Amnesty Report 20. Mai 2010

Sierra Leone 2010

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Sierra Leone Regierungschef: Ernest Bai Koroma Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 5,7 Mio. Lebenserwartung: 47,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 160/136 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 38,1%

Im März 2009 gab es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des herrschenden Allgemeinen Volkskongresses (All People’s Congress – APC) und der oppositionellen Volkspartei von Sierra Leone (Sierra Leone People’s Party – SLPP). Dabei kam es zu schweren Verletzungen und Vorwürfen der Vergewaltigung und anderer sexueller Übergriffe. Nach wie vor gab es sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, und gefährliche traditionelle Praktiken wie die weibliche Genitalverstümmelung fanden weiter Anwendung. Die Regierung setzte sich für eine Reduzierung der hohen Müttersterblichkeit ein.

Hintergrund

Im Vorfeld von Kommunalwahlen kam es im März 2009 in drei Landesteilen zu gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von APC und SLPP. In Pujehun im Süden des Landes wurden bei diesen Zusammenstößen zwischen dem 9. und dem 12. März mehrere Personen schwer verletzt, ebenso zwischen dem 13. und dem 16. März in Freetown. Dort wurde dabei die SLPP-Zentrale geplündert; außerdem erhoben SLPP-Anhänger Vorwürfe über Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe. In Kenema waren zwischen dem 13. und dem 14. März Anhänger des APC Ziel von Gewalttaten und Brandstiftungen.

Im April wurde ein von den UN und der Registrierungskommission für politische Parteien (Political Parties Registration Commission) geförderter Ausschuss für die Einhaltung gemeinsamer Erklärungen (Joint Communiqué Adherence Committee) eingerichtet und von Vertretern von APC und SLPP gebilligt, was zur Entspannung der politischen Lage beitrug. Im Juli ernannte die Regierung eine Untersuchungskommission, um den Ursachen für die Gewalt und den Vorwürfen über Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe nachzugehen. Es wurde jedoch kein unabhängiges Kontrollgremium geschaffen. Im gleichen Monat gab die für die Unabhängigkeit der Medien zuständige Independent Media Commission bekannt, dass die Radiosender von APC und SLPP die Gewalt anscheinend durch Hassreden gefördert hätten und dementsprechend ihre Lizenz verlieren würden. Zivilgesellschaftliche Gruppen befürchteten, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung durch die Entscheidung der Kommission bedroht sein könnte.

Im September und Oktober ordnete die Regierung Soldaten zur Unterstützung der Polizei ab, nachdem in der Öffentlichkeit Bedenken über eine Überforderung der Polizei angesichts der starken Zunahme bewaffneter Raubüberfälle geäußert worden waren.

Im Mai verabschiedete die Regierung eine Agenda for Change, ihr zweites Strategiepapier zur Armutsbekämpfung. Es diente auf der im November in Großbritannien stattfindenden Sierra Leone Investment and Donor Conference als Rahmen für die Gewinnung von Geldgebern.

Die Antikorruptionskommission (Anti-Corruption Commission – ACC) konnte deutliche Fortschritte erzielen. Im Februar wurden vier Staatsbeamte wegen verschiedener Korruptionsfälle angeklagt. Im Juni wurden zwei ehemalige hochrangige Funktionäre des Sierra Leone Broadcasting Service sowie der ehemalige Ombudsmann der Unterschlagung von Mitteln für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe bzw. einer hohen Geldbuße verurteilt. Im Mai prüfte die ACC die Arbeit des Gesundheitsministeriums und gab mehrere Empfehlungen zur Verbesserung des Gesundheitssystems und zur Verringerung des Korruptionsrisikos im Ministerium. Im Oktober wurde der Gesundheitsminister wegen Korruption angeklagt und daraufhin entlassen. Ein Gericht für die zügige Bearbeitung von Korruptionsfällen mit speziellen Richtern und Staatsanwälten, wie es 2008 die ACC angeregt hatte, war Ende des Jahres noch nicht eingerichtet.

Einige Fortschritte gab es bei der Umsetzung von Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC), die nach dem Bürgerkrieg (1991–2002) eingerichtet worden war. Es wurde jedoch kein Anschlussgremium ernannt, und die verfassungsrechtliche Prüfung stagnierte. Das Mandat des UN-Büros für die Friedenskonsolidierung in Sierra Leone (UNIPSIL) wurde im September um ein weiteres Jahr verlängert.

Sondergerichtshof für Sierra Leone

Das Plädoyer der Anklage im Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor vor dem Sondergerichtshof für Sierra Leone (Special Court for Sierra Leone – SCSL) in Den Haag, bei dem 91 Zeugen gehört wurden, endete am 27. Februar 2009. Charles Taylor musste sich in elf Fällen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten, die er während des Bürgerkriegs in Sierra Leone begangen haben soll. Die Anhörung der Argumente der Verteidigung begann am 13. Juli. Während des gesamten restlichen Jahres war Charles Taylor hierbei der einzige Zeuge.

Am 26. Oktober bestätigte die Berufungskammer des SCSL die Urteile gegen drei führende Mitglieder der Revolutionären Einheitsfront (Revolutionary United Front), Issa Sesay, Morris Kallon und Augustine Gbao, in nahezu allen Anklagepunkten. Dabei handelte es sich um die ersten Verurteilungen wegen Angriffen auf UN-Friedenssoldaten als Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht sowie wegen Zwangsverheiratung als unmenschliche Handlung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Oktober wurden die drei verurteilten Männer gemäß einer im März mit dem SCSL getroffenen Vereinbarung nach Ruanda überführt, um dort ihre Haftstrafen anzutreten. Die Strafen reichten von 15 bis 52 Jahren, unter Anrechnung der Inhaftierungszeit am SCSL. Keine Haftanstalt in Sierra Leone entspricht den international erforderlichen Standards. Im November überstellte das SCSL seine Hafteinrichtungen an die Gefängnisverwaltungsbehörde von Sierra Leone, um weibliche Häftlinge unterzubringen.

Entschädigungsprogramm

Im Rahmen des nach Empfehlungen der TRC eingerichteten Entschädigungsprogramms wurden 2009 vor allem 28000 Kriegsopfer identifiziert, symbolische Reparationen in 18 Chiefdoms durchgeführt und Opfern sexueller Gewalt Fisteloperationen ermöglicht. Die Mittel für das Entschädigungsprogramm, die von dem Friedenskonsolidierungsfonds abgezweigt wurden, gingen Ende 2009 zur Neige. Die Regierung ergriff keinerlei Maßnahmen, um die zukünftige Mittelausstattung zu gewährleisten.

Müttersterblichkeit

Im Juli veröffentlichte die Nationale Menschenrechtskommission ihren zweiten Jahresbericht, in dem u. a. die hohe Müttersterblichkeitsrate besondere Erwähnung fand. Im September veröffentlichte Amnesty International einen Bericht und entsandte Delegierte, darunter auch die Generalsekretärin, nach Sierra Leone, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Am 23. September kündigte Präsident Ernest Bai Koroma vor der UN-Generalversammlung Pläne zur Bereitstellung kostenloser medizinischer Hilfe für schwangere und stillende Mütter sowie Kinder unter fünf Jahren an. Die Umsetzung dieser Pläne war für April 2010 geplant.

Frauenrechte und Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Unter Berufung auf die Bestimmungen des Kinderschutzgesetzes (Child Rights Act) von 2007 konnten NGOs bei ihrer Kampagne für die Abschaffung der Genitalverstümmelungspraxis bei Mädchen unter 18 Jahren einige Fortschritte erzielen. Einige traditionelle Führungspersönlichkeiten erließen in ihren Gemeinschaften Verordnungen, um die Genitalverstümmelung von Kindern für rechtswidrig zu erklären.

  • Im Februar 2009 wurden vier Journalistinnen von Initiatorinnen weiblicher Genitalverstümmelung entführt, ihrer Kleidung beraubt und gezwungen, nackt durch die Straßen von Kenema zu laufen. Die Frauen erklärten, dass die Journalistinnen gegen die Tradition verstoßen hätten. Nach der Freilassung der Journalistinnen unternahm die Polizei keinerlei Anstalten, gegen die mutmaßlichen Angreiferinnen vorzugehen.

Es gab Vorwürfe über Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe während der politischen Unruhen im März. Eine im Juli eingerichtete Untersuchungskommission stellte fest, dass es zwar Fälle sexueller Gewalt, jedoch keine Vergewaltigungen gegeben hätte. Gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für sexuelle Gewalt wurden keine Schritte eingeleitet. Die Untersuchungsergebnisse der Kommission sorgten bei zivilgesellschaftlichen Gruppen und Frauenrechtsorganisationen für Protest.

  • Eine Frau im nördlichen Distrikt Kono wurde wegen ihres Geschlechts von den Stammeshäuptlingswahlen im November 2009 ausgeschlossen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Der Journalistenverband von Sierra Leone klagte im Februar beim Obersten Gerichtshof auf die Abschaffung archaischer Bestimmungen bezüglich staatsgefährdender Verleumdung. Ein Urteil stand zum Jahresende noch aus.

Im Juli äußerten die Vereinten Nationen Bedenken, dass einige der Bestimmungen des 2009 verabschiedeten Sierra Leone Broadcasting Corporation Act die Unabhängigkeit der Rundfunkanstalt gefährden könnten. Präsident Koroma versicherte jedoch, dass dies nicht der Fall sei.

Im Juli gab die Independent Media Commission bekannt, dass Rundfunksendern politischer Parteien wegen der politischen Unruhen im März die Lizenz entzogen würde – eine Maßnahme, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen kritisiert wurde. Die SLPP reichte gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein.

Todesstrafe

Zivile Gerichte fällten 2009 keine Todesurteile. Neun Männer und drei Frauen – Sia Beke, Mankaprie Kamara und Nallay Foday – saßen in Todeszellen ein. Fünf der Männer befanden sich bereits seit sechs Jahren in der Todeszelle.

  • Im Oktober wurde das Urteil gegen Marie Sampa Kamara aufgehoben, die wegen Mordes zum Tode verurteilt worden war; sie kam frei.

Im August wurde ein Angehöriger des Militärs von einem Kriegsgericht wegen Mordes zum Tod durch Erschießen verurteilt. Laut Kriegsrecht muss der Präsident das Todesurteil unterzeichnen; dies war jedoch bis zum Jahresende noch nicht geschehen.

Im Oktober 2009 forderte Präsident Ernest Bai Koroma die Einführung der Todesstrafe für bewaffneten Raubüberfall. Es wurden jedoch keine weiteren Schritte diesbezüglich eingeleitet.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Im September besuchten Delegierte von Amnesty International, darunter auch die Generalsekretärin, Sierra Leone. Sie reisten zwölf Tage durch das Land, um auf die hohe Müttersterblichkeitsrate und ähnliche Probleme aufmerksam zu machen, und trafen sich mit führenden Vertretern der Regierung wie dem Gesundheitsminister, der Ministerin für Genderfragen und dem Vizepräsidenten.

Sierra Leone: Lives cut short – Make pregnancy and childbirth safer (AFR 51/001/2009)

Sierra Leone: President Koroma must commute all death row prisoners (AFR 51/003/2009)

Sierra Leone: Out of reach – the cost of maternal health in Sierra Leone (AFR 51/005/2009)

Sierra Leone: End maternal mortality – Join our campaign (AFR 51/006/2009)

Sierra Leone: Investment in the health sector needed to implement free care policy (AFR 51/014/2009)

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