Amnesty Report Europa und Zentralasien 18. Mai 2012

Europa und Zentralasien 2012

 

"Ich bin glücklich, wieder frei zu sein. Und ich bin Amnesty International sehr dankbar, weil ihr euch von Anfang an für mich eingesetzt habt. Ich bin überzeugt, dass ihr mich gerettet habt. Vielen Dank an alle, die für mich getwittert haben." (Der aserbaidschanische Journalist und gewaltlose politische Gefangene Eynulla Fatullayev aus Baku.)

Es war ein Frühlingstag, frühmorgens, als eine der größten Fahndungen Europas in einem kleinen serbischen Dorf ihr Ende fand: Ex-General Ratko Mladic, der wegen der Ermordung von 8000 Männern und Jungen in Srebrenica und anderer Verbrechen gesucht wurde, konnte endlich gestellt und an die Justiz übergeben werden. Zwei Monate später wurde auch der ehemalige Anführer der kroatischen Serben, Goran Hadzÿic, in Serbien verhaftet und nach Den Haag überstellt. Er war der letzte noch flüchtige Angeklagte des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.

Für die Opfer der entsetzlichen Verbrechen, die in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren begangen worden waren, war dies von enormer Bedeutung. Die längst überfälligen Verhaftungen ließen die Überlebenden hoffen, dass sie nun endlich Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erlangen würden. In anderen Ländern Europas und Zentralasiens warteten viele Menschen hingegen noch immer darauf, dass man ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließ, anstatt dies immer wieder aufzuschieben.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Während es 2011 in der arabischen Welt Zeichen der Hoffnung und des Wandels gab, waren die autokratischen Regime in einer Reihe von Nachfolgestaaten der Sowjetunion bestrebt, ihren Machtanspruch zu festigen. Sie schlugen Proteste nieder, inhaftierten führende Oppositionelle und brachten kritische Stimmen zum Schweigen. Vielen Menschen schien es, als seien die Hoffnungen, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 20 Jahren einhergingen, nur noch eine vage Erinnerung.

In Belarus wurden Proteste gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug im Vorjahr verboten oder aufgelöst. Hunderte von Protestierenden kamen in Haft und erhielten Geldstrafen. Es wurden drakonische Maßnahmen verhängt, die das Recht auf Versammlungsfreiheit noch weiter einschränkten. Auch kritische Menschenrechtsorganisationen gerieten in die Schusslinie. In Aserbaidschan waren regierungsfeindliche Demonstrationen faktisch geächtet. Die Regierung reagierte auf erste Ansätze eines öffentlichen Protests mit einer neuen Welle der Unterdrückung und Einschüchterung. Die für März und April 2011 geplanten Demonstrationen gegen Korruption und für mehr bürgerliche und politische Freiheiten wurden zunächst aus nicht nachvollziehbaren Gründen verboten und dann gewaltsam aufgelöst, obwohl sie friedlich waren. Wie in Belarus bekamen auch in Aserbaidschan kritische Nichtregierungsorganisationen und Journalisten Repressalien zu spüren. So mussten fünf Menschenrechtsorganisationen ihre Arbeit einstellen, und mehrere Journalisten berichteten über Fälle von Einschüchterung und Schikanierung unmittelbar nach den Protesten.

In den zentralasiatischen Ländern Turkmenistan und Usbekistan wurden die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit nach wie vor stark beschnitten. Echten Oppositionsparteien wurde weiterhin die Registrierung verweigert, und sozial engagierte Bürger konnten nur selten offen tätig werden. Kritische Journalisten und Menschenrechtsverteidiger wurden routinemäßig überwacht und riskierten Prügel, Festnahmen und unfaire Verfahren. In Tadschikistan, Kasachstan und Kirgisistan sahen sich Regierungskritiker und alle, die Verstöße von Behördenvertretern offenlegten, immer häufiger unfairen Verfahren und Schikanen ausgesetzt.

In Russland bot sich ein gemischtes Bild. Wie in anderen Ländern der Region wurden Menschenrechtsverteidiger und Journalisten, die Verstöße aufdeckten, schikaniert, eingeschüchtert und geschlagen. Regierungskritische Demonstrationen wurden häufig verboten, und diejenigen, die sie organisierten oder daran teilnahmen, kamen kurzzeitig in Haft oder mussten Geldbußen zahlen. Die meisten Massenmedien und Fernsehsender standen nach wie vor unter dem starken Einfluss staatlicher bzw. örtlicher Behörden. Dessen ungeachtet war ein wachsendes gesellschaftliches Engagement zu verzeichnen. Zu den Themen, die in der Bevölkerung auf breites Interesse stießen, zählten Umweltverschmutzung und Korruption.

Das Internet war noch relativ frei von staatlicher Einflussnahme und gewann als alternative Informationsquelle und als Forum für Meinungsaustausch zunehmend an Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund kam es im Dezember 2011 zu den größten Demonstrationen, die Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt hatte. Auslöser der Proteste war die Parlamentswahl, die von verbreiteten Betrugsvorwürfen und zahlreichen nachgewiesenen Fällen von Wahlmanipulation überschattet war. Die Regierungspartei Einiges Russland von Ministerpräsident Wladimir Putin blieb zwar an der Macht, musste aber deutliche Stimmenverluste hinnehmen. Erste spontane Demonstrationen im ganzen Land unmittelbar nach der Wahl wurden aufgelöst.

Hunderte von Demonstrierenden wurden zu kurzen Haftstrafen oder Geldbußen verurteilt. Die Demonstrationen, die in den folgenden Wochen in Moskau stattfanden, waren jedoch zu groß, um sie zu verbieten. Es kam dabei zu keinen gewaltsamen Zusammenstößen.

In der Türkei mussten kritische Journalisten, politisch aktive Kurden und andere, die sich über die Lage der Kurden in der Türkei äußerten oder die Armee kritisierten, mit unfairer Strafverfolgung rechnen. Prominenten Kritikern wurde nach wie vor Gewalt angedroht, und im November traten neue Bestimmungen in Kraft, die weiteren Anlass zur Sorge hinsichtlich der willkürlichen Beschränkung von Websites boten.

Flüchtlinge und Migranten

Angesichts der politischen Unruhen in Nordafrika und im Nahen Osten wählten im Jahr 2011 Tausende von Flüchtlingen und Migranten auf der Suche nach einer sicheren Zukunft den gefährlichen Seeweg nach Europa. Die Boote waren häufig überfüllt und nicht seetüchtig.

Nach vorsichtigen Schätzungen ertranken bei den Überfahrten mindestens 1500 Menschen, darunter schwangere Frauen und Kinder. Doch anstatt Maßnahmen wie z.B. verstärkte Such- und Rettungsaktionen zu ergreifen, um die Todesfälle auf See zu verhindern, bestand die Reaktion der EU darin, die Kapazitäten der Grenzschutzagentur Frontex zu erhöhen. Auf diese Weise sollten die Menschen davon abgehalten werden, das Mittelmeer zu überqueren. Es gab Berichte, denen zufolge es die NATO unterließ, Menschen in Seenot zu retten. Dabei war die Verhinderung ziviler Opfer als wichtigstes Argument angeführt worden, um die Militärintervention in Libyen zu rechtfertigen.

Wer die Überfahrt überlebte, musste häufig feststellen, in Europa alles andere als willkommen zu sein. Anstatt auf eine humanitäre Krise eine humanitäre Antwort zu geben, konzentrierten sich die europäischen Staaten weiterhin vor allem darauf, die Grenzen zu bewachen und die Migrationsströme zu kontrollieren.

Tausende von Menschen, die es auf die italienische Insel Lampedusa schafften, wurden unter entsetzlichen Bedingungen in Empfang genommen, weil die italienischen Behörden mit der wachsenden Zahl von Neuankömmlingen überfordert waren. Häufig waren sie völlig auf sich allein gestellt. Viele mussten im Freien übernachten und hatten nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu Sanitäreinrichtungen. Auch bot ihnen die Ankunft in Europa keine Gewähr für Sicherheit: Nachdem die italienische Regierung eine Vereinbarung mit den tunesischen Behörden geschlossen hatte, wurden tunesische Staatsangehörige ab April kollektiv und im Schnellverfahren von Italien nach Tunesien ausgewiesen.

Zahlreiche europäische Länder, unter ihnen Frankreich und Großbritannien, weigerten sich, Flüchtlinge aufzunehmen, die vor dem bewaffneten Konflikt in Libyen geflohen waren, obwohl sie unter der Ägide der NATO an diesem Konflikt beteiligt waren.

In vielen Ländern Europas und Zentralasiens wurden weiterhin die Menschenrechte verletzt, indem man ausländische Staatsbürger abfing, inhaftierte oder abschob, darunter auch Personen, die ein Anrecht auf internationalen Schutz hatten. Dabei waren Inhaftierungen ein weit verbreitetes Instrument zur Abschreckung und zur Kontrolle, anstatt nur als äußerstes legitimes Mittel zu dienen.

Die Asylverfahren wurden den Schutzsuchenden häufig nicht gerecht, u.a. deshalb, weil in Ländern wie Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz auf beschleunigte Asylverfahren zurückgegriffen wurde. Diese schützten Asylsuchende nicht ausreichend davor, in Länder rückgeführt zu werden, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohten.

Die Türkei und die Ukraine schoben Menschen ab, ohne dass diese überhaupt Gelegenheit gehabt hätten, dort Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten.

Nach einer Grundsatzentscheidung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall M. S. S. gegen Belgien und Griechenland im Januar setzten die EU-Staaten die Überstellungen von Asylsuchenden unter der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland aus, da das Land über kein funktionierendes Asylsystem verfügte. Einige Länder schickten jedoch weiterhin Personen in Länder wie Eritrea oder den Irak zurück, trotz einer gegenteiligen Empfehlung des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR). Außerdem wurden Roma in den Kosovo abgeschoben, obwohl sie dort Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt waren.

In zahlreichen Ländern Europas und Zentralasiens gab es weiterhin Hunderttausende von Menschen, die durch Konflikte infolge des Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion heimatlos geworden waren. Sie konnten häufig aufgrund ihres rechtlichen Status nicht zurückkehren und ihre Rechte, wie z.B. das Recht auf Grundeigentum, nur eingeschränkt wahrnehmen.

Bei den Verhandlungen über eine neue EU-Asylgesetzgebung versäumten es die EU-Mitgliedstaaten, Mängel in ihren Asylverfahren zu beheben. Dies galt auch für die Vereinbarungen, denen zufolge Asylsuchende in das EU-Land überstellt werden, in das sie zuerst eingereist sind.

Diskriminierung

In den Ländern Europas und Zentralasiens erlebten Millionen Menschen in ihrem Alltag Diskriminierung. Die Regierungen räumten dem Kampf gegen Diskriminierung jedoch keine Priorität ein, da ihrer Ansicht nach andere Dinge dringlicher waren. Sie verwiesen auf wirtschaftliche Faktoren, dabei gab es zahlreiche Hinweise dafür, dass Menschen am Rande der Gesellschaft verstärkt Gefahr liefen, noch weiter benachteiligt und abgedrängt zu werden.

Andere Regierungen weigerten sich schlicht, ihren Verpflichtungen nachzukommen, wie z.B. die niederländische Regierung, die im Juli öffentlich verkündete, es sei die wichtigste Pflicht der Bürger, sich selbst von Diskriminierung zu befreien.

Anstatt gegen Klischees und Vorurteile vorzugehen, die Intoleranz und Hass schüren, unterstützten einige Regierungsmitglieder und hochrangige Beamte diese sogar noch.

So ermahnte die rumänische Gleichbehandlungsstelle den Präsidenten zwei Mal, weil er sich im Fernsehen Roma-feindlich geäußert hatte.

Sowohl die Antidiskriminierungsgesetze in den einzelnen Ländern als auch die Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene wiesen nach wie vor Lücken auf.

Versuche, diese zu schließen, scheiterten in einigen Fällen an unwilligen Behörden oder an Regierungskoalitionen, die befürchteten, ein verbesserter Schutz gegen Diskriminierung könnte politische Proteste auslösen. So geriet in Moldau die Verabschiedung eines neuen Antidiskriminierungsgesetzes zur Hängepartie, da das darin enthaltene Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung auf Kritik stieß. Auch in Spanien scheiterte die Verabschiedung eines neuen Antidiskriminierungsgesetzes vor den Parlamentswahlen im November. Auf europäischer Ebene setzte der Rat der Europäischen Union seine Diskussion über einen Entwurf für eine neue Antidiskriminierungsrichtlinie aus dem Jahr 2008 fort. Dabei ließen die Teilnehmer ein starkes Interesse erkennen, den Entwurf zu verwässern oder auf die lange Bank zu schieben. Zudem wurden bereits geltende Rechtsvorschriften, wie z.B. die Richtlinie zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung oder die Grundrechtecharta, von der Europäischen Kommission trotz fortlaufender Verstöße durch Mitgliedstaaten nicht durchgesetzt.

In einigen Fällen wurde 2011 öffentlich Kritik an den nationalen und europäischen Antidiskriminierungsstandards geübt und ihre Rechtmäßigkeit in Frage gestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterstützte die Anwendung des in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Diskriminierungsverbots maßgeblich und stärkte den Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie geschlechtlicher Identität oder sexueller Orientierung. Frühere Urteile des Gerichtshofs, in denen er z.B. die Unterbringung von Roma-Kindern in getrennten Klassen als Diskriminierung bewertete, wurden in einigen Ländern nicht umgesetzt, darunter Tschechien und Kroatien.

Bezüglich der Ratifizierung grundlegender Menschenrechtsabkommen, die einen besseren Schutz vor Diskriminierung gewährleisten würden, fehlte es den Staaten Europas und Zentralasiens an Einmütigkeit. So unterzeichnete oder ratifizierte kein neues Land das Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, das ein allgemeines Diskriminierungsverbot enthält. Positiv war hingegen zu verzeichnen, dass der Europarat im Mai die neue Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt verabschiedete, die anschließend von 18 Staaten unterzeichnet wurde.

Einige Staaten versäumten es nicht nur, Maßnahmen gegen Diskriminierung auf nationaler oder europäischer Ebene zu unterstützen, sondern waren vielmehr darauf aus, bestehende diskriminierende Vorgehensweisen aufrechtzuerhalten bzw. neue zu fördern. So blieben Gesetze, Bestimmungen und Vorgehensweisen, die Roma daran hinderten, ihr Recht auf Wohnen auszuüben, häufig bestehen, und in Ländern wie Frankreich, Italien und Serbien waren Roma unvermindert rechtswidrigen Zwangsräumungen ausgesetzt. In Russland und Litauen wurden Gesetzesvorschläge eingebracht, die eine Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder ihrer sexuellen Orientierung darstellten.

Dass es keinen umfassenden rechtlichen Schutz gab und dass die politisch Verantwortlichen sich nicht entschieden für die Rechte von Minderheiten einsetzten, hatte wiederum gravierende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. In vielen Ländern Europas und Zentralasiens waren Angehörige ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten Feindseligkeiten und Diskriminierung ausgesetzt – häufig geschürt von populistischen Parteien der extremen Rechten. Lesben, Schwule, Transgender und Bisexuelle, Roma, Migranten und Muslime wurden Opfer von gewaltsamen Angriffen, die durch Hass motiviert waren. Hassverbrechen wurden jedoch aufgrund von Gesetzeslücken, einer mangelhaften Erfassung, unzulänglichen Ermittlungen, Mängeln in der Strafjustiz und fehlendem Vertrauen in die Polizei weiterhin nur unzureichend bekämpft. Tief sitzende Vorurteile und Klischeevorstellungen führten auch zu rassistischem Fehlverhalten von Polizeikräften.

In zahlreichen Ländern gab es Diskussionen über ein Verbot von Schleiern, die das Gesicht vollständig bedecken. In Belgien und Frankreich traten entsprechende Gesetze in Kraft. Die begleitenden Debatten, die häufiger auf Mutmaßungen als auf verlässlichen Daten beruhten, führten zu einer weiteren Stigmatisierung von Muslimen. Dabei wurden stereotype Wahrnehmungen von Symbolen, die als muslimisch galten, wie z.B. das Kopftuch, von offizieller Seite eher gefördert als bekämpft. Das Tragen bestimmter religiöser und kultureller Symbole oder Kleidungsstücke führte weiterhin zur Diskriminierung von Muslimen in den Bereichen Bildung und Beschäftigung; dies galt insbesondere für Frauen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Es gab nach wie vor europäische Regierungen, die sich den gemeinsamen Bemühungen widersetzten, ihre mutmaßliche Beteiligung am CIA-Programm für außerordentliche Gefangenenüberstellungen und Geheimgefängnisse offenzulegen.

Einige Regierungen veröffentlichten neue Informationen über ihre Beteiligung an dem Programm oder gerieten durch die Präsentation neuer Beweise durch NGOs oder die Medien erneut in den Verdacht, daran mitgewirkt zu haben. Andere wiederum stellten ihre halbherzigen Ermittlungen ein, gaben lediglich Lippenbekenntnisse ab, planten Untersuchungen, die nicht einmal minimalen Menschenrechtsstandards genügten, oder bestritten schlicht jegliche Verantwortung. Im März 2011 genehmigte das Europäische Parlament einen Anschlussbericht zu seinem Bericht aus dem Jahr 2007 über die europäische Beteiligung an dem CIA-Programm. Damit sollte sichergestellt werden, dass frühere Beschlüsse des Parlaments erfüllt würden, die eine Verpflichtung zur Untersuchung von Beschuldigungen wegen grundlegender Menschenrechtsverletzungen vorsehen.

Litauen stellte im Januar 2011 unter Berufung auf Formalien und die staatliche Geheimhaltung abrupt seine Ermittlungen zu zwei geheimen Haftanstalten ein, die von der CIA auf litauischem Gebiet eingerichtet worden waren. Im Oktober weigerte sich die Regierung, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, obwohl NGOs den Behörden im September glaubwürdige neue Beweise zu einem mutmaßlichen Überstellungsflug von Marokko nach Litauen vorlegen konnten. Die britische Regierung veröffentlichte im Juni den Arbeitsauftrag einer Kommission, die sich mit der britischen Beteiligung an Inhaftierungen im Ausland befassen sollte. Er stieß bei international renommierten Menschenrechtsexperten, NGOs sowie ehemaligen Inhaftierten und ihren rechtlichen Vertretern auf starken Widerspruch. Kritisiert wurde vor allem, dass die Regierung die Kontrolle über die Offenlegung von Dokumenten behalten wollte sowie geheime Anhörungen und eine mangelnde Beteiligung der Opfer. Viele Gruppen und Einzelpersonen erklärten, sie würden nur dann an der Untersuchung mitwirken, wenn diese Punkte geändert würden. Bis zum Jahresende war der Arbeitsauftrag jedoch nicht abgeändert worden.

Im August 2011 intensivierten die polnischen Behörden ihre Ermittlungen bezüglich eines geheimen CIA-Standorts auf polnischem Gebiet, verweigerten jedoch den Anwälten zweier namentlich bekannter Opfer den Zugang zu Informationen. Es wurden auch keinerlei Informationen über den Fortschritt der Untersuchung bekanntgegeben. Als die Medien im Dezember enthüllten, wo sich das geheime CIA-Haftzentrum in Bukarest befand, wurde dies von den rumänischen Behörden sofort dementiert. Sie stritten auch weiterhin jegliche Beteiligung an CIA-Einsätzen ab, obwohl zwingendes Beweismaterial vorlag, dass das Land eng und bereitwillig kooperierte.

Die finnischen Behörden veröffentlichten im Oktober und November 2011 Flugdaten, nach denen Überstellungsflüge auf finnischem Gebiet gelandet waren. Sie gingen zwar auf Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchung der mutmaßlichen Beteiligung Finnlands ein, hatten zum Jahresende allerdings noch keine entsprechenden Ermittlungen in die Wege geleitet. Eine im November angekündigte Untersuchung einer möglichen dänischen Beteiligung an dem CIA-Programm wurde auf Grönland beschränkt. Auch war lediglich eine "Prüfung von Dokumenten" geplant, die zuvor im Laufe einer parlamentarischen Untersuchung zusammengetragen worden waren.

Angesichts der Behinderung von Untersuchungen auf nationaler Ebene wandten sich einige der Opfer von Überstellungsflügen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in der Hoffnung, damit ein gewisses Maß an Rechenschaftspflicht einfordern zu können. Ende 2011 waren vor dem Gerichtshof Verfahren gegen Litauen, Mazedonien und Polen anhängig.

Antiterrormaßnahmen und Vorgehensweisen führten in vielen europäischen und zentralasiatischen Staaten weiterhin zu einer Aushöhlung des Schutzes der Menschenrechte. Immer mehr Länder, darunter Belgien, Deutschland, Großbritannien und Italien, beriefen sich auf unzuverlässige diplomatische Zusicherungen, um Menschen abzuschieben, die sie als nationales Sicherheitsrisiko betrachteten. Im November kritisierte der UN-Ausschuss gegen Folter Deutschland dafür, mit ausländischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten, die bei ihren Verhören routinemäßig Zwangsmaßnahmen anwenden. In einer Reihe von Ländern, insbesondere in Großbritannien, kamen Kontrollverfügungen und andere Formen sozialer Kontrolle zum Einsatz, die einer Freiheitsberaubung gleichkamen. Sie dienten als Ersatz für vollständige Strafprozesse und die damit üblicherweise verbundenen Verfahrensgarantien.

In der Türkei wurde eine Vielzahl von Strafverfahren auf Grundlage vager Antiterrorgesetze angestrengt, die nicht den Standards für faire Verfahren entsprachen. Bei den meisten Angeklagten handelte es sich um politisch engagierte Bürger wie Studenten, Journalisten, Schriftsteller, Rechtsanwälte und Wissenschaftler. Sie wurden routinemäßig zu Aktivitäten vernommen, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind.

Die Sicherheitslage in Russlands Nordkaukasusregion war nach wie vor instabil. Bewaffnete Gruppen gingen weiter gezielt gegen Polizeibeamte und andere Staatsbedienstete vor. Dabei gerieten in vielen Fällen Zivilpersonen ins Kreuzfeuer oder wurden gezielt angegriffen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte im gesamten Nordkaukasus ging oft mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Es trafen Berichte über die Drangsalierung und Tötung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten sowie über die Einschüchterung von Zeugen ein.

Die baskische Separatistengruppe Euskadi Ta Askatasuna (ETA) verkündete das Ende ihres bewaffneten Kampfes. In der Türkei kosteten hingegen Bombenangriffe der Armee und bewaffneter Gruppen Zivilpersonen das Leben.

Straflosigkeit nach bewaffneten Konflikten

Zwar wurden die beiden letzten noch flüchtigen Angeklagten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien verhaftet, insgesamt kam 2011 die Bekämpfung der Straflosigkeit für Verbrechen, die während der Kriege in den 1990er Jahren begangen worden waren, jedoch nur schleppend voran. Grund dafür waren mangelnde Kapazitäten und fehlendes Engagement. Teilweise waren auch Rückschritte zu verzeichnen. In Kroatien unternahmen zwar der Präsident und die Justizbehörden einige Schritte zur Aufarbeitung der Vergangenheit, doch wurden diese Bemühungen von der Regierung kaum unterstützt. Stattdessen griffen führende Politiker die internationale Justiz an, und das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das gegen die Verpflichtung Kroatiens verstieß, in strafrechtlichen Angelegenheiten mit Serbien zu kooperieren. Die Zusammenarbeit zwischen den Nachbarländern Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro und Serbien wurde außerdem dadurch erschwert, dass rechtliche Hürden, die einer Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Weg standen, nicht abgebaut wurden.

In Mazedonien wurde zehn Jahre nach dem bewaffneten Konflikt von 2001 die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen eingestellt, die der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien an das Land zurückverwiesen hatte.

Hintergrund war eine vom Parlament gebilligte Neuauslegung des Amnestiegesetzes, was in der Praxis hieß, dass die Täter vor einer Strafverfolgung durch mazedonische Gerichte geschützt waren.

In Kirgisistan wurden zwar zwei unabhängige Untersuchungsausschüsse eingesetzt, dennoch gelang es den Behörden nicht, den Gewaltausbruch im Juni 2010 und dessen Folgen unparteiisch und wirksam aufzuklären.

Folter und andere Misshandlungen

In sehr vielen Fällen ließ die Justiz 2011 die Opfer von Folter und anderen Misshandlungen im Stich, indem sie die Täter nicht strafrechtlich verfolgte. Dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, hatte viele Gründe: Häufig erhielten die Opfer nicht direkt Zugang zu einem Rechtsbeistand oder fürchteten sich vor Vergeltungsmaßnahmen.

Staatsanwälte trieben die Ermittlungen nicht konsequent voran, und in Fällen, in denen Polizeibeamte schuldig gesprochen wurden, erhielten sie nur geringe Strafen. Außerdem mangelte es an gut ausgestatteten und unabhängigen Institutionen, die Beschwerden überprüften und schweres polizeiliches Fehlverhalten untersuchten.

Nach wie vor gab es Länder, in denen Straflosigkeit fest verwurzelt war. Aus Usbekistan wurden 2011 Dutzende Fälle gemeldet, in denen Inhaftierte Folter und andere Misshandlungen erlitten, obwohl neue gesetzliche Bestimmungen eine bessere Behandlung von Häftlingen vorsahen und die Behörden versicherten, der Einsatz von Folter sei deutlich zurückgegangen.

In der Türkei hob das Oberste Berufungsgericht ein richtungweisendes Urteil aus dem Jahr 2010 auf, mit dem erstmals in der türkischen Rechtsgeschichte hohe Haftstrafen gegen Staatsbedienstete verhängt worden waren, die für den Tod eines Häftlings aufgrund von Folter verantwortlich waren. Russland führte eine oberflächliche Polizeireform ein, doch gingen die Berichte über Folter nicht zurück. Auch in der Ukraine war Folter noch immer weit verbreitet.

In Ländern wie Griechenland und Spanien wurde der Vorwurf erhoben, die Polizei habe Protestkundgebungen gegen Sparmaßnahmen mit exzessiver Gewalt aufgelöst und Demonstrierende misshandelt.

Todesstrafe

Belarus war weiterhin das letzte Land in der Region, das die Todesstrafe vollstreckte. Im Rahmen eines unzulänglichen Strafjustizsystems, das seine Verfahren auch weiterhin im Geheimen abwickelte, wurden 2011 zwei Männer hingerichtet. Dabei hatte der UN-Menschenrechtsausschuss die belarussische Regierung aufgefordert, die beiden Männer nicht hinzurichten, bevor der Ausschuss die Fälle überprüft habe.

Fazit

Die Nachricht, dass man Ratko Mladic und Goran Hadzÿic verhaftet hatte, war 2011 nicht nur für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen von enormer Bedeutung, sie hatte auch darüber hinaus Signalwirkung. Für diejenigen, die jahrelang darauf gewartet hatten, war es eine gute Nachricht. Für alle, die geglaubt hatten, einflussreiche Freunde, mächtige Nachbarn und undurchsichtige persönliche Interessen würden oder könnten sie vor dem Zugriff der Justiz schützen, war es eine Warnung. Deutlich wurde auch, wie viel erreicht werden kann, wenn sich einzelne Personen, die Zivilgesellschaft, Regierungen und die internationale Gemeinschaft für die Einhaltung der Menschenrechte engagieren.

Viel zu viele Menschen in den Ländern Europas und Zentralasiens waren jedoch noch immer Opfer der Diskrepanzen, die zwischen Lippenbekenntnissen zu den Menschenrechten und ihrer tatsächlichen Umsetzung herrschten. Allzu häufig galt eine starke Unterstützung der Menschenrechte als unvereinbar mit Bemühungen, die Staatssicherheit oder die Energieversorgung zu gewährleisten. Außerdem wurde die Unabhängigkeit und Autorität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte infrage gestellt. Die EU erwies sich gegenüber Verstößen, die in Mitgliedstaaten begangen wurden, allzu oft als zahnloser Tiger. Und die einzelnen Staaten kamen wiederum ihrer wichtigsten Verpflichtung nicht nach: alle Menschenrechte für alle zu schützen.

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