Amnesty Report Nord- und Südamerika 11. Mai 2011

Amerika 2011

 

"Wir haben schon viel zu viel Gewalt erlitten ... Wir kommen nicht als Bittsteller, sondern fordern unser Recht: die unverzügliche rechtliche Festlegung unseres Landes, damit unser Volk wieder in Frieden, Glück und Würde leben kann."

Offener Brief des indigenen Volkes der Guarani-Kaiowá an den brasilianischen Präsidenten Luíz Inácio "Lula" da Silva, August 2010

In Nord-, Mittel- und Südamerika konnten in den vergangenen 50 Jahren viele Menschenrechte gesetzlich verankert werden, wenngleich diese in der Praxis nicht immer Beachtung fanden. So waren 2010 nach wie vor Menschenrechtsverstöße zu beklagen, vor allem gegen besonders schutzbedürftige Gruppen der Gesellschaft, doch wurden zweifellos Fortschritte erzielt, wenn auch langsam und nicht überall. Die Regierungen können zu Recht für sich in Anspruch nehmen, zu diesen Veränderungen beigetragen zu haben. Tatsächlich wurden die Fortschritte jedoch vor allem von den Gruppen vorangetrieben, die am stärksten von Menschenrechtsverstößen betroffen waren. Sie erhoben ihre Stimme und kämpften für einen Wandel, trotz eines hohen persönlichen Risikos. Ihre Entschlossenheit und Beharrlichkeit zeigten bei Millionen Menschen Wirkung, so dass es für Staats- und Regierungschefs immer schwieriger wurde, das wachsende Verlangen nach grundsätzlichen und unumkehrbaren Veränderungen zu ignorieren.

Zu Jahresbeginn wurden wir aber auf drastische Weise daran erinnert, wie angreifbar diese hart erkämpften Rechte sind. Im Januar suchte ein verheerendes Erdbeben Haiti heim, in dessen Folge mehr als 230000 Menschen starben und Millionen obdachlos wurden. Ende 2010 lebten noch immer mehr als 1 Mio. Menschen, deren Häuser durch die Katastrophe zerstört worden waren, in Zeltlagern. Damit wurde ihnen ihr Recht auf angemessenen Wohnraum vorenthalten, und sie sahen sich Übergriffen weitgehend schutzlos ausgesetzt. Der dramatische Anstieg von Vergewaltigungen stellte den Behörden ein vernichtendes Zeugnis aus – sie waren nicht in der Lage, für die Sicherheit der in den Lagern lebenden Frauen und Mädchen zu sorgen.

Haiti machte in eindringlicher Weise deutlich, was mit ganz normalen Menschen geschehen kann, wenn der politische Wille fehlt, dem Schutz ihrer Rechte Vorrang einzuräumen. In Haiti zeigte sich aber auch eindrucksvoll, wie basisdemokratische Organisationen, die an vorderster Front für den Schutz der Menschenrechte kämpfen, nahezu Unmögliches leisten, um Hoffnung und Würde zu erhalten. Dies bewies z.B. eine Selbsthilfeorganisation von Vergewaltigungsopfern (Komisyon Fanm Viktim pou Viktim – KOFAVIV), die der wachsenden Zahl von Opfern sexueller Gewalt in den Lagern Unterstützung anbot. Die meisten Frauen, die bei KOFAVIV mitarbeiteten, waren selbst Überlebende sexueller Gewalt, viele von ihnen hatten durch das Erdbeben alles verloren. Doch trotz eigener persönlicher Tragödien übernahmen sie die Aufgabe, den Überlebenden sexueller Gewalt medizinische, psychologische und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen, da der haitianische Staat, seiner Pflicht zur Hilfe nicht nachkam.

Selbst in Zeiten relativer Ruhe und Stabilität sorgen Regierungen häufig nicht dafür, dass Rechte tatsächlich respektiert werden – insbesondere die Rechte derjenigen, die dem größten Risiko von Verstößen ausgesetzt sind, wie in Armut lebende Menschen, indigene Gemeinschaften sowie Frauen und Mädchen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn mächtige wirtschaftliche Interessengruppen der Ansicht sind, die Anerkennung der Rechte armer und ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen stehe ihren wirtschaftlichen Zielen im Weg.

Menschenrechtsverteidiger

In vielen Ländern des Kontinents war es weiterhin gefährlich, die Menschenrechte zu verteidigen. So wurden u.a. in Brasilien, Ecuador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Venezuela Menschenrechtsverteidiger ermordet, bedroht, drangsaliert oder mit willkürlichen Gerichtsverfahren überzogen. In vielen Fällen gerieten sie ins Visier, weil ihre Tätigkeit die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Machthaber bedrohte. In Ländern wie Kolumbien und Brasilien wurden zwar einige Schutzmaßnahmen umgesetzt, um die Risiken, denen Menschenrechtsverteidiger ausgesetzt waren, zu begrenzen. In anderen Ländern waren dagegen bis Ende 2010 keine geeigneten Maßnahmen ergriffen worden, um das Problem anzugehen. In Mexiko beispielsweise, wo die Sorge um die Sicherheit von Menschenrechtsverteidigern stieg, kamen die Behörden bei der Umsetzung eines Schutzprogramms kaum voran, obwohl sie sich dazu bereits 2008 verpflichtet hatten.

Indigene Völker

Die indigenen Völker Nord-, Mittel- und Südamerikas konnten sich in den vergangenen Jahren besser Gehör verschaffen und organisierten sich zunehmend, um ihre Rechte zu verteidigen. Doch die Hinterlassenschaften der zahllosen Menschenrechtsverstöße, deren Opfer sie wurden, und die andauernde Straffreiheit für die Verantwortlichen trugen dazu bei, dass sie in der Region weiterhin unter Diskriminierung und Armut litten.

Die Ausbreitung der Agrar- und Rohstoffindustrien und riesige Entwicklungsvorhaben, wie Staudamm- und Straßenbauprojekte auf dem traditionellen Siedlungsland der indigenen Bevölkerung, stellten eine erhebliche und zunehmende Bedrohung dieser Völker dar. In Argentinien, Brasilien, Chile, Guatemala, Kolumbien, Panama, Paraguay und Peru wurden Angehörige indigener Völker, die nach Ansicht der Investoren ihren kommerziellen Interessen im Weg standen, bedroht, schikaniert, vertrieben, verschleppt und ermordet, da der Drang nach Ausbeutung der Rohstoffe in ihren Gebieten stärker wurde.

Obwohl zahlreiche Staaten in der Region 2007 für die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker gestimmt hatten, waren bis Ende 2010 noch in keinem Land Gesetze erlassen worden, die sicherstellen, dass Entwicklungsprojekte, die indigene Gemeinschaften betreffen, nur nach freier, rechtzeitiger und informierter Zustimmung der Betroffenen umgesetzt werden.

Peru stand im Mai 2010 kurz davor, eine wegweisende Gesetzgebung einzuführen, als der Kongress ein Gesetz über das Recht indigener Völker auf Vorabkonsultation verabschiedete, an dessen Ausarbeitung Vertreter indigener Völker beteiligt waren, doch verweigerte Präsident García dem Gesetz seine Zustimmung. Paraguay kam weiterhin zwei Entscheidungen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus den Jahren 2005 und 2006 nicht nach, die den Staat verpflichteten, den Yakye Axa und den Sawhoyamaxa ihr traditionelles Land zurückzugeben. Im August urteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in einem dritten Fall bezüglich der Rechte indigener Völker, dass Paraguay die Rechte der Xákmok Kásek verletzt habe. In Brasilien, wo das Recht der indigenen Völker auf ihr "traditionelles Siedlungsland" bereits seit 1988 in der Verfassung verankert ist, waren die Guarani-Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul bei der Durchsetzung ihrer Landforderungen mit zahlreichen Hindernissen und langwierigen Verzögerungen konfrontiert. Während die Gerichtsverfahren über ihre Forderungen festgefahren waren, wurden die Guarani-Kaiowá von bewaffneten Männern schikaniert und angegriffen, die lokale Farmer angeheuert hatten, um die indigenen Gruppen von ihrem Land zu vertreiben.

Konflikt

In Kolumbien forderte der seit 45 Jahren anhaltende interne bewaffnete Konflikt weiterhin einen hohen Preis unter der Zivilbevölkerung, die am meisten unter den Kampfhandlungen zu leiden hatte. Tausende von Menschen wurden Opfer von Zwangsvertreibungen, widerrechtlichen Tötungen, Entführungen oder des "Verschwindenlassens" durch Guerillagruppen, Sicherheitskräfte und Paramilitärs. Dabei nahmen die Konfliktparteien insbesondere gesellschaftliche Randgruppen wie Angehörige indigener Völker, Afro-Kolumbianer, Gemeinschaften von Kleinbauern sowie in Armut lebende Stadtbewohner ins Visier. Das Versprechen des neugewählten Präsidenten Juan Manuel Santos Calderón, er werde den Menschenrechten und dem Kampf gegen die Straflosigkeit Priorität einräumen, weckte die Hoffnung, die Regierung würde politischen Willen zeigen, um endlich etwas gegen die seit langem bestehende Krise der Menschenrechte im Land zu unternehmen. Doch die fortgesetzten Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger, engagierte Bürger und Sprecher bäuerlicher und indigener Gemeinschaften, vor allem solche, die sich für Landrechte einsetzten, machten das enorme Ausmaß des Problems deutlich, das es zu bewältigen gilt.

In mehreren Ländern, vor allem in der Andenregion, fanden Massendemonstrationen statt, die sich gegen die Regierungspolitik und gegen Gesetze in Bezug auf Bodenschätze, Land, Bildung und öffentliche Dienstleistungen richteten. Im September schien Ecuador kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen, als Hunderte von Polizeibeamten auf die Straße gingen, um gegen eine von der Regierung geplante Änderung ihrer Besoldung und Rentenansprüche zu protestieren. Präsident Rafael Vicente Correa Delgado, der während der Proteste in Bedrängnis geraten war, musste wegen eines Tränengasangriffs kurzzeitig im Krankenhaus behandelt werden.

Öffentliche Sicherheit

Armut, Gewaltkriminalität und die Verbreitung von Kleinwaffen schufen den Nährboden für Menschenrechtsverstöße. Bewohner armer städtischer Viertel waren – insbesondere in Teilen Mexikos, Zentralamerikas, Brasiliens und der Karibik – weiterhin einerseits der Gewalt organisierter krimineller Banden und andererseits Menschenrechtsverstößen durch die Sicherheitskräfte ausgesetzt.

In vielen Fällen untergrub die allgegenwärtige Korruption in staatlichen Institutionen deren Fähigkeit, angemessen auf das organisierte Verbrechen zu reagieren. Die Regierungen zeigten jedoch wenig Interesse, dieses seit langem existierende systemimmanente Problem anzugehen. Stattdessen gingen sie zunehmend dazu über, das Militär gegen das organisierte Verbrechen und andere vermeintliche Bedrohungen der Sicherheit einzusetzen.

So hatte z.B. in Mexiko der Einsatz des Militärs zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zur Folge, darunter rechtswidrige Tötungen, "Verschwindenlassen", Folter und willkürliche Inhaftierungen. In Jamaika wurde im Mai nach einem Ausbruch von Bandenkriminalität in Teilen des Landes der Notstand ausgerufen. Während des Notstands wurden mindestens 4000 Menschen festgenommen und 76 getötet, darunter drei Angehörige der Sicherheitskräfte. Bei mehr als der Hälfte der Tötungen soll es sich um außergerichtliche Hinrichtungen gehandelt haben.

Antiterrormaßnahmen und Menschenrechte

US-Präsident Barack Obama hielt sein Versprechen nicht ein, das Gefangenenlager Guantánamo Bay bis Januar 2010 zu schließen. Ende 2010 waren noch immer 174 Personen in diesem Gefängnis inhaftiert. Der bislang einzige Guantánamo-Häftling, den man zur strafrechtlichen Verfolgung auf das US-amerikanische Festland verbracht hatte, wurde dort vor ein Gericht der zivilen Justiz gestellt und schuldig gesprochen. Zwei Guantánamo-Häftlinge wurden 2010 von einer Militärkommission verurteilt, nachdem sie sich schuldig bekannt hatten. Die im April erlassenen revidierten Bestimmungen für die Verfahren gegen Verdächtige im sogenannten Krieg gegen den Terror vor den Militärkommissionen gaben kaum Anlass zur Hoffnung, dass die US-Regierung substanzielle Reformen durchführen und die Menschenrechte verteidigen würde.

Gerechtigkeit und Straflosigkeit

Es gab in mehreren lateinamerikanischen Ländern, insbesondere im südlichsten Teil des Kontinents, kontinuierliche und deutliche Fortschritte bei den Bemühungen, einige der Verantwortlichen für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen während der früheren Militärregime zur Verantwortung zu ziehen.

Im April 2010 wurde in Argentinien der ehemalige General und frühere Staatspräsident Reynaldo Bignone wegen Folter, Mord und mehreren Entführungen schuldig gesprochen, die begangen worden waren, als er von 1976 bis 1978 Kommandant des berüchtigten Haftzentrums Campo de Mayo war. Im Juli ergingen gegen den früheren General Luciano Benjamín Menéndez und den ehemaligen Geheimdienstchef der Polizei Roberto Albornoz lebenslange Haftstrafen wegen Menschenrechtsverletzungen, die sie während des Militärregimes (1976–83) in einem geheimen Haftzentrum in der Provinz Tucumán verübt hatten.

Im Juli 2010 wurde der frühere Chef des berüchtigten chilenischen Geheimdienstes Dirección de Inteligencia Nacional (DINA), Manuel Contreras, zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt. Er war schuldig gesprochen worden, an der im Jahr 1974 in Argentinien erfolgten Tötung von General Carlos Prats und dessen Frau beteiligt gewesen zu sein. General Prats war Kabinettsmitglied der Regierung von Präsident Salvador Allende (1970–73).

In einem im Oktober 2010 gefällten bahnbrechenden Urteil erklärte der Oberste Gerichtshof von Uruguay das im Jahr 1986 erlassene Amnestiegesetz für verfassungswidrig. Das Urteil beschränkte sich jedoch auf das Verfahren gegen den früheren Präsidenten Juan María Bordaberry (1971–76) und wird deshalb nicht zur Wiederaufnahme bereits eingestellter Prozesse führen.

Ebenfalls im Oktober wurden Angehörige der peruanischen Todesschwadron Colina und ehemalige hochrangige Funktionäre der Regierung unter Alberto Fujimori (1990–2000) wegen der Tötung von 15 Personen und dem "Verschwindenlassen" von zehn weiteren Personen in den Jahren 1991 und 1992 verurteilt. In Kolumbien wurde im Juni der ehemalige Oberst Luís Alfonso Plazas Vega zu 30 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ihm wurde das "Verschwindenlassen" von elf Menschen im November 1985 zur Last gelegt, als Militärkräfte den Justizpalast gestürmt hatten, in dem Mitglieder der Guerillagruppe M-19 Geiseln genommen hatten.

Die Fortschritte bei der Bekämpfung der Straflosigkeit wurden jedoch dadurch eingeschränkt, dass militärische Institutionen die Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen in vielen Fällen nicht unterstützten und manchmal sogar unverhohlen Widerstand dagegen leisteten. So hatten Beamte, die in Bolivien Fälle von "Verschwindenlassen" aus den Jahren 1980 und 1981 untersuchten, weiterhin Schwierigkeiten, Zugang zu militärischen Archiven zu erhalten, obwohl der Oberste Gerichtshof in zwei Entscheidungen die Freigabe der Archive angeordnet hatte.

In Mexiko und Kolumbien beanspruchte das Militärgerichtssystem weiterhin die Zuständigkeit für Fälle mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Streitkräfte begangen wurden. Trotz eindeutiger Nachweise, dass Militärgerichte und militärische Ankläger nicht unabhängig und unparteiisch handelten, enthielten neue Gesetze in Kolumbien und Gesetzesvorschläge in Mexiko keine ausreichenden Garantien dafür, dass die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen der militärischen Gerichtsbarkeit entzogen würden.

In einigen Ländern gerieten die Bemühungen, Gesetze zur Bekämpfung von Straflosigkeit einzuführen, ins Stocken, während in anderen Ländern die in den vergangenen Jahren erzielten Fortschritte wieder rückgängig gemacht wurden. So entschied der chilenische Oberste Gerichtshof im April 2010, dass im Falle des 1976 von Sicherheitskräften ermordeten spanischen Diplomaten Carmelo Soria Espinosa das Amnestiegesetz von 1978 Anwendung finden solle. Ebenfalls im April bestätigte das Oberste Bundesgericht Brasiliens die Rechtsauffassung, dass von Angehörigen des Militärs begangene Verbrechen, wie z.B. außergerichtliche Tötungen, Folter und Vergewaltigung, politisch motiviert oder im Rahmen politischer Maßnahmen begangen worden seien und somit unter ein vom Militärregime im Jahr 1979 erlassenes Amnestiegesetz fielen. Im November entschied der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte jedoch, dass das im Jahr 1979 erlassene Amnestiegesetz null und nichtig sei, und erinnerte die brasilianischen Behörden an ihre Pflicht, die Täter vor Gericht zu stellen. Währenddessen erklärte in Peru der Kongress das Gesetzesdekret 1097 für ungültig, das den Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen faktisch Straflosigkeit gewährt hatte. Allerdings blieben zwei Dekrete weiterhin in Kraft, die es erlauben, Angehörige der Streitkräfte, denen Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden, vor Militärgerichte zu stellen.

In El Salvador unterzeichnete Präsident Carlos Mauricio Funes Cartagena im Januar 2010 einen Erlass, mit dem eine neue interinstitutionelle Kommission zur Suche nach "verschwundenen" Kindern ins Leben gerufen wurde. Sie soll den Verbleib von Kindern aufklären, die während des internen bewaffneten Konflikts (1980–92) "verschwunden" waren. Ende 2010 hatte die neue Kommission ihre Arbeit jedoch noch nicht aufgenommen, und das Schicksal hunderter "verschwundener" Kinder war weiterhin ungeklärt.

In den USA wurden die Verantwortlichen für Verstöße gegen das Völkerrecht im Zuge des "Kriegs gegen den Terror", wie z.B. Folter und "Verschwindenlassen", nicht zur Rechenschaft gezogen. Im November räumte der ehemalige Präsident George W. Bush ein, er habe Verhörtechniken wie waterboarding (simuliertes Ertränken) während seiner Regierungszeit genehmigt. Für die Menschenrechtsverletzungen, die im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Programm für außerordentliche Überstellungen und Geheimgefängnisse verübt worden sind, wurde jedoch weiterhin niemand zur Rechenschaft gezogen noch wurden Entschädigungen geleistet. Im November 2010 erklärte das US-Justizministerium ohne nähere Erläuterung, dass in Bezug auf die Vernichtung von 92 Videos im Jahr 2005 keine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werde. Die Aufnahmen enthielten Beweise für Foltertechniken, die 2002 gegen zwei Gefangenen angewandt worden waren, darunter auch waterboarding.

Internationale Rechtsprechung

Im Dezember 2010 wurden 14 Personen von einem Gericht in Frankreich in Abwesenheit zu Freiheitsstrafen zwischen 15 Jahren und lebenslänglich verurteilt. Es handelte sich dabei um einen chilenischen Zivilisten, zwölf ehemalige Angehörige des chilenischen Militärs, unter ihnen General Manuel Contreras, und einen ehemaligen Angehörigen der argentinischen Streitkräfte. Die 14 Männer wurden im Zusammenhang mit dem "Verschwindenlassen" von vier französischstämmigen Chilenen in den ersten Jahren der Militärregierung von Augusto Pinochet in Chile (1973–90) verurteilt.

Auf dem amerikanischen Kontinent nahmen Richter unter Bezug auf die internationale Menschenrechtsstandards Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen wieder auf, die wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist zuvor eingestellt worden waren. So entschied der Oberste Gerichtshof von Kolumbien im Mai 2010, dass der frühere Kongressabgeordnete César Pérez García im Zusammenhang mit einem 1988 von Paramilitärs verübten Massaker in Segovia, bei dem mehr als 40 Kleinbauern getötet worden waren, strafrechtlich verfolgt werden solle. Das Gericht argumentierte, Massaker kämen einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich und unterlägen deshalb nicht der Verjährung.

Im Jahr 2010 ratifizierte St. Lucia als 113. Staat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Paraguay und Brasilien ratifizierten das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem "Verschwindenlassen". Keines der beiden Länder akzeptierte allerdings die Zuständigkeit des UN-Ausschusses über das "Verschwindenlassen", Aussagen von Opfern bzw. in deren Namen abgegebene Erklärungen entgegenzunehmen und zu prüfen.

Todesstrafe

2010 wurden in den USA 46 Gefangene hingerichtet, darunter eine Frau. Damit stieg die Gesamtzahl der seit Aufhebung des Moratoriums durch den Obersten Gerichtshof im Jahr 1976 vollstreckten Todesurteile auf 1234.

In Guatemala verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Vollstreckung der Todesstrafe wieder ermöglicht hätte – der Präsident legte jedoch sein Veto ein. Im Dezember stimmte Guatemala für die Resolution der UN-Generalversammlung, die zu einem weltweiten Hinrichtungsmoratorium aufrief.

Kuba wandelte im Dezember die Urteile gegen die letzten drei Gefangenen, die zum Tode verurteilt worden waren, in Haftstrafen um.

In Bahamas, Guyana, Jamaika sowie Trinidad und Tobago wurden Todesurteile verhängt, es fanden jedoch 2010 keine Hinrichtungen statt.

Freie Meinungsäußerung

Der amerikanische Kontinent war für Medienschaffende weiterhin eine gefährliche Region. Nur aus Asien wurden 2010 mehr Morde an Journalisten gemeldet. Fast 400 Medienmitarbeiter wurden bedroht oder angegriffen, mindestens 13 Journalisten wurden von Unbekannten getötet. Rund die Hälfte der Todesfälle entfielen auf Mexiko, gefolgt von Honduras, Kolumbien und Brasilien. In vielen Fällen war davon auszugehen, dass die Journalisten ermordet wurden, weil sie Korruptionsfälle aufgedeckt oder Verbindungen zwischen Staatsbediensteten und kriminellen Netzwerken enthüllt hatten.

Eine beträchtliche Zahl von Fernsehstationen, insbesondere in Venezuela und der Dominikanischen Republik, wurden zur zeitweiligen Schließung gezwungen. Auch Radiostationen waren von Schließungen betroffen. In der Dominikanischen Republik sahen sich vor den Parlamentswahlen im Mai mindestens sieben Fernseh- und Radiostationen mit Sperrungen ihrer Übertragungswege konfrontiert oder wurden gezwungen, ihren Betrieb zeitweise einzustellen. Einigen Kanälen war es bis zum Jahresende noch nicht gelungen, den Sendebetrieb wieder aufzunehmen.

In Kuba kam es weiterhin zu willkürlichen Festnahmen von Journalisten, und alle Medien unterlagen weiterhin der staatlichen Kontrolle.

Ungleichheit und Entwicklung

Argentinien, Brasilien, Mexiko und Venezuela konnten bei der Armutsbekämpfung im Jahr 2010 Fortschritte erzielen. Trotz einiger Anzeichen dafür, dass die Armut in Lateinamerika und der Karibik langsam zurückging, litt ein Fünftel der Bevölkerung in der Region noch immer unter extremer Armut, dazu zählte auch die große Mehrheit der indigenen Bevölkerung. In Bezug auf die Einkommensverteilung blieb Lateinamerika auch 2010 die Weltregion mit der größten Ungleichheit. Zwar gab es diesbezüglich in vielen Ländern, insbesondere in Venezuela, Verbesserungen. Viele der am wenigsten entwickelten Länder erzielten jedoch keinerlei greifbare Fortschritte bei der Reduzierung der Ungleichheit.

Unter der in Armut lebenden Bevölkerung waren indigene Völker und Bevölkerungsgruppen afrikanischer Herkunft stark überrepräsentiert. Die oft wiederholte, aber falsche Behauptung, die Rechte indigener Völker zu respektieren, sei unvereinbar mit wirtschaftlichem Wachstum und Entwicklung, musste als Rechtfertigung für anhaltende Menschenrechtsverletzungen herhalten. Obwohl die Interamerikanische Menschenrechtskommission Guatemala aufgefordert hatte, die Arbeiten in der Goldmine Marlin 1 im Departamento San Marcos einzustellen, war die Mine zum Jahresende noch immer in Betrieb. In Kanada traf die Börse von Toronto im Januar die Entscheidung, den Handel mit Aktien der Copper Mesa Mining Corporation einzustellen. Die indigene Gemeinschaft der Intang in Ecuador hatte gegen das Unternehmen Klage wegen Menschenrechtsverletzungen erhoben. Im Mai wies ein Gericht in Ontario die Klage ab. Ein Einspruch gegen diese Entscheidung war zum Jahresende noch vor dem Berufungsgericht Ontario anhängig.

18 in Lateinamerika tätige UN-Behörden veröffentlichten im Juli 2010 einen Bericht, welche Fortschritte die einzelnen Staaten im Hinblick auf die Millenniums-Entwicklungsziele erreicht hatten. Der Bericht zeigte, dass die geringsten Erfolge bei der angestrebten Reduzierung der Müttersterblichkeit zu verzeichnen waren. Zehntausende Frauen starben weiterhin an vermeidbaren Komplikationen während der Schwangerschaft, und es herrschten nach wie vor große Unterschiede beim Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung. Der Bericht führte dies auf die Diskriminierung von Frauen und ihren niedrigen gesellschaftlichen Status zurück.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Verweigerung ihrer reproduktiven Rechte

Gewalttaten und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen waren weiterhin weit verbreitet. Den meisten Opfern wurde der Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verwehrt. Einige Staaten in der Region führten zwar Gesetze ein, um die geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen, doch wurden diese in der Praxis kaum angewandt, und es kam nur selten zu Ermittlungen und Strafverfahren. In den USA wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das indigenen Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden, einen verbesserten Zugang zum Justizsystem versprach. Dagegen führte ein mangelhaftes Justizwesen in Ländern wie Bolivien, Guatemala, Haiti und Nicaragua dazu, dass sich die Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Gewalt weiter verfestigte und ein Klima geschaffen wurde, das zur einer Ausbreitung der Gewalt beitrug.

2010 wurden in den Ländern Nord-, Mittel- und Südamerikas Tausende von Frauen vergewaltigt und ermordet oder fielen dem "Verschwindenlassen" zum Opfer. Ein besonders hohes Risiko bestand für Frauen in bestimmten Gebieten Guatemalas und Mexikos und für indigene Frauen in Kanada. Angesichts der Tatsache, dass zur Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung dieser Verbrechen keine ausreichenden Mittel bereitstanden, stellte sich die Frage, ob die Staaten die Gewalt gegen Frauen tatsächlich bekämpfen wollten.

Viele Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt waren Mädchen unter 18 Jahren. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes rief im Oktober Nicaragua dazu auf, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um die sexuelle Gewalt gegen Kinder zu beseitigen, da immer mehr Beweise dafür auftauchten, dass sexueller Missbrauch von Mädchen in Nicaragua weit verbreitet ist.

Das absolute Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen verweigerte Frauen und Mädchen in Chile, El Salvador und Nicaragua weiterhin ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit. Aufgrund von Gesetzen, die Schwangerschaftsabbrüche kriminalisierten, waren alle Personen, die eine Abtreibung durchführten oder durchführen lassen wollten, dem Risiko einer Inhaftierung ausgesetzt. Das galt auch für Mädchen und Frauen, die infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden waren oder bei denen die Schwangerschaft zu lebensbedrohlichen Komplikationen führte.

In anderen Ländern waren Schwangerschaftsabbrüche zwar gesetzlich erlaubt, sie wurden Frauen und Mädchen aber faktisch verwehrt, weil langwierige juristische Verfahren den Zugang zu einer sicheren Abtreibung fast unmöglich machten. Das galt insbesondere für Frauen und Mädchen, die nicht über die finanziellen Mittel verfügten, um den Schwangerschaftsabbruch in einer privaten Einrichtung vornehmen zu lassen.

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