Amnesty Report Europa und Zentralasien 11. Mai 2011

Europa und Zentralasien 2011

"Die große Lüge ist aufgedeckt worden. Endlich kennen wir die Wahrheit."

Tony Doherty, dessen Vater Paddy Doherty am Sonntag, dem 30. Januar 1972, im nordirischen Derry getötet wurde, als Soldaten das Feuer auf eine Demonstration von Bürgerrechtlern eröffneten.

Bei den Menschenrechtsthemen in Europa und Zentralasien spielte das gesamte Jahr über das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Bemerkenswert war dabei die Entschlossenheit der Opfer und ihrer Angehörigen, dies durchzusetzen, wie lang und hart der Kampf auch sein mochte.

Am 15. Juni 2010 versammelten sich Angehörige von Opfern in einem öffentlichen Gebäude in Nordirland, um zum ersten Mal über eine langwierige – und lang erwartete – Untersuchung über jenen Tag informiert zu werden, an dem die britische Armee 13 Personen tötete und der als Bloody Sunday in die Geschichte eingegangen ist. Fast vier Jahrzehnte lang hatten sie auf Gerechtigkeit gewartet, und nun brach sich ihre Freude umso ungestümer Bahn. Die Untersuchungsergebnisse widerlegten alle anderslautenden Behauptungen früherer Regierungsberichte und wiesen nach, dass keiner der Getöteten und Verletzten eine Bedrohung dargestellt, eine Schusswaffe getragen, eine Nagelbombe oder ein Molotow-Cocktail geworfen hatte. Alle Opfer wurden von jeglicher Mitverantwortung für den Schusswaffeneinsatz freigesprochen. Der Bericht bestätigte auch, dass einige der Opfer auf der Flucht in den Rücken geschossen worden waren und dass viele der Soldaten offenkundig unwahre Aussagen gemacht hatten. Als Reaktion auf den Bericht entschuldigte sich der britische Premierminister im Namen der Regierung und des Landes für die Taten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Obwohl sich die Länder Europas und Zentralasiens gerne als leuchtendes Vorbild für das Recht auf freie Meinungsäußerung preisen, sah die Realität für viele, die Verstöße publik machten, abweichende Meinungen äußerten oder Regierungen und andere zur Rechenschaft zogen, ganz anders aus. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit standen 2010 weiterhin ebenso unter Druck wie diejenigen, die sie verteidigten.

In der Türkei wurde zwar zunehmend offen über frühere Tabuthemen diskutiert, doch zogen kritische Meinungsäußerungen in vielen Fällen strafrechtliche Verfolgung nach sich. Das galt insbesondere für kritische Äußerungen zu den Streitkräften, zur Lage der Armenier und der Kurden in der Türkei sowie zu laufenden Strafverfahren. Um das Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterdrücken, wurden häufig verschiedene Artikel des Strafgesetzbuchs herangezogen, aber auch Antiterrorgesetze, auf deren Grundlage Untersuchungshaft angeordnet wurde und die hohe Gefängnisstrafen vorsahen. Am häufigsten wurden politisch aktive Kurden, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger mit Strafverfahren überzogen. Es wurden erneut willkürliche Maßnahmen wie die Sperrung von Internetseiten und ein vorübergehendes Erscheinungsverbot für Zeitungen verhängt. Menschen, die ihre Meinung öffentlich äußerten, mussten weiterhin mit der Androhung von Gewalt rechnen.

In anderen Ländern wurde bedauerlicherweise noch immer in altbekannter Manier durchgegriffen. So unterdrückten die Behörden Turkmenistans praktisch jegliche kritische Meinungsäußerung. Journalisten, die mit ausländischen Medien in Kontakt standen, wurden schikaniert und eingeschüchtert, unabhängige Bürgerrechtler konnten nicht offen agieren. Die Sorge um ihre Sicherheit erhöhte sich noch, nachdem der Präsident das Ministerium für Nationale Sicherheit aufgefordert hatte, gegen Personen vorzugehen, die "unseren demokratischen Rechtsstaat diffamieren". In Usbekistan wurden Menschenrechtsverteidiger und unabhängige Journalisten drangsaliert, verprügelt, festgenommen und nach unfairen Verfahren inhaftiert. Ein ähnliches Muster zeichnete sich in Aserbaidschan ab, wo Verleumdungsgesetze aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Strafrecht herangezogen wurden, um Kritik zu unterdrücken, während in Serbien Menschenrechtsverteidiger und Journalisten unvermindert Drohungen, Übergriffen und Hetzreden ausgesetzt waren.

In Russland verhielten sich die Behörden in Bezug auf die Meinungsfreiheit weiterhin widersprüchlich. Sie versprachen Respekt und Schutz für Journalisten und Bürgerrechtler, während sie gleichzeitig Hetzkampagnen gegen prominente Regierungskritiker anzettelten oder diesen zumindest nicht Einhalt geboten. Die Situation für Menschenrechtsverteidiger und NGOs blieb schwierig. Drohungen, Übergriffe und Drangsalierungen durch die Behörden sowie öffentliche Angriffe auf ihre persönliche Integrität hielten an und sollten dazu dienen, ihre Arbeit zu behindern und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Untersuchungen, die sich mit Angriffen und den Morden an prominenten Menschenrechtsverteidigern und Journalisten befassten, zeitigten nur dürftige Ergebnisse. Gegen zivilgesellschaftliches Engagement gingen die Behörden weiterhin rigoros vor. So wurden Demonstrationen verboten oder gewaltsam aufgelöst, und engagierte Bürger wurden unter Bezug auf ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus strafrechtlich verfolgt.

In der Ukraine verschlechterte sich aufgrund neuer besorgniserregender Entwicklungen die Lage der Menschenrechtsverteidiger: Sie wurden tätlich angegriffen und von Polizeibeamten wegen ihrer legitimen Arbeit für die Menschenrechte schikaniert. Die Zivilgesellschaft in Belarus war neuerlichen Attacken ausgesetzt, die die leisen Anzeichen einer Öffnung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Dezember wieder verschwinden ließen. Nach den von Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahlen löste die Bereitschaftspolizei eine überwiegend friedliche Demonstration gewaltsam auf. Ende 2010 war gegen 29 Personen im Zusammenhang mit der Demonstration eine vorsätzlich falsche Anklage wegen "Organisation von Massenunruhen" erhoben worden. Den Angeklagten, unter ihnen sechs Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Mitglieder ihrer Wahlkampfteams und Journalisten, drohten Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. In Kirgisistan war das politische Klima nach den gewaltsamen Ausschreitungen im Juni, bei denen Hunderte von Menschen ums Leben kamen, von gegenseitigen Schuldzuweisungen und zunehmend nationalistischen Tönen geprägt. Menschenrechtsverteidiger sahen sich gezwungen, ihr Engagement zum Schutz verschiedener ethnischer Gemeinschaften zu rechtfertigen und wurden von den Behörden behindert, als sie versuchten, die Ereignisse zu dokumentieren.

Auch für Frauen, die als Ausdruck ihrer religiösen, kulturellen, politischen oder persönlichen Identität oder ihres Glaubens eine vollständige Gesichtsverschleierung tragen wollten, verschlechterte sich 2010 die Situation. Gesetze, die verbieten, in der Öffentlichkeit Kleidung zu tragen, die das Gesicht verbergen soll, wurden in den Parlamenten von Bosnien und Herzegowina und Italien diskutiert, von der neuen Regierung der Niederlande geplant und im belgischen Parlament sowie in Frankreich verabschiedet. Mehrere spanische Kommunen erließen ebenfalls Bestimmungen, die das Tragen einer vollständigen Gesichtsverschleierung in öffentlichen Gebäuden untersagen. In der Türkei gab es keine Fortschritte bei der Aufhebung rechtlicher Einschränkungen, die Frauen daran hinderten, an den Universitäten ein Kopftuch zu tragen, obwohl die Durchsetzung des Verbots im Lauf des Jahres zunehmend lockerer gehandhabt wurde.

Flüchtlinge und Migranten

Trotz der wirtschaftlichen Rezession blieb Europa weiterhin ein Ziel für Menschen, die Armut, Gewalt und Verfolgung entkommen wollten. Zahlreiche Migranten und Asylsuchende bewegten sich auf Routen, die sich infolge staatlicher Bemühungen zur Abwehr von Neuankömmlingen – darunter Maßnahmen gegen Bootsflüchtlinge, Rückübernahmeabkommen mit Herkunfts- und Transitländern und verschärfte Grenzkontrollen – herausgebildet hatten. Auf den Hauptwegen der vergangenen Jahre, die von Westafrika und Libyen zu den Seegrenzen Spaniens, Italiens und Maltas geführt hatten, nahmen die Flüchtlingsströme 2010 spürbar ab. Der Schwerpunkt der Migration in Richtung EU verlagerte sich stattdessen an die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland.

Die globale Wirtschaftskrise führte auch dazu, dass Asylsuchende und Migranten leichter Opfer von Menschenhändlern und Schmugglerringen wurden. Andere wurden durch die Krise in den informellen Sektor abgedrängt und konnten ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte nur eingeschränkt wahrnehmen. In vielen Ländern Europas und Zentralasiens boten die Behörden ausländischen Staatsangehörigen auf ihrem Territorium, darunter auch Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten, keinen hinreichenden Schutz vor zunehmender Feindseligkeit und rassistisch motivierter Gewalt. Einige Politiker und Regierungsvertreter trugen selbst dazu bei, ein Klima von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit zu fördern, indem sie unbegründete Verbindungen zwischen Migrantenstatus und Kriminalität herstellten.

Die europäischen Staaten reagierten auf die Herausforderungen, die die starken und komplexen Ströme von Migranten aus vielen verschiedenen Regionen darstellten, typischerweise repressiv. Im Zusammenhang mit dem Abfangen, Inhaftieren und Abschieben von ausländischen Staatsbürgern, darunter auch solchen, die ein Anrecht auf internationalen Schutz hatten, bildete sich ein einheitliches Muster von Menschenrechtsverletzungen heraus. Die Inhaftierung von Asylsuchenden und Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus war ein weit verbreitetes Instrument zur Abschreckung und zur Kontrolle, anstatt nur als äußerstes legitimes Mittel zu dienen.

Die Asylverfahren der europäischen und zentralasiatischen Staaten wurden den Schutzsuchenden häufig nicht gerecht und verletzten ihre Rechte. So wurde Asylsuchenden u.a. der Zugang zum Staatsgebiet und zum Asylverfahren verwehrt, sie wurden widerrechtlich in Gewahrsam genommen, erhielten nicht die erforderliche Anleitung und Unterstützung, um ihre Ansprüche geltend machen zu können, wurden in die Armut getrieben und abgeschoben, ehe über ihre Ansprüche befunden werden konnte, und in Länder zurückgeschickt, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

Es ließ sich die bedrückende Tendenz beobachten, dass Staaten bereit waren, Menschen in Länder abzuschieben, in denen ein akutes Risiko von Verfolgung und schwerer Verletzungen ihrer Rechte bestand. So schickten Belgien, Dänemark, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen und Schweden abgelehnte Asylsuchende trotz einer gegenteiligen Empfehlung des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) zurück in den Irak. EU-Mitgliedstaaten und die Schweiz schoben auch weiterhin Roma in den Kosovo ab, entgegen der Empfehlung des Menschenrechtskommissars des Europarats. Vielen der Zwangsrückgeführten wurden grundlegende Rechte verweigert, und sie waren von mehrfacher Diskriminierung bedroht, die einer Verfolgung gleichkam. Eine Reihe von EU-Ländern überstellte Asylsuchende unter der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland, obwohl das Land über kein funktionierendes Asylsystem verfügte. Italien und die Türkei schoben Menschen ab, ohne dass diese überhaupt Gelegenheit gehabt hätten, dort Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten. Kasachstan verstärkte seine Bemühungen, im Namen der nationalen Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung Asylsuchende und Flüchtlinge nach China und Usbekistan abzuschieben.

Positiv war zu verzeichnen, dass eine Reihe europäischer Staaten, darunter Albanien, Bulgarien, Deutschland, Georgien, Lettland, die Schweiz, die Slowakei und Spanien, ehemalige Häftlinge aus dem US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo Bay aufnahmen, die nicht in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden konnten, da ihnen dort Folter und andere Misshandlungen drohten.

In zahlreichen Ländern Europas und Zentralasiens gab es weiterhin Hunderttausende von Menschen, die durch Konflikte infolge des Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion heimatlos geworden waren. Sie konnten häufig aufgrund ihres rechtlichen Status nicht zurückkehren und konnten ihre Rechte, wie z.B. das Recht auf Grundeigentum, nur eingeschränkt wahrnehmen.

Diskriminierung

In vielen Ländern Europas und Zentralasiens nahmen Rassismus und Hetzreden im öffentlichen Diskurs zu und drängten diejenigen noch weiter ins Abseits, die aufgrund von Armut oder Diskriminierung ohnehin schon ausgegrenzt waren.

Eines der hervorstechenden Beispiele für systematische Diskriminierung war der Umgang mit den Roma, die vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen blieben und oft im Fokus unverhohlener Feindseligkeit und fremdenfeindlicher politischer Äußerungen standen. Roma zählten nach wie vor zu den wenigen Gruppen, über die offen rassistische Aussagen und Einstellungen nicht nur geduldet, sondern weithin geteilt wurden. Roma-Familien hatten meist nur eingeschränkten Zugang zu Wohnraum, Bildung, Beschäftigung und Gesundheitsfürsorge.

Viele Roma lebten weiterhin in informellen Siedlungen oder Slums und verfügten nicht einmal über ein Mindestmaß an Sicherheit aufgrund des inoffiziellen Status der Siedlungen oder weil amtliche Dokumente mit entsprechenden Regelungen zur Nutzung fehlten. In Ländern wie Italien, Griechenland, Frankreich, Rumänien und Serbien waren Roma unvermindert rechtswidrigen Zwangsräumungen ausgesetzt und wurden dadurch weiter in Armut und Ausgrenzung getrieben, ohne Aussicht auf Entschädigung. In Italien waren manche Familien sogar mehrfach von Zwangsräumungen betroffen, die das Gemeinschaftsleben zerstörten, Probleme mit Arbeitsstellen verursachten und einen geordneten Schulbesuch der Kinder unmöglich machten. In Frankreich folgte auf eine Rede von Präsident Nicolas Sarkozy, in der er Roma-Lager als Brutstätten der Kriminalität bezeichnet hatte, eine (später umformulierte, doch im Tenor gleichlautende) ministerielle Anweisung, die Lager aufzulösen. Der Vorfall enthüllte die Spannungen, die aus einer jahrzehntelangen Vernachlässigung der Situation der Roma in Europa erwachsen waren, und löste Appelle an die EU aus, sie möge ihre Mitgliedstaaten dazu drängen, die Rechte der Roma stärker zu respektieren.

Millionen von Roma in ganz Europa waren zudem weiterhin durch niedrige Alphabetisierungsraten und eine schlechte oder lückenhafte Schulbildung massiv benachteiligt. Bildung, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Armut und Ausgrenzung geboten hätte, wurde vielen Roma-Kindern verweigert, da sie u.a. in Griechenland, Kroatien, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn nach wie vor in schlechtere, von anderen Kindern getrennte Klassen oder Schulen geschickt wurden. Vorurteile sowie räumliche und kulturelle Isolation schränkten ihre Zukunftsaussichten zusätzlich ein.

In einer Reihe von Ländern förderten die Behörden ein Klima der Intoleranz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen. In Italien waren vor dem Hintergrund abfälliger Bemerkungen einiger Politiker und Regierungsvertreter und einer erheblichen Zunahme von Intoleranz und Hassbekundungen gegenüber sexuellen Minderheiten gewalttätige homophobe Übergriffe verbreitet. In der Türkei erklärte die Ministerin für Frauen und Familie, Homosexualität sei eine Krankheit und müsse behandelt werden.

In Litauen traten gesetzliche Bestimmungen in Kraft, mit denen versucht werden sollte, jegliche öffentliche Debatte über Homosexualität oder den öffentlichen Ausdruck der Identität von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen zu unterbinden. Dennoch fand zum ersten Mal eine Pride Parade in Litauen statt, obwohl sich verschiedene Behörden darum bemüht hatten, die Veranstaltung zu verbieten. In anderen Ländern führten diese Bemühungen bedauerlicherweise zum Erfolg: Paraden sexueller Minderheiten in Belarus, Moldau und Russland wurden untersagt oder verhindert.

Leider blockierten einige Mitgliedstaaten auch weiterhin eine neue EU-Richtlinie über ein Diskriminierungsverbot, die lediglich eine Gesetzeslücke in den Schutzbestimmungen für Personen schließen würde, die außerhalb des Arbeitsplatzes aufgrund von Behinderung, Glauben, Religion, sexueller Orientierung und Alter diskriminiert werden. EU-Gesetze auf diesem Gebiet würden sich erheblich darauf auswirken, wie in ganz Europa mit allen Formen der Diskriminierung umgegangen wird.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im Hinblick auf das CIA-Programm für außerordentliche Überstellungen und Geheimgefängnisse waren 2010 trotz fehlenden politischen Willens und regelrechten Widerstands vonseiten mehrerer Regierungen einige kleine, aber bedeutsame Schritte zu verzeichnen. Sie gingen in die Richtung, dass europäische Regierungen Informationen über ihre Beteiligung preisgaben und Verantwortung übernahmen für die Rolle, die sie darin gespielt hatten. In Polen wurden die strafrechtlichen Ermittlungen zur Beteiligung des Landes an diesem Programm fortgesetzt, und im Juli wurde bestätigt, dass von der CIA gecharterte Flugzeuge auf einem Flughafen gelandet waren, der sich in der Nähe einer mutmaßlichen geheimen Hafteinrichtung in Stare Kiejkuty befindet. Im September bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass sie Vorwürfen eines saudi-arabischen Staatsbürgers nachgehe, er sei in einem geheimen Haftzentrum in Polen gefangen gehalten worden. Im Oktober wurde ihm der Status eines "Opfers" zuerkannt. Es war das erste Mal, dass eine Behörde in einem europäischen Land den Anspruch eines Opfers des Überstellungsprogramms anerkannte. Es tauchten neue Beweise dafür auf, dass Rumänien an den Überstellungsflügen und am geheimen Inhaftierungsprogramm beteiligt war, als die polnische Grenzschutzbehörde Informationen veröffentlichte, gemäß denen ein aus Polen kommendes Flugzeug mit Passagieren an Bord nach Rumänien weitergeflogen sei. Die rumänische Regierung bestritt zwar weiterhin jegliche Beteiligung, was jedoch immer unglaubwürdiger wurde.

Angesichts des zunehmenden Drucks kündigte Großbritannien eine Untersuchung der Vorwürfe an, wonach staatliche Stellen an Überstellungen und geheimer Inhaftierung bzw. an Folter und anderen Misshandlungen beteiligt waren, die an Häftlingen in anderen Ländern begangen wurden. Eine Delegation des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter besuchte zwei geheime Hafteinrichtungen in Litauen. Dort waren strafrechtliche Ermittlungen zur Errichtung und zum Betrieb der Gefängnisse eingeleitet worden, es wurde jedoch befürchtet, dass diese vorzeitig abgebrochen werden könnten. In Italien bestätigte ein Berufungsgericht die ersten und bisher einzigen Urteile in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Programm für außerordentliche Überstellungen und Geheimgefängnisse. 25 Personen – 22 CIA-Agenten, ein Angehöriger der US-Streitkräfte und zwei Mitarbeiter des italienischen Geheimdienstes – waren ihrer Beteiligung an der Entführung eines ägyptischen Staatsangehörigen auf offener Straße in Mailand für schuldig befunden worden. Anschließend hatte ihn die CIA rechtswidrig von Italien nach Ägypten überstellt, wo er an einem geheimen Haftort dem Vernehmen nach gefoltert wurde. Da die italienische Regierung auf die staatliche Geheimhaltungspflicht pochte, wurden Anklagen gegen fünf hochrangige Beamte des italienischen Geheimdienstes im Berufungsverfahren fallengelassen.

Wie in den Vorjahren wurden die Schlagwörter "Sicherheit" und "staatliche Geheimhaltungspflicht" allzu oft dafür benutzt, um Maßnahmen und Vorgehensweisen voranzutreiben, die die Menschenrechte eher untergruben als stärkten. So beriefen sich Regierungen z.B. nach wie vor auf sogenannte diplomatische Zusicherungen, die keine rechtlich bindende Verpflichtung darstellten, um ausländische Staatsangehörige abzuschieben, die mutmaßlich an terroristischen Handlungen beteiligt gewesen sein sollen, anstatt die Betroffenen wegen der ihnen vorgeworfenen Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. So schob etwa Großbritannien nach wie vor Personen, die nach Angaben der Behörden eine Gefahr für die "nationale Sicherheit" darstellten, in Länder ab, in denen ihnen Folter und andere Misshandlungen drohten.

Die Türkei schlug mit Änderungen der Verfassung und der Antiterrorgesetze einen positiven Weg ein. Doch die Antiterrorgesetze bildeten nach wie vor die Basis für unfaire Gerichtsverfahren. Diese Gesetze, auf deren Grundlage Untersuchungshaft angeordnet wurde und die hohe Gefängnisstrafen vorsehen, wurden auch dazu herangezogen, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken.

Die Sicherheitslage in Russlands Nordkaukasusregion war weiterhin instabil. Von Gewalt betroffen waren Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und benachbarte Regionen. Die Behörden räumten öffentlich ein, dass ihre Maßnahmen zur Bekämpfung der bewaffneten Gewalt keine Wirkung zeigten. Zahlreiche Beamte mit Polizeibefugnissen sowie Zivilpersonen kamen bei Angriffen bewaffneter Gruppen ums Leben.

Bewaffnete Gruppen verursachten auch in anderen Teilen Europas und Zentralasiens Tod und Zerstörung, unter anderem in Griechenland, Spanien und der Türkei. Im September verkündete die baskische Separatistengruppe Euskadi Ta Askatasuna (ETA), dass sie keine "bewaffneten Angriffe" mehr durchführen werde.

Todesstrafe

Aus Belarus, dem letzten Land in der Region, in dem noch Hinrichtungen stattfanden, kamen widersprüchliche Signale. Als anhaltend positiver Trend ließ sich verzeichnen, dass Regierungsvertreter sich bereit erklärten, beim Thema Todesstrafe mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten und bei der öffentlichen Meinungsbildung auf eine Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Dennoch wurden im Rahmen eines äußerst unvollkommenen Strafjustizsystems, das seine Verfahren auch weiterhin im Geheimen abwickelte, drei Todesurteile gesprochen und zwei Personen hingerichtet. Weder die Verurteilten noch ihre Angehörigen waren vorher über den Hinrichtungstermin in Kenntnis gesetzt worden. Die Leichname wurden nicht an die Familien übergeben, und diese erfuhren nicht einmal, wo die Hingerichteten begraben waren. Die Todesurteile wurden vollstreckt, obwohl der UN-Menschenrechtsausschuss um Aussetzung gebeten hatte, um die Fälle der betroffenen Männer untersuchen zu können.

Straflosigkeit nach bewaffneten Konflikten

Bei der Bekämpfung der Straflosigkeit im Zusammenhang mit Verbrechen, die in den 1990er Jahren während der Kriege auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien begangen worden waren, wurden im Jahr 2010 gewisse Fortschritte erzielt, sowohl durch Verfahren vor einheimischen Gerichten als auch durch Diskussionen auf internationaler Ebene. Kroatien und Serbien unternahmen bemerkenswerte Schritte, indem sich der kroatische Staatspräsident bei Opfern und Angehörigen entschuldigte, und das serbische Parlament die im Juli 1995 in Srebrenica verübten Verbrechen gegen die bosniakische (bosnisch-muslimische) Bevölkerung verurteilte, ohne sie jedoch als Völkermord zu bezeichnen.

Grundlegende Probleme blieben jedoch bestehen. Trotz der Haltung des kroatischen Präsidenten fehlte es nach wie vor am politischen Willen, das Justizsystem zu reformieren und die Straflosigkeit zu bekämpfen, dies betraf auch die ethnisch begründete Parteilichkeit bei der Strafverfolgung. Vorwürfe, die auf eine mutmaßliche Befehlsverantwortung mehrerer hochrangiger politischer und militärischer Führungspersönlichkeiten für Kriegsverbrechen hinwiesen, wurden nicht näher untersucht. In Bosnien und Herzegowina wurden 2010 die Bemühungen, Kriegsverbrechen zu ahnden, weiterhin durch hochrangige Politiker untergraben, die in öffentlichen Äußerungen das Justizsystem angriffen und Kriegsverbrechen leugneten, einschließlich des Völkermords von Srebrenica im Juli 1995. Die Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Zeugen waren in beiden Ländern unzureichend. Für die Opfer von Kriegsverbrechen und ihre Angehörigen stellte dies weiterhin eines der größten Probleme dar, wenn sie Gerechtigkeit einfordern wollten. Im Kosovo und in Serbien gab es kaum Fortschritte, um das Schicksal der seit dem Krieg im Jahr 1999 vermissten Personen aufzuklären. Der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien drängte Serbien, wirksamere Schritte zur Festnahme des früheren bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic und des früheren Anführers der kroatischen Serben Goran Hadzÿic zu ergreifen.

Keine der an dem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008 beteiligten Parteien führte umfassende Ermittlungen durch, obwohl ein Bericht der im Auftrag der EU durchgeführten internationalen Mission zur Untersuchung des Konflikts 2009 bestätigt hatte, dass sowohl die georgischen als auch die russischen und südossetischen Truppen Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen hatten.

Folter und andere Misshandlungen

Auch die Opfer von Folter und anderen Misshandlungen wurden 2010 von der Justiz im Stich gelassen, indem die Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, lag u.a. daran, dass Opfer häufig nicht direkt Zugang zu einem Rechtsbeistand erhielten, dass Staatsanwälte die Ermittlungen nicht zügig vorantrieben, dass Opfer sich vor Vergeltung fürchteten, dass gegen schuldig gesprochene Polizeibeamte nur niedrige Strafen verhängt wurden und dass es an gut ausgestatteten und unabhängigen Institutionen mangelte, die Beschwerden hätten überprüfen und schweres polizeiliches Fehlverhalten untersuchen können.

Allzu oft verschleierte verbales Entgegenkommen, dass sich in der Praxis nichts geändert hatte. So versprachen z.B. die Regierungen von Kasachstan und Usbekistan, sie würden eine "Null-Toleranz"-Politik verfolgen, und versicherten, Verstöße seien zurückgegangen. Doch gab es unvermindert Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen in diesen Ländern. Trotz des erklärten Wunschs nach einer Polizeireform führten in Russland Korruption und Absprachen zwischen Polizei, Ermittlungsbeamten und der Staatsanwaltschaft nach allgemeiner Einschätzung dazu, dass Ermittlungen nicht zum Ziel führten und Strafverfolgungsmaßnahmen behindert wurden. Inhaftierte berichteten häufig von widerrechtlichen Disziplinarstrafen und der Verweigerung notwendiger medizinischer Versorgung.

In einem richtungweisenden Urteil wurden in der Türkei 19 Staatsbedienstete, darunter auch Polizeibeamte und Gefängnisaufseher, wegen ihrer Beteiligung an den Folterungen verurteilt, die zum Tod des politisch engagierten Bürgers Engin Çeber in Istanbul im Oktober 2008 geführt hatten. Vier der Angeklagten wurden 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt. Es war das erste Mal in der türkischen Rechtsgeschichte, dass Staatsbedienstete für einen Todesfall, der auf Folter zurückzuführen war, eine solche Strafe erhielten. Bedauerlicherweise stand dies in starkem Kontrast zu anderen Fällen, in denen Staatsbediensteten Folterungen vorgeworfen wurden und bei denen die strafrechtlichen Ermittlungen sowie die Verfolgung von Beamten mit Polizeibefugnissen unergiebig blieben.

Gewalt gegen Frauen

In der gesamten Region war Gewalt gegen Frauen und Mädchen im familiären Umfeld weiterhin in allen Altersgruppen und allen sozialen Schichten weit verbreitet. Nur ein kleiner Teil der betroffenen Frauen erstattete wegen Misshandlungen Anzeige. Die meisten sahen davon ab, weil sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen ihrer gewalttätigen Partner hatten oder dachten, dadurch "Schande" über ihre Familie zu bringen, oder weil sie keine finanzielle Absicherung hatten. Migrantinnen ohne regulären Aufenthaltsstatus schreckten besonders davor zurück, bei der Polizei Anzeige zu erstatten, da sie befürchteten, abgeschoben zu werden, sollte entdeckt werden, dass sie keine Aufenthaltsgenehmigung besaßen. Doch insbesondere die Tatsache, dass die Täter in aller Regel straffrei blieben, vermittelte den Frauen den Eindruck, dass eine Anzeige wenig Sinn habe.

Die Frauen, die dennoch Gerechtigkeit forderten, wurden viel zu oft von der Justiz und von unzureichenden und wenig einfühlsamen Unterstützungseinrichtungen im Stich gelassen. So war in manchen Ländern, wie etwa Albanien, familiäre Gewalt kein eigener Straftatbestand. In vielen Ländern gab es keine funktionierende landesweite Vernetzung der zuständigen Einrichtungen, und die Angebote zum Schutz von überlebenden Opfern von familiärer Gewalt, wie etwa Frauenhäuser oder sichere alternative Wohnmöglichkeiten, waren absolut kläglich. So gab es z.B. in ganz Armenien nur ein einziges Frauenhaus, das durch Spenden aus dem Ausland finanziert wurde.

Gerechtigkeit und Straflosigkeit

In den Ländern Europas und Zentralasiens gab es nach wie vor ein großes Bedürfnis nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Für manche erfüllte es sich – wenn sich etwa der politische Willen dahingehend wandelte, die Vergangenheit aufzuarbeiten, oder auch durch Freunde, Verwandte und Anwälte, die sich standhaft weigerten, aufzugeben. Viele mussten lange warten, doch es lohnte sich: so z.B. für die Familie von Himzo Demir, der 1992 während der Jugoslawienkriege entführt worden war und "verschwand". Im Oktober 2010 erhielten seine Angehörigen endlich die Bestätigung, dass sich seine sterblichen Überreste unter den unbekannten Toten befanden, die in einem Massengrab in Visegrad gefunden worden waren. Die Suche war vorüber, und sie konnten endlich ihre Trauerfeier für Himzo Demir abhalten.

Angesichts vieler ermutigender Geschichten wundert es umso mehr, wie viele Menschen noch auf Gerechtigkeit warten müssen, weil Staaten den Zugang zur Wahrheit blockieren, die Justiz behindern und Wiedergutmachung verweigern. Dies erstaunt besonders in einer Region, die über Strukturen zum Schutz der Menschenrechte verfügt wie keine andere weltweit.

Die europäischen Regierungen müssen endlich begreifen, dass die von ihnen und ihren Verbündeten unternommen Versuche zu leugnen und zu vertuschen nichts nützen. Sie werden letztlich nicht standhalten gegen die tapferen Menschen, die mutig aufstehen – ungeachtet des persönlichen Preises, den sie dafür zahlen – und die Regierungen zur Rechenschaft ziehen.

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