Amnesty Report Haiti 09. Mai 2011

Haiti 2011

Amtliche Bezeichnung: Republik Haiti Staatsoberhaupt: René García Préval Regierungschef: Jean-Max Bellerive Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 10,2 Mio. Lebenserwartung: 61,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 90/80 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 61%

Ein Erdbeben im Januar 2010 machte fast 2 Mio. Menschen obdachlos und löste eine beispiellose humanitäre Krise aus. Ende des Jahres lebten noch immer mehr als 1 Mio. Menschen in Notunterkünften, in denen Frauen und Mädchen vermehrt Opfer von Gewalt wurden. Da es viele verwaiste und auf sich gestellte Kinder gab, wurde befürchtet, dass sie in die benachbarte Dominikanische Republik oder in andere Länder verschleppt werden könnten. Staatliche Institutionen waren zerstört oder nur sehr eingeschränkt funktionsfähig. Es gab daher praktisch keinen Zugang zur Justiz und keine Möglichkeit, Verstöße anzuzeigen. Die Polizei erschoss im Januar in Les Cayes zwölf Gefangene, als diese versuchten, aus einem Gefängnis auszubrechen.

Hintergrund

Am 12. Januar 2010 zerstörte ein Erdbeben weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince sowie Städte und entlegene Ortschaften im Süden des Landes. Durch das Erdbeben wurde eine beispiellose humanitäre Krise ausgelöst. Schätzungen der Regierung zufolge starben mehr als 230000 Menschen; weitere 300000 wurden verletzt. Es gab schwere Schäden an öffentlichen Einrichtungen und Verwaltungsgebäuden. So wurden 15 der 17 Ministerien zerstört sowie 1500 Schulen und 50 Krankenhäuser. Auch der Sitz der UN-Mission in Haiti wurde zerstört. Die internationale Gemeinschaft und die humanitären Hilfsorganisationen reagierten schnell und leisteten humanitäre Nothilfe, die jedoch in einigen der am stärksten betroffenen Gebiete erst spät ankam.

Im März trafen sich in New York mehr als 150 Länder und internationale Organisationen zu einer Geberkonferenz. Sie verpflichteten sich, innerhalb von 18 Monaten 5,3 Mrd. US-Dollar für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Die Beseitigung der Trümmer und der Bau von provisorischen Unterkünften für die Erdbebenopfer kamen jedoch nur langsam voran. Ende 2010 lebten noch immer mehr als 1 Mio. Menschen in rund 1100 offiziellen und inoffiziellen Lagern, die sich häufig in einem beklagenswerten Zustand befanden. Im Oktober verursachte zudem ein Hurrikan neue Schäden an den Unterkünften in den Lagern.

Im September brach in den Ortschaften am Fluss Artibonite eine Cholera-Epidemie aus, die schnell auf andere Landesteile übergriff. Die UN setzte eine unabhängige Expertengruppe ein, um die Ursache für den Ausbruch der Epidemie zu finden. Bis Dezember wurden mehr als 100000 Cholerafälle gemeldet, die Zahl der Todesopfer betrug zu diesem Zeitpunkt mehr als 2400.

Am 28. November 2010 fand die erste Runde der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Dabei kam es zu landesweiten Protesten. Die Demonstrierenden beklagten Unregelmäßigkeiten bei der Wahl und warfen dem Provisorischen Wahlrat vor, die Auszählung manipuliert zu haben. Nach der Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses zeigten sich nationale Wahlbeobachter besorgt. Demnach lag der Kandidat Michel Martelly hinter dem Kandidaten der Regierungspartei und war damit nicht für die Stichwahl qualifiziert, die im Januar 2011 stattfinden soll.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

In den offiziellen und inoffiziellen Lagern waren Frauen und Mädchen in hohem Maße Gewalt ausgesetzt. Da es an Sicherheitsvorkehrungen und wirksamen Schutzmaßnahmen mangelte, liefen sie vermehrt Gefahr, Opfer von Vergewaltigung oder anderen Formen sexueller Gewalt zu werden. Anlass zur Sorge bot auch, dass die Täter nicht bestraft wurden. Nur wenige Fälle wurden untersucht oder strafrechtlich verfolgt. Viele Opfer von Vergewaltigungen litten unter Angst, Diskriminierung und Geldmangel und zögerten deshalb, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Nationale Vereinigung zum Schutz haitianischer Frauen und Kinder (Association Nationale de Protection des Femmes et Enfants Hatiens – ANAFPEH), die sich um Prostituierte in Port-au-Prince kümmert, stieg seit dem Ausbruch der humanitären Krise die Zahl der Mädchen, die als Prostituierte arbeiteten.

  • Eine Selbsthilfeorganisation von Vergewaltigungsopfern (Komisyon Fanm Viktim pou Viktim – KOFAVIV) dokumentierte mehr als 250 Fälle von sexueller Gewalt in 15 Lagern während der ersten fünf Monate nach dem Erdbeben. Die Organisation berichtete außerdem, dass Mädchen, die auf sich allein gestellt waren, im Austausch gegen Lebensmittel oder die Aufnahme in ein Lager sexuell missbraucht wurden.

Erdbebenopfer

Ende 2010 lebten noch mehr als 1 Mio. Menschen in offiziellen und inoffiziellen Lagern, oftmals unter extrem schlechten Bedingungen. Die große Mehrheit der Erdbebenopfer war nicht angemessen untergebracht. Der Bau von provisorischen Unterkünften kam nur langsam voran und wurde dadurch behindert, dass die Behörden keine geeigneten Grundstücke zur Verfügung stellten. Es gab keine konkreten Informationen über Pläne und Maßnahmen der Regierung zur längerfristigen Unterbringung der Erdbebenopfer in angemessenen Unterkünften.

Zwangsräumungen

Erdbebenopfer, die privates Land besetzten, wurden 2010 von den Grundstückseigentümern unter Einsatz von Gewalt gezwungen, das Land zu verlassen. In den meisten Fällen geschah dies mit Unterstützung durch die Polizei oder bewaffnete Männer. Im April kündigte die Regierung an, die Zwangsräumungen der Erdbebenopfer würden für sechs Wochen ausgesetzt, doch verfügte sie nicht über ausreichende Kapazitäten, um diese Maßnahme auch durchzusetzen.

  • Im März zwangen Polizeibeamte fast 10000 Erdbebenopfer, das Sylvio-Cator-Stadion zu verlassen. Die Räumung erfolgte ohne Gerichtsbeschluss, und die Erdbebenopfer wurden weder informiert noch bot man ihnen eine alternative Unterkunft. Die Polizeibeamten drangen nachts in das Stadion ein, rissen die Unterkünfte ein und vertrieben die Menschen von dem Gelände.

Kinderrechte

Der Kinderhandel bot weiterhin Anlass zu Besorgnis, und es gab vermehrt Anstrengungen, ihn zu unterbinden. So wurde an den Grenzübergängen zur Dominikanischen Republik eine Sondereinheit der haitianischen Polizei zum Schutz Minderjähriger (Brigade de Protection des Mineurs) stationiert, die Kinderhandel verhindern soll. Als weitere Maßnahme verstärkte die Regierung die Kontrolle von Adoptionsgesuchen aus dem Ausland.

  • Im Januar 2010 wurden 33 Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und zwölf Jahren von den haitianischen Behörden an der Grenze aufgegriffen. Eine Gruppe von Missionaren hatte versucht, die Kinder ohne Ausweispapiere in die Dominikanische Republik zu schleusen. Die Missionare wurden wegen "Entführung von Minderjährigen" und "Bildung einer kriminellen Vereinigung" angeklagt. Der Straftatbestand Menschenhandel ist im Strafgesetzbuch Haitis nicht enthalten. Die zehn Missionare wurden im Februar auf freien Fuß gesetzt und durften das Land bis zum Abschluss der Ermittlungen verlassen.

Außergerichtliche Hinrichtungen

  • Am 19. Januar 2010 kam es im Gefängnis von Les Cayes zu einem Aufstand und einem Ausbruchsversuch. Zur Unterstützung des Gefängnispersonals wurden Beamte der Nationalpolizei gerufen. Die Operation endete mit der Tötung von zwölf unbewaffneten Häftlingen, 14 weitere wurden verletzt. Eine von der Regierung und der UN eingesetzte Untersuchungskommission soll zu dem Schluss gekommen sein, dass die Mehrheit der Getöteten "summarisch hingerichtet" wurde und die Polizisten "vorsätzlich und ungerechtfertigt" das Feuer eröffneten. 14 Polizeibeamte und Angehörige des Gefängnispersonals wurden bis zur Aufnahme von Ermittlungen festgenommen. Bis zum Jahresende gab es keine weiteren Informationen zum Stand der Untersuchung.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Vertreter von Amnesty International besuchten Haiti im März und Juni.

Human rights must be at the core of relief efforts and the reconstruction of Haiti (AMR 36/001/2010)

Haiti: After the earthquake – initial mission findings (AMR 36/004/2010)

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