Amnesty Journal Türkei 02. Januar 2024

"Die Wirtschaftskrise befeuert die Polarisierung"

Eine junge Frau mit Punkfrisur, Lederoutfit, Ketten um den Hals im Ambiente eines Clubs.

Als DJ legt Yeşim Unan unter dem Namen Y. Unan vor allem in Istanbul und Berlin auf.

Die türkische DJ und Aktivistin Yeşim Unan über aggressive Türsteher, teure Platten und die gestiegene Unsicherheit auf den Straßen Istanbuls.

Interview: Ulrich Gutmair

Sie arbeiten schon lange als DJ. Vor einigen Jahren haben Sie das Kollektiv Sirän mitgegründet, das Tagungen und Partys organisiert und sich dabei vor allem an Frauen und queere Menschen aus der türkischen Techno-Szene richtet. Wann haben Sie angefangen, sich für diese Musik zu interessieren?

Ich wurde 1983 in Istanbul geboren und wuchs dort auf. Als ich angefangen habe, Techno zu hören, war ich noch ein Teenager. Mein Bruder hat die Musik gehört, deswegen habe ich früh angefangen, mich dafür zu interessieren. Als ich 19 wurde, habe ich mir Plattenspieler gekauft und angefangen, Schallplatten zu sammeln. Das habe ich viele Jahre lang gemacht, aber dann verlor die türkische Lira ständig an Wert. Irgendwann konnte ich mir Vinylscheiben nicht mehr leisten.

Können Sie als Techno-DJ Ihren Lebensunterhalt verdienen?

Das ging in Istanbul noch nie, außer du bist DJ in einem Hotel und spielst sechs Tage die Woche und jeden Tag zwölf Stunden. Damit kannst du gutes Geld verdienen – aber dann wirst du auch nie Zeit ­haben, es auszugeben! Ich habe während meines Produktdesignstudiums mit dem Auflegen angefangen. Um Geld zu verdienen, habe ich Dekorationen für Partys entworfen und Poster für Clubs gestaltet. Das mache ich noch heute.

Wann haben Sie Sirän gegründet?

Wir haben im Mai 2020 unser erstes Event gemacht. Seitdem gab es vier Ausgaben, in denen wir tagsüber Workshops und Künstler*innengespräche angeboten haben und abends Partys. Des Weiteren haben wir vier Clubnächte organisiert. Dort haben wir Freund*innen aus der Stadt und von anderswo präsentiert. Eines der Ziele von Sirän ist, Diversität zurück in die Clubszene zu bringen. Diversität bezieht sich dabei auf die Künstler*innen selbst, aber auch auf deren Musik. Wir glauben, dass beides eng miteinander zusammenhängt.

Ihr Schwerpunkt liegt auf weiblichen und queeren Künstler*innen, warum?

Ganz einfach: weil sie in der Welt, in der wir leben, mehr Unterstützung als andere brauchen. Aber wir schließen niemanden aus.

Queere und schwule Clubs sind auch in Westeuropa für heterosexuelle Frauen und Männer attraktiv: Wenn die Atmosphäre offen ist, profitieren davon auch Menschen, die nicht von Diskriminierungen betroffen sind, weil sie sich freier bewegen können. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Ja, deswegen versuchen wir bei unseren Partys einen Safe Space zu schaffen. Das ist oft aber gar nicht so leicht herzustellen. Die Probleme gehen schon damit los, dass es nicht einfach ist, Sicherheitsleute und Türsteher zu finden, die angemessen mit diesem Publikum umgehen. Ein großer Teil der Bevölkerung in der Türkei ist konservativ. Die meisten Leute, die im Sicherheitsbereich arbeiten, kommen aus traditionellen Milieus. Menschen fürchten sich vor Dingen, die sie nicht kennen. Ich habe sehr aggressive, intolerante Türsteher gesehen – und dann musst du denen sagen: Es ist nicht dein Job, Leute zu verurteilen. Der Ort, an dem wir unsere Veranstaltungen machen, ist in dieser Hinsicht aber sehr gut.

Worum geht es auf den Workshops, die Sie anbieten?

Wir sprechen über Fragen von Diskriminierung, über männliche Dominanz in der Musikszene, über die Auswahl von Künstler*innen nach Geschlecht oder Hautfarbe: Man bucht jemanden für eine Party, nicht weil man dessen Musik gut findet, sondern weil man eine Frau haben will oder jemand, der exotisch aussieht. Die kommende Ausgabe von Sirän wird in Istanbul, Mersin und Diyarbakır stattfinden. Erstmals wird es auch einen Workshop zur digitalen Musikproduktion geben.

In den vergangenen Jahren kam es häufig vor, dass Pride-Partys verboten wurden, zuerst in Ankara. Auch Pride-Paraden wurden untersagt, wie in diesem Jahr in Istanbul, was die Leute aber nicht davon abgehalten hat, sich auf der Straße zu treffen. 

In Istanbul gibt es eine große und sichtbare queere Partyszene. Sie scheint schon allein dadurch politisch zu sein, dass sich Menschen zusammenfinden und ihre Lebensweise und sexuelle Orientierung feiern, ­obwohl sie allgemein verpönt ist. Auch auf diesem Gebiet werden Kämpfe ausgefochten. In den vergangenen Jahren kam es häufig vor, dass Pride-Partys verboten wurden, zuerst in Ankara. Auch Pride-Paraden wurden untersagt, wie in diesem Jahr in Istanbul, was die Leute aber nicht davon abgehalten hat, sich auf der Straße zu treffen. Die Staatsmacht versuchte, das zu verhindern, indem ganze Viertel abgesperrt wurden. Dieser Druck führt aber auch dazu, dass die Betroffenen sehr produktiv werden. Die Politik versucht, Strategien zu entwickeln, aber die Leute tun, was sie tun – auch wenn es Stress für die Menschen bedeutet. Diese Politik dient natürlich auch dazu, zu polarisieren, Leute gegeneinander aufzubringen. Im Augenblick aber leiden alle vor ­allem unter der wirtschaftlichen Krise – und auch das befeuert die Polarisierung. Es gibt weniger Respekt für Lebensweisen, die von der Norm abweichen.

Wie äußert sich das im Alltag?

Das hängt sehr stark von der Gegend ab, vom Viertel, in dem man sich bewegt. Ich weiß, dass Transpersonen oft auf der Straße angegriffen werden. Leute, die trans sind oder ein queeres Erscheinungsbild haben, werden oft schief angesehen.

Sie tragen selbst eine auffällige Punkfrisur. Werden Sie schräg angeschaut?

Die türkische Gesellschaft ist sehr vielfältig, meist wird mir freundlich begegnet. ­Istanbul ist aber auch eine Stadt voller Touristen, und es kann sein, dass viele Einheimische, die mich sehen, denken, dass ich Ausländerin bin. Früher war die Stadt viel sicherer, da habe ich nicht groß darüber nachgedacht, wenn ich morgens um drei das Haus verlassen habe. Jetzt sind die Straßen unsicher geworden, es gibt viel Kriminalität, die Leute sind arm, und es gibt häufig Überfälle. Ich frage mich oft, ist das eine Entwicklung spezifisch für die Türkei oder bildet sich hier ein genereller, weltweiter Trend ab? Wenn letzteres der Fall ist, ist es weniger deprimierend.

Wie überall auf der Welt ist auch in ­Istanbul Techno heute wieder ein ­angesagtes Musikgenre. Wie steht es um die Clubszene in der Stadt?

Vor 15 Jahren, als ich noch Studentin war, traf man sich nachmittags zum Kaffee, ging zusammen essen, dann kurz nach Hause, um sich umzuziehen, und danach ging es in den Club. Heute kann sich das niemand mehr leisten. Die Alkoholsteuer wurde erhöht, und es wurde eine neue Vergnügungssteuer eingeführt. Viele Clubs mussten wegen der Wirtschaftskrise schließen. In der Pandemie kam hinzu, dass Clubs erst ganz geschlossen blieben, später wurde eine frühe Sperrstunde verordnet. Wir haben dadurch viele Orte verloren. Es haben vor allem große Clubs überlebt, und nun gibt es fast nur noch Mainstreamkultur. Nach den letzten Wahlen geschah aber etwas Merkwürdiges: Die Öffnungszeiten für Clubs wurden wieder verlängert, möglicherweise auch, um die Wirtschaft anzukurbeln. Clubkultur ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Istanbul.

Trotzdem ist die Lage für Künstler*innen ökonomisch weiterhin prekär?

Die Situation ist sehr anstrengend. Man versucht, etwas Schönes zu schaffen, aber man bekommt für viel Energie, Kreativität und Aufwand sehr wenig zurück, kaum genug für das ökonomische Überleben. Aber egal, wie groß die Depression ist: Gute Sachen passieren immer noch.

Yeşim Unan lebt in Istanbul. Als DJ legt sie unter dem Namen Y.Unan vor allem in Istanbul und Berlin auf, aber auch auf größeren Festivals. Im Frühjahr 2022 gründete sie mit Nene H zusammen die Gruppe Sirän. Deren Ziel ist es, marginalisierte Kreative aus der Musikszene miteinander zu verbinden.

Ulrich Gutmair schreibt für Tageszeitungen und Magazine über Pop und Geschichte. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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