft gezogen wurden und die durch ihre abschreckende Wirkung weitere Übergriffe verhinderten. In den völlig überbelegten Haftanstalten gab es schwerwiegende Gewaltausbrüche, die mehrere Tote zur Folge hatten.

Hintergrund

In Städten stellten Gewalttaten von Kriminellen, aber auch gewaltsame Aktionen der Polizei weiterhin ein Problem dar. Um die Verbreitung von Kleinwaffen zu bekämpfen, die eine wesentliche Ursache der Gewalt war, rief die Regierung im Mai 2011 die Präsidiale Kommission für Waffenkontrolle, Munition und Entwaffnung (Comisión Presidencial para el Control de Armas, Municiones y el Desarme) ins Leben. Im November befahl Präsident Hugo Chávez den Einsatz von Truppen der Nationalgarde auf den Straßen, um gegen die weit verbreitete Gewaltkriminalität vorzugehen.

Es kam 2011 weiterhin zu sozialen Protesten. Die Venezolanische Beobachtungsstelle für soziale Konflikte (Observatorio Venezolano de Conflictividad Social – OVCS) registrierte allein im September 497 Protestaktionen, die sich auf eine breite Palette von Anliegen bezogen, darunter Arbeitnehmerrechte und öffentliche Sicherheit.

Im Oktober begutachtete der UN-Menschenrechtsrat die Lage der Menschenrechte in Venezuela im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR). Dabei äußerte das Gremium Bedenken, u.a. im Hinblick auf die mangelhafte Unabhängigkeit der Justiz, die Bedrohung und Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, die Bedingungen in den Gefängnissen, die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Straflosigkeit.

Der Oberste Gerichtshof (Tribunal Supremo de Justicia) missachtete im Oktober 2011 ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und verstieß damit gegen rechtlich verbindliche internationale Verpflichtungen. Der Menschenrechtsgerichtshof hatte ein gegen den Oppositionspolitiker Leopoldo López Mendoza verhängtes Verbot aufgehoben, das ihn daran hinderte, als Herausforderer des amtierenden Präsidenten Hugo Chávez für die Präsidentschaft zu kandidieren.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger wurden bedroht und waren grundlosen Beschuldigungen durch Regierungsbeamte und staatliche Medien ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen befürchteten, ihre Arbeit könnte durch das im Dezember 2010 vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Verteidigung der Nationalen Souveränität und Nationalen Selbstbestimmung (Ley de Defensa de la Soberanía Política y Autodeterminación Nacional) eingeschränkt werden. Das Gesetz verbietet Organisationen, von denen angenommen wird, dass sie sich für die Verteidigung politischer Rechte einsetzen, Geld aus dem Ausland anzunehmen. Es enthält aber keine Definition, was unter "politischen Rechten" zu verstehen ist.

  • Im Juni 2011 wurde der Direktor der Venezolanischen Beobachtungsstelle für den Strafvollzug (Observatorio Venezolano de Prisiones), Humberto Prado Sifontes, Ziel einer Einschüchterungskampagne, die mit Morddrohungen einherging. Er hatte die Regierung aufgefordert, einem Aufruhr im Gefängnis El Rodeo mit friedlichen Mitteln zu begegnen. Nachdem zunächst Regierungsmitglieder und staatliche Medien Anschuldigungen gegen ihn erhoben hatten, wurden seine Kontaktdaten in einem Internet-Blog veröffentlicht. Darunter stand der Hinweis: "Angaben zur Familie folgen in Kürze (...), damit das Volk ein Urteil über ihn fällen kann. Todesstrafe." Seine Frau erhielt einen anonymen Anruf, in dem ihr mitgeteilt wurde, ihr Mann sei "der Nächste, der fällt".

Polizei und Sicherheitskräfte

Die Berichte über Menschenrechtsverletzungen, die von der Polizei begangen wurden, rissen 2011 nicht ab. Den Beamten wurden u.a. rechtswidriger Tötungen und Folterungen vorgeworfen. Die Verstöße wurden in der Regel nicht sachgerecht untersucht, und es wurde so gut wie nichts unternommen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

  • Im Mai 2011 ermordeten zwei maskierte Männer Juán José Barrios in Guanayén im Bundesstaat Aragua. Er war das siebte Mitglied der Familie Barrios, das unter Umständen ums Leben kam, die eine Beteiligung von Polizisten des Bundesstaates Aragua an der Tötung nahelegten. Im Januar erlitt Néstor Caudi Barrios bleibende Verletzungen, nachdem er von zwei Männern auf Motorrädern angeschossen worden war. Er war Augenzeuge der außergerichtlichen Hinrichtung von Narciso Barrios im Jahr 2003. Bis zum Jahresende lagen keine Berichte über Fortschritte bei der Aufklärung dieser Fälle vor.

  • Im Januar 2011 wurden Daniel Antonio Núñez und seine 16-jährige Tochter Francis Daniela Núñez Martínez in Caracas von Polizeibeamten einer Sonderermittlungseinheit (Cuerpo de Investigaciones Científicas, Penales y Criminalísticas – CICPC) geschlagen und bedroht. Sie sollten auf diese Weise offenbar eingeschüchtert und davon abgehalten werden, als Zeugen einer Schießerei in der Nähe ihres Hauses auszusagen.

  • Im Februar 2011 erhielten die ehemalige Ehefrau und die minderjährigen Töchter des Polizeibeamten Jonny Montoya Morddrohungen. Jonny Montoya hatte auf die zunehmende Korruption während der Amtszeit des ehemaligen Polizeipräsidenten der städtischen Polizei von Caracas hingewiesen.

Unterdrückung Andersdenkender

Gegen Regierungskritiker wurden weiterhin politisch motivierte Anklagen erhoben.

  • Im Februar 2011 wurde der Generalsekretär der Bergarbeitergewerkschaft der Eisenerzmine von Orinoco (Sindicato Integral de Trabajadores de CVG Ferrominera Orinoco), Rubén González, wegen verschiedener Vergehen schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Ihm wurden u.a. Anstiftung zu Straftaten und Verschwörung vorgeworfen, weil er im Jahr 2009 einen Streik organisiert hatte. Drei Tage nach der Urteilsverkündung ordnete der Oberste Gerichtshof seine Freilassung auf Bewährung an.

  • Im Juli 2011 wurde Oswaldo Álvarez Paz von einem Strafgericht in Caracas wegen der Verbreitung "falscher Informationen" zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt, nachdem er im März 2010 in einer Sendung des Fernsehsenders Globovisión die Regierung kritisiert hatte. Oswaldo Álvarez Paz war Mitglied einer Oppositionspartei und ehemaliger Gouverneur des Bundesstaats Zulia. Der Richter stimmte nachträglich seiner Freilassung und einer Verbüßung der Strafe unter Bewährungsauflagen zu.

Unabhängigkeit der Justiz

Es gab weiterhin Besorgnis hinsichtlich der mangelnden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz.

  • Im Februar 2011 wurde die Richterin María Lourdes Afiuni Mora unter Hausarrest gestellt, nachdem sie mehr als ein Jahr im Gefängnis verbracht hatte. Sie war im Dezember 2009 willkürlich festgenommen worden, nachdem sie den Bankier Eligio Cedeño auf Bewährung freigelassen hatte. In der Haft wurde sie bedroht, und man verwehrte ihr eine angemessene medizinische Versorgung. Die Richterin weigerte sich, das Gerichtsgebäude zu betreten. Sie wollte auf diese Weise ihrem Prostest gegen die Verletzung ihres Rechts auf ein ordentliches Gerichtsverfahren Ausdruck verleihen. Ihr Hausarrest wurde im Dezember 2011 um zwei Jahre verlängert..

Haftbedingungen

In den chronisch überbelegten Gefängnissen kam es weiterhin zu Gewaltausbrüchen. Im Juni 2011 führten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden im Gefängnis El Rodeo zum Tod von 27 Gefangenen. Im Juli kündigte die Ministerin für den Strafvollzug an, man werde 40% der Häftlinge freilassen, um das Problem der Überbelegung zu entschärfen. Im November drohte sie öffentlich damit, Richter zu entlassen, die sich ihren Plänen widersetzten, Verfahren zu beschleunigen, bei denen Angeklagte wegen geringfügiger Vergehen vor Gericht standen. Nach Angaben der Venezolanischen Beobachtungsstelle für den Strafvollzug war im Jahr 2010 nur ein Viertel aller Häftlinge bereits verurteilt. Bei den übrigen Inhaftierten handelte es sich um Personen, deren Verfahren noch anhängig waren, deren vorläufige Anhörung noch ausstand oder gegen die noch ermittelt wurde.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Meinungsfreiheit wurde noch stärker eingeschränkt. Im Oktober 2011 verhängte die staatliche Regulierungsbehörde für Medien (Comisión Nacional de Telecomunicaciones – CONATEL) eine hohe Geldstrafe gegen den Fernsehsender Globovisión. Die Behörde warf dem Sender Verstöße gegen das Gesetz über soziale Verantwortung in Radio, Fernsehen und den elektronischen Medien (Ley de Responsabilidad Social en Radio, Televisión y Medios Electrónicos) vor. Mit seiner Berichterstattung über den Aufruhr im Gefängnis El Rodeo habe Globovisión "Verbrechen gerechtfertigt" und "aus politischen Gründen Hass" gefördert. Der Fernsehsender, dessen Journalisten bereits zuvor bedroht und attackiert worden waren und gegen den noch weitere Verfahren liefen, legte im November Rechtsmittel gegen die jüngste Entscheidung der Behörden ein. Der Einspruch war am Jahresende noch anhängig.

  • Leocenis García, der Herausgeber der Wochenzeitung Sexto Poder, wurde im August wegen Beleidigung von Staatsbediensteten und frauenfeindlicher Beleidigung festgenommen. Die Anklage stand im Zusammenhang mit einem im August publizierten satirischen Artikel und einer Fotomontage, die hochrangige weibliche Regierungsmitglieder zeigte. Er kam im November auf Bewährung frei.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Gewalt gegen Frauen und Mädchen war nach wie vor weit verbreitet. Die Behörden hatten in den vergangenen Jahren zwar einige Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen ergriffen, doch ein Aktionsplan lag noch immer nicht vor. Auch die Ausführungsbestimmungen zur Umsetzung des 2007 erlassenen Gesetzes über das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt (Ley Orgánica sobre el Derecho de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia) standen noch aus.

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