Amnesty Report Mittlerer Osten und Nordafrika 18. Mai 2012

Naher Osten und Nordafrika 2012

 

"Wir haben keine Angst getötet, verletzt, festgenommen oder gefoltert zu werden. Es gibt einfach keine Angst mehr. Die Leute wollen in Würde leben. Deshalb werden wir nicht aufhören." (Ahmed Harara, Zahnarzt. Er wurde am 28. Januar 2011 durch Schüsse an einem Auge verletzt und erlitt am 19. November 2011 Verletzungen am zweiten Auge, so dass er erblindete.)

Für die Menschen und Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas war 2011 ein überaus bedeutungsvolles Jahr. Es war ein Jahr beispielloser Volksaufstände und Unruhen. Es war ein Jahr, in dem sich der aufgestaute Druck einer heranwachsenden Generation entlud und ihre Forderungen und Proteste eine Reihe langjähriger Herrscher hinwegfegten, die sich bis zu ihrem Sturz für nahezu unangreifbar gehalten hatten. Einige klammerten sich Ende des Jahres noch immer an die Macht, ihr weiterer Verbleib war jedoch fraglich, denn sie konnten sich nur noch halten, indem sie mit äußerst skrupellosen Mitteln vorgingen. Die anhaltenden Erschütterungen und Nachbeben, die durch das politische und soziale Erdbeben zu Beginn des Jahres ausgelöst worden waren, brachten die Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas allesamt in Bedrängnis. Vieles war zwar noch nicht absehbar, doch schienen die Ereignisse von 2011 für die Bevölkerung dieser Länder von vergleichbarer Bedeutung zu sein wie der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion für die Menschen in Europa und Zentralasien.

Kennzeichnend für die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas war 2011 die breit vorgebrachte Forderung nach Wandel: Die Menschen forderten mehr Freiheit, um ungehindert und ohne Angst vor lähmender staatlicher Unterdrückung sprechen und handeln zu können.

Sie verlangten von den Regierungen Transparenz, die Übernahme von Verantwortung und ein Ende der weit verbreiteten Korruption auf höchster politischer Ebene. Sie äußerten den Wunsch nach mehr Arbeitsplätzen, besseren Arbeitsbedingungen und einem höheren Lebensstandard. Außerdem setzten sie sich für Gerechtigkeit und Menschenrechte ein, vor allem für das Recht auf ein Leben in Würde und Sicherheit für sich und ihre Familien.

Hunderttausende Demonstrierende, darunter auffallend viele Frauen, unterstrichen diese Forderungen, indem sie in Tunis, Kairo, Bengasi, Sana’a und vielen anderen Städten auf die Straße gingen und für den Wandel demonstrierten. Sie ließen sich nicht davon abbringen, selbst als die Sicherheitskräfte der Regierungen ein Blutbad unter ihnen anrichteten. Mit ihrer Entschiedenheit, ihrer Entschlossenheit und ihrem großen Mut befreiten sie sich von der Angst, mit der ihre Regierungen sie jahrelang zum Schweigen und Stillhalten gezwungen hatten. Zumindest eine Zeit lang war die Macht des Volkes deutlich zu spüren und erschütterte die Staaten in ihren Grundfesten.

Zu Beginn der Proteste äußerten die Menschen vor allem ihren Unmut über die Unfähigkeit ihrer Regierungen, den Bedürfnissen und Hoffnungen der Bevölkerung gerecht zu werden. Diese reagierten erwartungsgemäß, indem sie Bereitschaftspolizei und Sicherheitskräfte einsetzten, um die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen. Damit gossen sie jedoch nur Öl ins Feuer und fachten die Empörung und Entschlossenheit der Demonstrierenden noch weiter an. Als Protestierende kaltblütig erschossen und massenhaft inhaftiert, misshandelt und gefoltert wurden, brachte dies die breite Bevölkerung zunehmend auf. Unbeeindruckt vom Blutvergießen gingen immer mehr Menschen auf die Straßen und forderten die Ablösung oder den Sturz der Machthaber, die sich diskreditiert hatten und von der Bevölkerung dafür verachtet wurden, wie sie sich mit Hilfe ihrer Familiendynastien an die Macht klammerten. Der rasche Fall des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali und kurz darauf der Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak fanden auch in anderen Staaten Widerhall und weckten die Hoffnung auf einen Wandel und auf Reformen. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde eine Art Dominoeffekt entstehen, der auch andere repressive und autoritäre Machthaber in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas aus dem Amt jagen könnte.

Innerhalb von wenigen Monaten fand die 42-jährige Herrschaft von Oberst Mu’ammar al-Gaddafi in Libyen ein jähes und blutiges Ende. Sowohl im Jemen als auch in Syrien standen die langjährigen Regime buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und kämpften angesichts anhaltender Massenproteste um ihr politisches Überleben. In Bahrain erstickte die Regierung die Proteste mit exzessiver Gewalt und Unterdrückungsmaßnahmen, um gegen Jahresende dann allerdings politische Reformen und die Achtung der Menschenrechte zu versprechen. In Staaten wie Algerien, Jordanien und Marokko beeilten sich die Regierenden, der Bevölkerung Reformen und mehr Mitspracherechte in Aussicht zu stellen. Im erdöl- und erdgasreichen Saudi-Arabien sowie in weiteren Golfstaaten griffen die Machthaber auf ihre Finanzpolster zurück und versuchten auf diese Weise, sozialen Missständen abzuhelfen und die Bevölkerung versöhnlich zu stimmen.

Aufstände

Anfang 2011 begann es in Tunesien zu brodeln. Eine Zeitlang versuchte Präsident Ben Ali noch, die Proteste auf dieselbe Weise zu unterbinden, wie er im Jahr 2008 die Unruhen in der Region Gafsa niedergeschlagen hatte: durch die Anwendung brutaler Gewalt. Innerhalb weniger Wochen kamen rund 300 Menschen gewaltsam ums Leben. Doch gelang es dieses Mal nicht, die Entschlossenheit der Protestierenden zu brechen. Am 14. Januar 2011 verlor Ben Ali die Nerven – zusammen mit weiteren Angehörigen seines Familienclans bestieg er ein Flugzeug und floh ins sichere Saudi-Arabien. Es war ein magischer Moment, als die Regierungen und die Völker Nordafrikas und des Nahen Ostens begriffen, dass etwas geschehen war, das bis dahin niemand für möglich gehalten hatte: die erzwungene Flucht eines Alleinherrschers, der sein Land mehr als 20 Jahre lang unterdrückt hatte. Ben Alis jäher Sturz versetzte andere repressive Regierungen in Nordafrika und im Nahen Osten in Alarmbereitschaft. Unzählige Menschen, die die Ereignisse über den Nachrichtensender Al Jazeera und andere Satellitensender verfolgten, gewannen durch den tunesischen Aufstand neue Hoffnung und wurden in ihrer Überzeugung bestärkt, dass sie in ihren Ländern dasselbe erreichen könnten wie die Menschen in Tunesien.

Innerhalb von zwei Wochen fanden die Ereignisse von Tunesien in Ägypten ein Echo – und zwar in noch größerem Maßstab. Für die ägyptische Bevölkerung wurde der Kairoer Tahrir-Platz zum zentralen Bezugspunkt und zu einem wichtigen Schauplatz, um ihre Forderungen nach einem Wandel im Land vorzubringen. Das Internet, die sozialen Netzwerke und Mobiltelefone trugen maßgeblich dazu bei, Aktionen zu organisieren und zu koordinieren. In nur 18 Tagen stellten die Protestierenden die "Revolution vom 25. Januar" auf die Beine und lösten damit den Sturz von Präsident Mubarak aus, der 30 Jahre lang ununterbrochen geherrscht hatte. Sie erreichten dies, obwohl die Sicherheitskräfte und von der Regierung angeheuerte Schlägerbanden mit extremen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Demonstrierenden vorgingen.

Mindestens 840 Menschen verloren ihr Leben, und mehr als 6000 wurden verletzt.

Tausende Personen kamen in Haft, wurden geschlagen oder gefoltert. Am 11. Februar 2011 gab Hosni Mubarak seinen Rücktritt bekannt, und der Oberste Militärrat übernahm die Regierungsgeschäfte. Mubarak zog sich in seine Villa im Badeort Sharm el-Sheikh am Roten Meer zurück und wurde im August in Kairo wegen Korruption vor Gericht gestellt. Die Anklage warf ihm außerdem vor, den Einsatz tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende angeordnet zu haben.

Mubaraks Sturz, der sich vor den Augen der internationalen Medien abspielte, löste auch in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens Aufrufe zu Massenprotesten aus. In Bahrain organisierten Protestierende, die überwiegend der schiitischen Bevölkerungsmehrheit angehörten, ab Februar friedliche Demonstrationen. Sie bauten auf dem Perlenplatz der Hauptstadt Manama ein Zeltlager auf, forderten mehr Mitsprache bei der Gestaltung des Landes und ein Ende ihrer Benachteiligung, für die sie die Herrscherfamilie Al Khalifa verantwortlich machten.

Wenige Tage später wurden die Protestierenden unter Anwendung exzessiver Gewalt vertrieben. Gegen erneute Protestaktionen im März ging die Regierung mit noch größerer Brutalität vor. Im Iran riefen die Initiatoren der 2009 von Regierungskräften niedergeschlagenen Massenproteste erneut zu Kundgebungen auf und wurden daraufhin unter Hausarrest gestellt.

In Algerien mobilisierte die Regierung 2011 eine Vielzahl von Sicherheitskräften, um Demonstrationen aufzulösen. Gleichzeitig bemühte sie sich, die Spannungen im Land zu entschärfen, indem sie den seit 19 Jahren andauernden Ausnahmezustand aufhob. Der omanische Herrscher Sultan Qaboos bin Said versprach, Tausende neue Arbeitsplätze zu schaffen und erhöhte die Unterstützungszahlungen für Arbeitslose.

Inhaftierte Demonstrierende wurden auf seine Anordnung hin freigelassen. In Saudi-Arabien soll die Regierung mehr als 100 Mrd. US-Dollar an die Bürger gezahlt haben, gleichzeitig wurde jegliche öffentliche Kundgebung verboten. Die Sicherheitskräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt, um alle, die an einem geplanten "Tag des Zorns" in Riad teilnehmen wollten, davon abzuhalten.

Die Proteste im Jemen wurden im Januar 2011 durch eine geplante Verfassungsänderung ausgelöst, die es Präsident Ali Abdullah Saleh erlaubt hätte, lebenslang im Amt zu bleiben und dieses dann an seinen Sohn zu übergeben. Ermutigt durch die Ereignisse in Ägypten und in anderen Ländern hielten die Protestaktionen das ganze Jahr über an. Während die Sicherheitskräfte wahllos auf Demonstrierende schossen, versuchte Präsident Saleh mit zahlreichen Manövern, sein langjähriges Machtmonopol aufrechtzuerhalten. Gegen Jahresende war seine Position bereits stark geschwächt, doch klammerte er sich weiterhin an die Macht – selbst als der Golfkooperationsrat ihm Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung versprach, obwohl seine Sicherheitskräfte eine Vielzahl rechtswidriger Tötungen und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen begangen hatten. Dass man ihm und weiteren Verantwortlichen Straffreiheit anbot, stellte einen Affront gegen die Gerechtigkeit und einen ungeheuerlichen Verrat an den Opfern der Verbrechen des Regimes dar.

In dem zwischen Tunesien und Ägypten liegenden Libyen führten die Ereignisse in den Nachbarländern dazu, dass die Bevölkerung neue Hoffnung schöpfte. 42 Jahre lang hatte ihr Staatschef Mu’ammar al-Gaddafi das Recht auf Meinungsfreiheit und die Gründung unabhängiger Parteien, Gewerkschaften oder anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen verwehrt. Dabei konnte er sich nur deshalb so lange an der Macht halten, weil er einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielte. Diejenigen, die ihm loyal erschienen, wurden bevorzugt, während er gegen Kritiker brutal und erbarmungslos vorging. Nachdem al-Gaddafi wegen seiner mutmaßlichen Unterstützung des Terrorismus jahrelang isoliert worden war, war es zuletzt zu einer erneuten Annäherung zwischen den westlichen Demokratien und Libyen gekommen. Hintergrund war, dass Libyen seine Erdölförderung ausbaute, außerdem spielte das Land eine neue entscheidende Rolle als Transitland für afrikanische Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa gelangen wollten. Als zunächst Ben Ali und kurze Zeit später Hosni Mubarak stürzten, schien Mu’ammar al-Gaddafi sich seiner Macht noch sicher zu sein. Doch im Februar 2011 führten regierungskritische Demonstrationen dazu, dass auch in Libyen ein Volksaufstand ausbrach. Daraus entwickelte sich schon bald ein internationaler bewaffneter Konflikt unter Beteiligung der NATO.

Der Höhepunkt war am 20. Oktober erreicht, als al-Gaddafi gefangen genommen wurde und gewaltsam zu Tode kam, als er versuchte, aus seiner letzten Hochburg, der belagerten Stadt Sirte, zu fliehen. Ein Nationaler Übergangsrat übernahm die Regierungsgeschäfte; ihm mangelte es jedoch am Jahresende noch an der nötigen Autorität. In dem Land waren massenhaft Waffen im Umlauf. Bewaffnete Milizen, die Vergeltungsmaßnahmen gegen mutmaßliche Gaddafi-Unterstützer verübten, stellten eine ständige Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar.

In Syrien kam es im Februar 2011 zu ersten vereinzelten und zaghaften Protesten gegen das Regime der Assad-Familie, die seit 1970 an der Macht ist. Als die Sicherheitskräfte jedoch Kinder inhaftierten und dem Vernehmen nach misshandelten, die in der Stadt Dera’a im Süden des Landes regierungskritische Slogans auf eine Wand gemalt hatten, löste dies Massenproteste aus, die sich schnell auf andere Städte ausweiteten. Völlig überrascht von diesen Ereignissen verweigerte die Regierung internationalen Journalisten und unabhängigen Beobachtern die Einreise nach Syrien. Um die Proteste niederzuschlagen, ging sie mit skrupelloser Brutalität gegen unbewaffnete Protestierende vor. Dabei wurden Scharfschützen auf Dächern postiert, Menschenmengen unter Beschuss genommen und Armeepanzer in Städten und Dörfern zum Einsatz gebracht – gleichzeitig behauptete die Regierung, für die Tötungen seien undurchsichtige oppositionelle bewaffnete Banden verantwortlich.

Bis zum Jahresende waren nach Angaben der UN rund 5000 Menschen getötet worden, die meisten von ihnen Zivilpersonen. Tausende von Menschen erlitten Verletzungen, und Tausende wurden inhaftiert, unter ihnen auch Verletzte. In einigen Gegenden des Landes schien sich bereits ein Bürgerkrieg abzuzeichnen zwischen Regierungstruppen und desertierten Soldaten, die sich der Opposition angeschlossen hatten.

Die syrische Regierung versuchte, sowohl das Ausmaß der Proteste als auch die extreme Gewalt, mit der sie darauf reagierte, zu vertuschen. Dass ihr dies nicht vollständig gelang, war dem Mut und der Entschlossenheit der Aktivisten und Zeugen vor Ort zu verdanken. Sie dokumentierten die Massaker mit ihren Mobiltelefonen und stellten Hunderte von Videos ins Internet. Einige der Aufnahmen zeigten Leichen von Menschen, die in der Haft zu Tode gefoltert und in einigen Fällen verstümmelt worden waren. Unter den Opfern befanden sich auch Kinder.

Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft

Die USA und andere westliche Regierungen, die über lange Zeit wichtige Verbündete der autokratischen Machthaber in Tunesien und Ägypten gewesen waren, erkannten zunächst nicht die Bedeutung der Proteste und reagierten nur sehr verhalten. Bald kam es jedoch zu einem Umdenken – man räumte nun endlich den gewaltsamen Charakter der vom Umsturz bedrohten Regime ein. Als in Libyen ein bewaffneter Konflikt ausbrach, gingen die Regierungen entschlossen gegen Oberst al-Gaddafi vor und wurden dabei von den wichtigsten Golfstaaten unterstützt. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubte, machte den Weg frei für Luftangriffe der NATO, die ausschlaggebend waren für den Sieg der libyschen Opposition.

In Bahrain, wo die 5. Flotte der US-Marine stationiert ist, und vor allem in Syrien und im Jemen benötigten Protestierende ebenfalls dringend Schutz vor der mörderischen Politik ihrer Regierungen. Doch war die internationale Gemeinschaft in ihrem Fall deutlich weniger geneigt, Unterstützung anzubieten. Während der UN-Sicherheitsrat Mu’ammar al-Gaddafi an den Internationalen Strafgerichtshof überstellen wollte, wurden im Falle des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad keine entsprechenden Schritte unternommen, obwohl erdrückende Beweise dafür vorlagen, dass seine Sicherheitskräfte Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübten.

Russland, China und die Regierungen der aufstrebenden Industrienationen Brasilien, Indien und Südafrika nutzten 2011 ihren Einfluss im UN-Sicherheitsrat, um wirksame Maßnahmen gegen Syrien zu verhindern. Nicht einmal, dass die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte ihre Stimme gegen die Verbrechen des Assad-Regimes erhob, konnte daran etwas ändern. Saudi-Arabien verurteilte zwar die Verbrechen der syrischen Regierung, verweigerte jedoch dem eigenen Volk das Recht auf Demonstrationen. Das Land schickte zudem Truppen nach Bahrain, wenige Stunden bevor die Aufstände dort im März blutig niedergeschlagen wurden. Insgesamt entsprachen die internationalen Reaktionen einem nur allzu bekannten Muster: Die Regierungen jedweder politischen Couleur handelten nur in ausgewählten Fällen und ordneten die Menschenrechte – trotz anderslautender Beteuerungen – ihren jeweiligen eigenen Interessen unter.

Konflikte und Unterdrückung Andersdenkender

Die Aufstände beherrschten 2011 das gesamte Jahr über die Schlagzeilen. Andere tief verwurzelte Probleme, die sich verheerend auf die Lage der Menschenrechte im Nahen Osten, in Nordafrika und darüber hinaus auswirkten, traten dadurch in den Hintergrund.

Israel hielt die Blockade des Gazastreifens aufrecht und verlängerte damit die dort herrschende humanitäre Krise. Die Regierung betrieb weiterhin offensiv den Ausbau der Siedlungen im palästinensischen Westjordanland, das von Israel seit 1967 besetzt gehalten wird. Die beiden führenden politischen Organisationen der Palästinenser, Fatah und Hamas, unterzeichneten zwar im Mai ein Versöhnungsabkommen, blieben jedoch zerstritten und gingen jeweils gegen die Anhänger der gegnerischen Partei vor. Die israelische Armee und bewaffnete palästinensische Gruppierungen befehdeten sich im Gazastreifen mit wechselseitigen Vergeltungsangriffen. Die altbekannte und betrübliche Geschichte des Nahostkonflikts setzte sich fort und forderte der Bevölkerung erneut große Opfer ab.

Die iranische Regierung wurde auf internationaler Ebene immer stärker isoliert und ging im eigenen Land unerbittlich gegen jede Form von Kritik vor. Zu denjenigen, die verfolgt wurden, zählten Menschenrechtsverteidiger, Frauenrechtlerinnen und Personen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzten. Die Todesstrafe fand breite Anwendung – sie sollte vorgeblich der Bestrafung von Straftätern dienen, wurde aber auch eingesetzt, um die gesamte Bevölkerung einzuschüchtern. Weltweit vollstreckte nur China mehr Todesurteile als der Iran.

Unklar blieb, wie sich der Rückzug der US-Streitkräfte aus dem Irak nach acht Jahren Konflikt auf die Sicherheitslage in dem Land auswirken würde.

Die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung der Westsahara war weiterhin eine offene Wunde und vergiftete die politischen Beziehungen im Maghreb.

Auch andere systematische Menschenrechtsverletzungen setzten sich fort. Sie waren einerseits Auslöser für Volksaufstände und Protestaktionen, gleichzeitig wurden sie durch die Reaktionen der Regierungen noch weiter verschärft. So waren willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Fälle von Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen, unfaire Gerichtsverfahren und außergerichtliche Hinrichtungen durch staatliche Kräfte in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens weiterhin an der Tagesordnung. Die Machthaber duldeten fast ausnahmslos die von ihren Sicherheitskräften verübten Tötungen und Folterungen, ohne sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. In Ägypten gab der Oberste Militärrat dem Druck der Öffentlichkeit nach und löste den Staatssicherheitsdienst auf, der unter Hosni Mubarak berüchtigt war für Folter. Doch hörte die Praxis der Folter damit nicht auf, sie wurde schlicht von der Armee übernommen, die sogar einige Demonstrantinnen zu sogenannten Jungfräulichkeitstests zwang. Tausende von Zivilpersonen wurden inhaftiert und vor Militärgerichte gestellt, dabei entsprachen die Prozesse nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Doch trotz der Unterdrückungsmaßnahmen der neuen Behörden forderten Tausende von Menschen weiterhin hartnäckig einen politischen und sozialen Wandel sowie die Achtung der Menschenrechte.

Diskriminierung

Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, nationaler Herkunft oder anderen Faktoren, wie z.B. sexueller Orientierung, war 2011 noch immer verbreitet. Das Empfinden von Ungerechtigkeit, das damit einherging, war ein maßgeblicher Auslöser für eine Vielzahl von Protesten. So versammelten sich in Kuwait staatenlose Bidun und verlangten, als Staatsbürger anerkannt zu werden.

Gleichzeitig trugen die Unruhen dazu bei, bestehende Gräben zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen zu vertiefen. In Libyen griffen Milizen sowohl libysche als auch ausländische Staatsbürger wegen ihrer Hautfarbe an. Mit Blick auf Syrien gab es die Befürchtung, das Land mit seiner komplexen Bevölkerungsstruktur, die Gruppen verschiedener religiöser und ethnischer Zugehörigkeit umfasst, könne in einen ähnlich erbitterten und hasserfüllten Bürgerkrieg abgleiten wie derjenige, der den Libanon von 1975 bis 1990 gespalten hatte. Bis heute ist das Erbe dieses Bürgerkrieges, der zu vielen Verschwundenen und zu einem tiefen Misstrauen geführt hat, nicht aufgearbeitet. In Ägypten war die Diskriminierung von Kopten weiterhin an der Tagesordnung. Im Iran wurden religiöse und ethnische Minderheiten nach wie vor durch die Gesetzgebung diskriminiert und erlitten Verfolgung, wie z.B. die Minderheit der Baha’i.

Zu den Hauptleidtragenden des Konflikts in Libyen zählten Migranten, von denen viele aus Ländern südlich der Sahara stammten. Die Kampfhandlungen zwangen Tausende von ihnen zur Flucht. Viele retteten sich nach Ägypten oder Tunesien, andere saßen wochen- oder monatelang in Libyen fest und wurden Opfer rassistisch motivierter Angriffe. Oft wurden sie bezichtigt, "Söldner" im Dienste von Oberst al-Gaddafi zu sein. Einige Migranten, darunter viele Eritreer und Somalier, die in Ägypten und Tunesien Unterschlupf gefunden hatten, konnten nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren, weil ihnen dort Verfolgung drohte. Ende 2011 wurden sie in entlegene Lager in der libyschen Wüste verlegt und warteten dort auf eine Umsiedlung nach Europa oder in andere sichere Länder. Viele verloren ihr Leben bei dem Versuch, mit Booten nach Italien überzusetzen.

In vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas wurden Arbeitsmigranten aus armen Entwicklungsländern misshandelt und ausgebeutet. Dabei hielten sie z.B. in einigen Golfstaaten faktisch die Wirtschaft in Gang. Das jeweilige Arbeitsrecht bot ihnen keinen ausreichenden Schutz, falls es überhaupt Anwendung auf sie fand. Am härtesten waren weibliche Hausangestellte betroffen. Sie litten unter mehrfacher Diskriminierung: als Frauen, als Migrantinnen und als ausländische Staatsangehörige, deren eigene Regierungen sich oft nur wenig oder gar nicht für ihre Notlage interessierten.

Wirtschaftliche Rechte – Wohnen und Lebensunterhalt

Ende 2011 ließ sich noch nicht abschätzen, wie sich die ägyptische "Revolution vom 25. Januar" auf die Millionen armer und an den Rand gedrängter Menschen in den informellen Siedlungen des Landes auswirken würde, ob sie womöglich sogar zu einer Verbesserung ihrer Situation führen könnte. Viele Menschen lebten weiterhin an Orten, die offiziell als "unsicher" eingestuft waren, da dort Steinschlag und andere Gefahren drohten. Außerdem fehlte es ihnen an grundlegenden Versorgungsleistungen wie sauberem Trinkwasser, funktionierenden sanitären Anlagen oder elektrischem Strom. Immer wieder wurden sie Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen, ohne vorher darüber in Kenntnis gesetzt oder angehört worden zu sein. Der Oberste Militärrat ordnete im Laufe des Jahres weitere Zwangsräumungen in Manshiyet Nasser an, einer schnell wachsenden, slumähnlichen informellen Siedlung am Stadtrand von Kairo, in der 2008 mehr als 100 Bewohner durch Steinschlag ums Leben gekommen waren. Er setzte damit die Politik Hosni Mubaraks fort und machte noch mehr Familien obdachlos.

Auch die israelischen Behörden zwangen 2011 weiterhin Menschen dazu, ihre Häuser zu verlassen. Betroffen waren sowohl palästinensische Bewohner des Westjordanlands einschließlich Ost-Jerusalems als auch arabische Israelis, die in "nicht anerkannten" Dörfern in der Negev-Wüste und anderswo lebten. Die Behörden setzten ihre Politik der Zerstörung von Wohnhäusern und anderen Bauten fort, die ohne behördliche Erlaubnis gebaut worden waren, nachdem die Behörden den Bewohnern zuvor genau diese Genehmigungen vorenthalten hatten. Im Gegensatz dazu wurden Tausende jüdischer Israelis, die in widerrechtlich auf besetztem palästinensischem Gebiet errichteten Siedlungen lebten, ausdrücklich ermutigt, diese auszudehnen, weiter auszubauen und zu befestigen, obwohl diese Siedlungen völkerrechtlich verboten sind. Israels anhaltende Blockade des Gazastreifens führte dazu, dass die Wirtschaft dort weiterhin lahmgelegt war und die bewusst erzeugte humanitäre Krise sich fortsetzte. Sie traf schutzbedürftige Menschen besonders hart, darunter Kinder, ältere Menschen und Personen, die dringend eine fachärztliche Behandlung benötigten, die es in Gaza nicht gab. Die Blockade stellte nichts Geringeres als eine kollektive Bestrafung für die 1,6 Mio. Einwohner von Gaza dar und damit einen Verstoß gegen das Völkerrecht.

Als sich der 24-jährige Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst verbrannte, konnte niemand vorhersehen, welchen Sturm des Protests und des Wandels diese tragische und tödliche Verzweiflungstat in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens entfachen würde. Ein Jahr später war die anfängliche Euphorie so gut wie verflogen. Das, was die Volksaufstände zunächst an Erfolgen erreicht hatten, war alles andere als sicher. Und die Kämpfe für einen Wandel in Syrien, im Jemen, in Bahrain, Libyen und anderswo forderten noch immer einen hohen Preis an Menschenleben und gingen mit massiven Menschenrechtsverletzungen einher. Dennoch war Ende 2011 deutlich spürbar, dass die alte, in Verruf geratene Ordnung dank des mutigen und entschlossenen Einsatzes der Menschen bald Geschichte sein würde. Für die Völker Nordafrikas und des Nahen Ostens bestand kaum ein Zweifel daran, dass ein langer Marsch begonnen hatte, hin zu mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten für alle.

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