Amnesty Report 10. Mai 2011

Äthiopien 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Demokratische Bundesrepublik Äthiopien Staatsoberhaupt: Girma Wolde-Giorgis Regierungschef: Meles Zenawi Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 85 Mio. Lebenserwartung: 56,1 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 138/124 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 35,9%

Die regierende Revolutionäre Demokratische Front des äthiopischen Volkes (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front – EPRDF) ging aus den Parlamentswahlen im Mai 2010 als Siegerin hervor. Die Wahlen waren geprägt von Einschüchterungen, Schikanen und Einschränkungen der Vereinigungs- und der Versammlungsfreiheit. 2010 traten Gesetze in Kraft, die das Engagement für Menschenrechte stark beschneiden. Die Arbeit der unabhängigen Presse wurde erheblich eingeschränkt. Um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, drohten die Behörden flächendeckend damit, staatliche Ressourcen, Hilfsleistungen und berufliche Aufstiegschancen einzuschränken.

Hintergrund

Im Mai 2010 wurden das Parlament und der Staatsrat gewählt. Die EPRDF und ein kleines Parteienbündnis gewannen 99,6% der Abgeordnetensitze. Das Oppositionsbündnis Forum für Demokratischen Dialog in Äthiopien, Medrek, warf der Regierung Wahlbetrug vor und forderte eine Wiederholung der Wahl. Die staatliche Wahlbehörde wies die Forderung zurück; eine vor dem Obersten Gerichtshof eingelegte Beschwerde wurde abgewiesen.

Im Abschlussbericht der EU-Wahlbeobachterkommission hieß es, die Wahlen hätten internationalen Standards nicht entsprochen. In den Schlussfolgerungen wurde deutlich, dass es für die Parteien, die bei den Wahlen angetreten waren, keine Chancengleichheit gegeben hatte. Es war von Verletzungen der Meinungs-, der Versammlungs- und der Bewegungsfreiheit die Rede, denen Mitglieder von Oppositionsparteien ausgesetzt waren. Weiter hieß es in dem Bericht, dass die Regierungspartei staatliche Mittel missbräuchlich eingesetzt habe und unabhängige Medien nicht über die Wahlen berichten konnten. Der äthiopische Ministerpräsident bezeichnete den Kommissionsbericht als "baren Unsinn", und der Leiter der Wahlbeobachterkommission durfte nicht nach Äthiopien einreisen, um den Bericht dort vorzustellen.

Äthiopien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Afrika. Die Regierung wurde von den UN dafür gelobt, dass ihr Vorhaben, die Armut bis 2015 um 50% zu reduzieren, nach Plan verläuft. Die UN stellten jedoch auch fest, dass die zunehmende Ungleichheit in den Städten und schlechte Bildungsstandards die Entwicklung behindern und dass Äthiopien in den Bereichen Gleichstellung der Frauen und Müttersterblichkeit keine ausreichenden Fortschritte mache.

Gewalt und Unterdrückung im Vorfeld der Wahlen

Mitglieder von Oppositionsparteien wurden vor den Wahlen im Mai mehrfach gedrängt, aus ihren Parteien auszutreten. Dabei wurden staatliche Ressourcen, Hilfeleistungen und berufliche Aufstiegschancen als Druckmittel eingesetzt. Bildungschancen, Arbeitsplätze in der Verwaltung und Nahrungsmittelhilfe waren häufig an eine Mitgliedschaft in der Regierungspartei gebunden. Wähler in Addis Abeba sollen unmittelbar vor den Wahlen mit dem Entzug von staatlicher Unterstützung bedroht worden sein, falls sie nicht für die EPRDF stimmen würden.

Im Vorfeld der Wahlen kam es zu politisch motivierten Gewalttaten.

  • Aregawi Gebreyohannes, Kandidat der Partei Arena-Tigray, die dem Oppositionsbündnis Medrek angehört, wurde in Tigray am 2. März 2010 von sechs unbekannten Männern erstochen. Die Regierung wies Vorwürfe der Opposition zurück, dass der Mord politisch motiviert sei, und erklärte, es habe sich um einen "privaten Streit" in einer Bar gehandelt. Ein Mann wurde wegen seiner mutmaßlichen Mittäterschaft zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Opposition bezeichnete den Prozess als "arrangiert und inszeniert" und erklärte, Aregawi Gebreyohannes sei vor seiner Ermordung von Regierungsseite schikaniert worden.

  • Es gingen weitere Meldungen über ähnliche Tötungen ein. So berichtete die Partei Oromo Federalist Congress, dass Biyansa Daba, ein Parteimitglied, am 7. April 2010 wegen seiner politischen Betätigung erschlagen worden sei. Die Regierung gab im Mai bekannt, dass ein Polizist von zwei Oppositionsanhängern erstochen worden sei. Diese seien geständig gewesen und hätten Mitgliedsausweise von Medrek bei sich gehabt. Wie es in Berichten hieß, wurden sie binnen einer Woche vor Gericht gestellt und schuldig gesprochen. Am 23. und am 24. Mai wurden in der Region Oromia zwei Parteimitglieder des Volkskongresses der Oromo (Oromo People’s Congress – OPC) erschossen. Die Opposition erklärte, dass die Regierung Protestaktionen verhindern wollte; demgegenüber erklärte die Regierung, dass die Männer versucht hätten, in ein Wahllokal einzudringen.

Medrek berichtete im Februar 2010, dass bewaffnete Männer Mitglieder des Bündnisses daran gehindert hätten, sich als Kandidaten registrieren zu lassen.

Mitglieder von Oppositionsparteien wurden nach Angaben ihrer Parteien im Auftrag der EPRDF im Vorfeld der Wahlen schikaniert, verprügelt und inhaftiert. Berichten zufolge wurden Hunderte von Menschen in der Region Oromia willkürlich festgenommen, häufig mit der Begründung, dass sie Anhänger der Oromo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front – OLF), einer bewaffneten Gruppe, seien. Angehörige der ethnischen Gruppe der Oromo wurden nach vorliegenden Informationen ohne Gerichtsverfahren inhaftiert sowie gefoltert und getötet. Am 7. Februar berichtete Dr. Merera Gudina, Vorsitzender des OPC und des Oppositionsbündnisses Medrek, den Medien, dass in einem Zeitraum von nicht einmal fünf Monaten mindestens 150 Funktionäre der Oromo-Opposition festgenommen worden seien.

Recht auf freie Meinungsäußerung – Journalisten

Die unabhängige Presse des Landes konnte sich kaum betätigen. Journalisten arbeiteten in einem Klima der Angst, weil sie Repressalien und strafrechtliche Verfolgung vonseiten des Staates befürchten mussten. Informationen wurden von staatlichen Stellen wie der Radio- und Fernsehbehörde ERTA und dem staatlichen Verlag Ethiopian Press streng kontrolliert.

  • Im Januar 2010 wurde Ezeden Muhammad, Verleger und Herausgeber von Hakima, der größten islamischen Wochenzeitung Äthiopiens, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er 2008 mit einer Kolumne, in der er Kommentare des Ministerpräsidenten kritisiert hatte, "Aufwiegelung" betrieben haben soll. Er kam im September wieder frei. Am selben Tag wurde jedoch sein 17-jähriger Sohn Akram Ezeden festgenommen. Dieser hatte während der Haft seines Vaters als Herausgeber der Zeitung fungiert. Er kam später wieder frei, und die Vorwürfe gegen ihn wurden fallengelassen.

  • Am 4. März 2010 meldete der Radiosender Voice of America, dass seine amharischsprachigen Sendungen gestört würden. Am 19. März erklärte Ministerpräsident Zenawi, dass Voice of America "destabilisierende Propaganda" ausgestrahlt habe. Er verglich den Sender mit Radio Mille Collines, dem ruandischen Radiosender, der im Vorfeld und während des Völkermords in Ruanda von 1994 den Hass zwischen den Ethnien in Ruanda geschürt hatte.

  • Woubshet Taye, Chefredakteur der Awramba Times, legte seine Tätigkeit im Mai 2010 nieder, nachdem ihn die äthiopische Medienaufsichtsbehörde gewarnt hatte, dass man ihn "für alles Blutvergießen, zu dem es im Zusammenhang mit den bevorstehen Wahlen kommen könnte, zur Verantwortung ziehen werde". Die Warnung erfolgte, nachdem eine Woche zuvor in der Awramba Times ein Artikel über eine Demonstration für die Demokratie während des Wahlkampfs im Jahr 2005 erschienen war.

Im März 2010 setzte der Oberste Gerichtshof die Geldstrafen wieder in Kraft, die 2007 gegen vier unabhängige Verlage im Zuge des harten Vorgehens der Regierung gegen die Medien nach den Wahlen 2005 verhängt worden waren. Der Staatspräsident hatte die Strafen 2007 aufgehoben. Die Verleger waren nicht in der Lage, die erneut verhängten Geldstrafen aufzubringen. Die Regierung forderte daraufhin das erstinstanzliche Strafgericht auf, die Vermögenswerte der Verleger und ihrer Ehefrauen einzufrieren.

Der Staat zensierte Internetinhalte und blockierte einige Websites. Die staatliche Wahlbehörde führte eine Presseregelung ein, welche die Tätigkeit von Journalisten während der Wahlen einschränkte; u.a. waren Interviews mit Wählern, Kandidaten und Wahlbeobachtern am Wahltag verboten.

Das Gesetz über Massenmedien und Informationsfreiheit (Mass Media and Freedom of Information Proclamation) blieb in Kraft. Es räumte der Regierung unverhältnismäßige Befugnisse ein, um Gerichtsverfahren wegen Verleumdung anzustrengen, Geldstrafen zu verhängen sowie Medien die Registrierung und Lizenzen zu verweigern.

Menschenrechtsverteidiger

Das 2009 verabschiedete Gesetz über gemeinnützige Organisationen und Verbände trat in Kraft. Das Gesetz legt zivilgesellschaftlichen Organisationen umfassende Kontrollen auf. Verstöße gegen das Gesetz können mit strafrechtlichen Maßnahmen, einschließlich Geld- und Haftstrafen, geahndet werden. Äthiopische NGOs, die zu den Themen Menschenrechte und Demokratie arbeiten, dürfen nicht mehr als 10% des Gesamtbudgets aus dem Ausland erhalten, da sie sonst mit einem Betätigungsverbot belegt werden. Das Gesetz bewirkte, dass Menschenrechtsverteidiger Angst hatten, sich zu engagieren, und führte zu Selbstzensur.

Einige Organisationen verlagerten ihre Tätigkeitsfelder erheblich und stellten ihre Arbeit zum Thema Menschenrechte ein. Mehrere Menschenrechtsverteidiger flohen ins Ausland, weil sie nach Inkrafttreten des Gesetzes Repressalien seitens der Regierung befürchteten.

Eine kleine Zahl von Organisationen setzte ihre Arbeit in den Bereichen Menschenrechte und Demokratie fort, so u.a. der Äthiopische Rat für Menschenrechte (Ethiopian Human Rights Council – EHRCO) und die Vereinigung der Äthiopischen Rechtsanwältinnen (Ethiopian Women Lawyers Association – EWLA). Durch die neuen Finanzierungsregeln waren aber beide Organisationen gezwungen, die Zahl ihrer Mitarbeiter zu verringern und Büros zu schließen. Ende 2010 hatte der EHRCO die Zahl seiner Büros von zwölf auf drei reduziert. Obwohl es dem EHRCO und der EWLA gelang, bei der Behörde für zivilgesellschaftliche Organisationen eine Neuregistrierung zu erwirken, wurden die Konten der beiden Organisationen Ende 2009 gesperrt. Die Sperrung bestand Ende 2010 weiterhin.

Terrorismusbekämpfung und Sicherheit

Das Antiterrorgesetz, dessen Definition von "Terrorakten" sehr unscharf gehalten ist und nach dem die Ausübung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf friedliche Versammlungen mit Strafe belegt werden kann, blieb in Kraft. Durch die Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden, entstand ein Klima der Selbstzensur. Dies war auch bei Journalisten der Fall, die wegen Artikeln über Einzelpersonen oder Gruppen, die als "Terroristen" gelten, strafrechtlich verfolgt werden können.

Gewaltlose und andere politische Gefangene

Zahlreiche politische Gefangene und mutmaßliche gewaltlose politische Gefangene blieben 2010 in Haft.

Nach wie vor nahm die Regierung Hunderte von Angehörigen der Oromo unter dem Vorwurf fest, Anhänger der OLF zu sein. Diese Anklagepunkte waren dem Anschein nach häufig politisch motiviert.

  • Im März wurden 15 Oromo wegen der Mitgliedschaft in der OLF zu Strafen verurteilt, die von zehn Jahren Gefängnis bis zur Todesstrafe reichten. Die 15 Frauen und Männer, die 2008 mit anderen Oromo festgenommen worden waren, kamen aus unterschiedlichen Berufen. Viele hatten sich vor ihrer Festnahme und dem gemeinsamen Prozess gegen sie nicht einmal gekannt. Die übrigen gemeinsam mit ihnen Festgenommenen waren in der Zwischenzeit wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Es wurde kritisiert, dass der Prozess nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprach und im Vorfeld der Wahlen politisch motiviert war. Viele Festgenommene gaben an, sie seien im Gewahrsam der Behörden gefoltert worden. Zwei festgenommene Männer, die vor dem Prozess aus der Haft freikamen, starben Berichten zufolge unmittelbar nach ihrer Freilassung an den Folgen ihrer Behandlung in Haft.

  • Die gewaltlose politische Gefangene Birtukan Mideksa, Vorsitzende der Oppositionspartei Union für Demokratie und Gerechtigkeit (Unity for Democracy and Justice Party), wurde im Oktober freigelassen. Nach zwei Jahren Gefängnis war sie Dezember 2008 erneut festgenommen worden und hatte sich seitdem in Haft befunden.

Konflikte in den Regionen Somali und Oromia

Nach wie vor gab es vereinzelt Kämpfe zwischen der OLF und der äthiopischen Armee. Äthiopische Flüchtlingskinder erzählten, dass sie von der OLF in Kenia zwangsrekrutiert und zurück nach Äthiopien geschmuggelt worden seien, um dort als Träger und Köche zu dienen.

In der Region Somali kam es auch 2010 im Zusammenhang mit dem seit vielen Jahren schwelenden Konflikt zwischen der äthiopischen Armee und der Ogaden-Befreiungsfront (Ogaden National Liberation Front – ONLF) zu Kämpfen. Am 4. Februar veröffentlichte die ONLF eine Erklärung, in der sie die Afrikanische Union aufforderte, Menschenrechtsverletzungen, insbesondere mutmaßliche Kriegsverbrechen der äthiopischen Armee in der Region, zu untersuchen. Die Regierung ließ kaum ausländische Journalisten und auch bestimmte humanitäre Hilfsorganisationen nicht in die Region Somali. Die Region war überwiegend nicht zugänglich. Ein Journalist des Radiosenders Voice of America wurde im Juni aus Äthiopien ausgewiesen, nachdem er über Zusammenstöße zwischen der Armee und der ONLF berichtete hatte.

Berichten zufolge wurde am 12. Oktober 2010 zwischen einer abtrünnigen Gruppierung der ONLF und der Regierung ein Friedensabkommen unterzeichnet. Dem Vernehmen nach ist den Mitgliedern der Gruppierung Schutz vor Strafverfolgung garantiert worden, und die Regierung will Gefangene freilassen. Der Mehrheitsflügel der ONLF soll das Abkommen als "irrelevant" bezeichnet haben.

Im November gingen Berichte ein, nach denen in der Ortschaft Degeh Bur mehr als 100 Zivilpersonen festgenommen und in ein Militärgefängnis nach Jijiga gebracht wurden. Im Dezember sollen äthiopische Soldaten ein Dorf in der Korahe-Zone niedergebrannt haben, wobei drei Zivilpersonen ums Leben kamen.

Todesstrafe

2010 wurden zwar Todesurteile verhängt, doch gingen keine Berichte über Hinrichtungen ein.

  • Jemua Ruphael, ein ehemaliger Mitarbeiter der Regionalverwaltung, wurde im Juni wegen Mordes und wegen der Unterstützung einer von Eritrea unterstützten bewaffneten Gruppe zum Tode verurteilt.

  • Hassan Mohammed Mahmoud, ehemaliges Mitglied der bewaffneten, in der Region Somali agierenden Gruppe Al-Itihad Al-Islamiya, wurde im März für schuldig befunden, in den 1990er-Jahren Terrorakte verübt zu haben. Gegen ihn erging ein Todesurteil.

Amnesty International: Berichte

Ethiopia: Amnesty International calls on the Government of Ethiopia not to execute Melaku Tefera (AFR 25/001/2010)

Ethiopia releases opposition leader, 6 October 2010

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