Amnesty Report Libanon 03. Mai 2012

Libanon 2012

 

Amtliche Bezeichnung: Libanesische Republik Staatsoberhaupt: Michel Suleiman Regierungschef: Najib Mikati (seit Juni 2011; löste Saad Hariri nach dessen Rücktritt im Januar im Amt ab) Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 4,3 Mio. Lebenserwartung: 72,6 Jahre Kindersterblichkeit: 12,4 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 89,6%

Personen, denen Straftaten im Zusammenhang mit der Gefährdung der nationalen Sicherheit zur Last gelegt wurden, erhielten unfaire Gerichtsverfahren. Gegen einige der Angeklagten erging die Todesstrafe. Es gab erneut Berichte über Folter und andere Misshandlungen durch Angehörige der Justizpolizei. Menschenrechtsverteidiger, die Foltervorwürfe publik gemacht hatten, wurden strafrechtlich belangt. Palästinensische Flüchtlinge litten weiterhin unter Diskriminierung und hatten keinen angemessenen Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitssystem, zu Bildung und Wohnraum. Zahlreiche weitere Flüchtlinge und Asylsuchende wurden willkürlich inhaftiert. Einige von ihnen wurden zwangsweise in ihre Heimatländer rückgeführt, obwohl ihnen dort schwere Menschenrechtsverstöße drohten. Frauen waren noch immer Diskriminierungen ausgesetzt, obwohl ein Gesetz abgeschafft wurde, welches milde Strafen für sogenannte Tötungen im Namen der Familienehre vorgesehen hatte. Arbeitsmigranten, vor allem Frauen, die als Haushaltshilfen arbeiteten, waren nicht ausreichend gegen Ausbeutung und Missbrauch geschützt. Acht Menschen wurden zum Tode verurteilt. Es fanden jedoch keine Hinrichtungen statt.

Hintergrund

Die Koalitionsregierung von Ministerpräsident Saad Hariri kam im Januar 2011 zu Fall. Die anschließende politische Pattsituation endete erst im Juni, als eine neue Regierung unter Najib Mikati mit Unterstützung der Hisbollah die Amtsgeschäfte aufnahm.

Die Situation an der Grenze zu Israel im Süden des Landes blieb angespannt. Wie die UN berichteten, wurden am 15. Mai sieben palästinensische Flüchtlinge getötet und 111 Menschen verletzt, als israelische Truppen das Feuer auf palästinensische Flüchtlinge und weitere Personen eröffneten, die sich am Nakba-Tag (Gedenktag an die Vertreibung der Palästinenser in den Jahren 1948/49) an der Grenze versammelt hatten. Einige von ihnen hatten versucht, die Grenze nach Israel zu überqueren. Mindestens drei Menschen verloren durch israelische Streubomben und Landminen ihr Leben, weitere wurden verletzt. Die Munition war nach den Kampfhandlungen der vergangenen Jahre im Süden Libanons zurückgeblieben.

Der vom UN-Sicherheitsrat geschaffene Sondergerichtshof für den Libanon (Special Tribunal for Lebanon – STL), vor dem sich diejenigen verantworten sollen, die des Mordes an dem früheren Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im Jahr 2005 und anderer Straftaten verdächtigt werden, erhob im Juni die ersten Anklagen gegen vier Angehörige der Hisbollah, die jedoch auf freiem Fuß blieben. Die Hisbollah wies die Anklagen zurück und verweigerte die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof.

Unfaire Gerichtsverfahren

Personen, die im Verdacht standen, Straftaten im Zusammenhang mit der Gefährdung der nationalen Sicherheit begangen zu haben, wurden festgenommen. Mindestens 50 Personen kamen wegen Kollaboration mit oder Spionage für Israel vor Militärgerichte, mindestens neun von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Ihre Prozesse vor den Militärgerichten entsprachen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Die Gerichte waren weder unabhängig noch unparteiisch, und unter den Richtern befanden sich aktive Angehörige der Streitkräfte. Einige Angeklagte gaben an, sie seien während der Untersuchungshaft gefoltert oder anderweitig misshandelt worden, um "Geständnisse" zu erpressen. Die Gerichte leiteten jedoch keine angemessenen Untersuchungen der Foltervorwürfe ein, sondern ließen die "Geständnisse" als Beweismittel zu.

  • Fayez Karam, ein hochrangiger Funktionär der Partei Freie Patriotische Bewegung (Free Patriotic Movement), wurde am 3. September 2011 für schuldig befunden, dem israelischen Geheimdienst Mossad gegen Geld Informationen beschafft zu haben. Er wurde zu zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt. Fayez Karam sagte vor dem Militärgericht aus, er sei nach seiner Festnahme im August 2010 während der Untersuchungshaft von Mitarbeitern des internen Sicherheitsdienstes (Internal Security Forces – ISF) gefoltert worden. Daraufhin habe er ein "Geständnis" unterschrieben, das er später widerrufen habe. Fayez Karam legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein.

  • Der schiitische Geistliche Scheich Hassan Mchaymech wurde am 11. Oktober festgenommen, nachdem er von syrischen Sicherheitskräften an den ISF überstellt worden war. Zuvor war er in Syrien festgenommen und Berichten zufolge gefoltert worden, weil er im Verdacht stand, Informationen an den Mossad weitergegeben zu haben. Nach seiner Freilassung wurde Scheich Hassan Mchaymech den libanesischen Behörden übergeben, die ihn zunächst in der Haftanstalt des ISF in Beirut und später im Roumieh-Gefängnis ohne Kontakt zur Außenwelt festhielten. Anfang Dezember durfte ihn seine Familie erstmals im Gefängnis besuchen.

Folter und andere Misshandlungen

Auch 2011 trafen Berichte über Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch die Justizpolizei ein.

Noch immer wurde keine unabhängige Kommission zur Inspektion von Gefängnissen und Haftzentren geschaffen, wie sie im Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter verlangt wird. Der Libanon hatte das Fakultativprotokoll 2008 ratifiziert.

  • Im April kamen vier Insassen des Roumieh-Gefängnisses in Beirut unter ungeklärten Umständen ums Leben, als Sicherheitskräfte eine Protestaktion von Gefangenen niederschlugen. Die Häftlinge hatten gegen die Überfüllung ihrer Zellen und die lange Untersuchungshaft aufbegehrt. Der Innenminister beauftragte den Direktor des ISF mit der Untersuchung der Vorfälle. Die Ergebnisse der Ermittlungen wurden jedoch nicht veröffentlicht.

Menschenrechtsverteidiger

Etliche Menschenrechtsverteidiger wurden 2011 schikaniert, weil sie über mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und politische Parteien berichtet hatten.

  • Der Menschenrechtsverteidiger Saadeddine Shatila, der für die NGO Alkarama arbeitete, wurde wegen "Veröffentlichung von Informationen, die dem Ansehen der libanesischen Streitkräfte Schaden zufügen könnten" angeklagt. Er hatte u.a. dem UN-Sonderberichterstatter über Folter Informationen über Fälle mutmaßlicher Folterungen zukommen lassen. Der Militäruntersuchungsrichter hatte Ende 2011 noch keine Entscheidung über das Verfahren gegen Saadeddine Shatila getroffen.

  • Marie Daunay und Wadih Al-Asmar, beide Angestellte des libanesischen Zentrums für Menschenrechte (Lebanese Center for Human Rights), wurden am 22. März vom Generalstaatsanwalt verhört. Zuvor hatte die Amal-Partei unter ihrem Vorsitzenden Nabih Berri, dem Parlamentspräsidenten, Strafanzeige gegen die Organisation gestellt, weil sie über Foltervorwürfe gegen Personen mit Verbindung zu Amal berichtet hatte. Der Fall war Ende des Berichtsjahres noch anhängig.

Diskriminierung – Palästinensische Flüchtlinge

Rund 300000 palästinensische Flüchtlinge, die seit Langem im Libanon ansässig sind, wurden auch im Berichtsjahr diskriminiert. Ihnen blieben Grundrechte vorenthalten, die libanesischen Staatsbürgern zustanden. Der Zugang zu Arbeit in bestimmten Berufen wurde ihnen weiter verwehrt, und sie durften kein Wohneigentum erben. Eine unbekannte Zahl von palästinensischen Flüchtlingen lebte weiterhin ohne Ausweispapiere im Libanon und hatte dadurch noch weniger Rechte. Dieser Personenkreis konnte beispielsweise keine Eheschließungen, Geburten oder Todesfälle bei den Behörden anzeigen.

Mehr als 1400 palästinensische Flüchtlinge, die 2007 während der Kampfhandlungen im Flüchtlingslager Nahr al-Bared in der Nähe von Tripoli im Norden des Landes geflohen waren, kehrten 2011 ins Lager zurück. Über 25000 Personen befanden sich hingegen weiterhin auf der Flucht.

Frauenrechte

Frauen wurden noch immer vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert. Sie wurden Opfer von sexueller Gewalt, auch durch männliche Verwandte. Im August 2011 hob die Regierung allerdings Paragraph 562 des Strafgesetzbuchs auf, wonach Personen, die für schuldig befunden worden waren, Verwandte getötet oder verletzt zu haben, auf milde Strafen hoffen durften, wenn sie nachweisen konnten, dass die Tat zur Aufrechterhaltung der "Familienehre" begangen worden war. Ebenfalls im August wurde das Strafgesetzbuch dahingehend geändert, dass Menschenhandel unter Strafe gestellt und Strafen gegen Menschenhändler festgesetzt wurden.

Libanesische Frauen konnten nach wie vor ihre Staatsbürgerschaft nicht auf ihre Ehemänner und Kinder übertragen. Im September kam es allerdings zu einer Reform des Arbeitsrechts. Mit der Novelle wurden Beschäftigungsbeschränkungen für nicht-libanesische Ehepartner und Kinder von libanesischen Frauen aufgehoben. Die Auswirkungen der neuen Gesetze waren zum Ende des Berichtsjahres noch nicht abzusehen. Das Parlament diskutierte weiterhin einen Gesetzentwurf, der häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe strafbar machen soll. Das Gesetz wurde jedoch noch nicht verabschiedet.

Rechte von Migranten

Weibliche ausländische Hausangestellte waren weiterhin weder gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz noch gegen sexuelle und andere Gewalt gesetzlich geschützt. Ein Gesetzentwurf, der die Rechte von Hausangestellten regeln soll, wurde im Parlament diskutiert.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Zahlreiche Flüchtlinge und Asylsuchende, meist Iraker und Sudanesen, blieben ungeachtet des Ablaufs ihrer Haftstrafen, die wegen illegaler Einreise in den Libanon gegen sie verhängt worden waren, oder nach Freisprüchen in Gewahrsam. Viele der Gefangenen wurden unter harten Bedingungen in einer unterirdischen Hafteinrichtung des Allgemeinen Sicherheitsdienstes im Beiruter Stadtteil ’Adliyeh oder im Roumieh-Gefängnis festgehalten. Man stellte sie vor die Wahl, entweder auf unbegrenzte Zeit dort zu verbleiben oder "freiwillig" in ihre Heimatländer zurückzukehren.

Mindestens 59 Asylsuchende und als Flüchtlinge anerkannte Menschen wurden gegen ihren Willen und unter Verletzung des Völkerrechts abgeschoben.

  • Der sudanesische Flüchtling Muhammad Babikir ’Abd al-’Aziz Muhammad Adam, der im Januar 2010 festgenommen worden war und im März desselben Jahres wegen Verstoßes gegen seine Ausweisungsverfügung eine einmonatige Gefängnisstrafe abgeleistet hatte, wurde für ein weiteres Jahr in Haft gehalten. Im Januar 2011 wurde er aus dem Gefängnis geholt und nach Norwegen ausgeflogen. Er gab an, zwischen September und November 2010 geschlagen und immer wieder über längere Zeiträume hinweg in Einzelhaft gehalten worden zu sein. Zudem sei mehrfach versucht worden, ihn gegen seinen Willen in den Sudan rückzuführen, obwohl ihm dort willkürliche Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen drohten.

Straflosigkeit – Verschwindenlassen und Entführungen

Am 1. Juli 2011 versprach die Regierung, von Syrien Informationen über das Schicksal von "verschwundenen und inhaftierten Libanesen" einzuholen. Außerdem stellte sie weitere Maßnahmen in Aussicht, um Licht in das Dunkel der schweren Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zu bringen. Unter anderem sollte ein nationales Komitee zur Aufklärung von Fällen des Verschwindenlassens gebildet werden. Die Regierung unternahm jedoch kaum etwas, um das Schicksal Tausender Menschen aufzuklären, die während des Bürgerkriegs in den Jahren 1975 bis 1990 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren.

Todesstrafe

Gegen acht Menschen wurde die Todesstrafe verhängt. Fünf der Todesurteile ergingen in Abwesenheit der Angeklagten. Es fanden jedoch keine Hinrichtungen statt. Das letzte Todesurteil war 2004 vollstreckt worden.

Im Januar 2011 verurteilte ein Strafgericht den syrischen Staatsbürger Radwan Khalaf Najm wegen Mordes zum Tod.

Amnesty International: Missionen und Bericht

Delegierte von Amnesty International besuchten den Libanon in den Monaten April, Mai/Juni und Juli/August.

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