Amnesty Journal Deutschland 14. März 2024

Auf Spurensuche im Amnesty-Archiv

Menschen demonstrieren auf einer Straße, auf einem Banner steht "Wer Sacharow zum Schweigen bringt, die Wahrheit in die Knie zwingt"

Amnesty-Demonstration für den russischen Physiker und Menschenrechtsaktivisten Andrei Sakharov (1985)

Der Historiker Frank Bösch hat recherchiert, wie menschenrechtliche Forderungen die Außenpolitik der Bundesrepublik seit ihrer Gründung beeinflussten. Dabei hat er auch die Geschichte von Amnesty erforscht.

Interview: David Fischer

1961 gründete sich in Köln die deutsche Sektion von Amnesty. Welche Rolle spielten Menschenrechte damals in der deutschen Außenpolitik?

Menschenrechte spielten eine Rolle, wenn es um den Sozialismus ging. Insbesondere gegenüber der DDR versuchte die Bundesrepublik intensiv, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und politisch Verfolgte aufzunehmen – nach dem Mauerbau auch durch den Freikauf von Gefangenen. Menschenrechte spielten dagegen lange kaum eine Rolle im Verhältnis zu den "westlichen" antikommunistischen Diktaturen oder den blockfreien Staaten. Gegen die ersten Interventionen von Amnesty wurde argumentiert, dass jeder Staat souverän sei und die deutsche Politik sich dort nicht einmischen dürfe.

Sie haben auch im Archiv von Amnesty recherchiert. Zu welchen Schwerpunkten arbeitete die deutsche Sektion in den ersten Jahren?

Zunächst standen die Diktaturen in Portugal und Spanien im Vordergrund, Südafrika und die Sowjetunion. Generell kann man aber sagen, dass Amnesty in Deutschland bis 1968 kaum aktiv war. Erst ab den 1970er Jahren gibt es mehr Unterlagen des Vorstands, der Geschäftsführung und einzelner Gruppen. Es gibt Dokumente zu Einzelfällen, zu Pressekampagnen, zur Öffentlichkeitsarbeit, aber auch die Korrespondenz mit der Politik.

Der Putsch in Chile 1973 gab dem Engagement bei Amnesty großen Aufwind. 

Was änderte sich?

Amnestys Blütephase begann 1968 in der Auseinandersetzung mit der Diktatur in Griechenland, nachdem die Organisation dort Folter dokumentiert hatte. Amnesty erhielt eine wichtige Beraterfunktion, und zahlreiche Mitglieder schrieben Briefe an Politiker, um gegen die griechische Diktatur zu protestieren. Zudem traten viele junge Linke ein, Akademiker und Schüler, die sich gegen unterschiedliche Diktaturen einsetzten. Der Putsch in Chile 1973 gab dem Engagement bei Amnesty ganz großen Aufwind. Der Einsatz gegen Pinochets Diktatur, die Förderung der Ausreise von Verfolgten und die Aufnahme von Flüchtlingen spielten dabei eine zentrale Rolle. Vor allem der Kampf gegen Folter mobilisierte, weil das ein Konsensthema war. Es gab ein unglaublich großes Engagement: Mit der Schreibmaschine Briefe zu verfassen oder im Vor-Internet-Zeitalter etwas zu recherchieren, erforderte sehr viel Energie. Gleichzeitig mussten die Aktiven Frustrationen aushalten. Viele Amnesty-Mitglieder erhielten keinerlei Rückmeldung auf ihren Einsatz für einzelne Personen. Manchmal wurde dieser über zehn Jahre fortgeführt – für Menschen, die mitunter bereits lange tot waren, wie sich später herausstellte.

Hat die Vergabe des Friedensnobelpreises 1977 an Amnesty die deutsche Außenpolitik beeinflusst?

Ja, die Akzeptanz wuchs nach 1977 stark. Man kann es insbesondere an den Kontakten zum Auswärtigen Amt sehen, das Amnesty seit Ende der 1970er Jahre deutlich wohlwollender und auch höherrangiger empfing und die Kooperation suchte. Auch zu den meisten ausländischen Botschaften gab es gute Kontakte, trotz aller Kontroversen.

Kontrovers war damals auch die Haltung zur RAF oder zu den Haftbedingungen von Adolf Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß. Wie haben diese Fälle die Arbeit von Amnesty geprägt?

Die Frage nach dem Einsatz gegen die Haftbedingungen von Terroristen spaltete Amnesty damals. Dass sich Amnesty überhaupt bereit erklärte, die sogenannte Isolationshaft zu untersuchen, schadete dem Image im bürgerlichen Lager und ließ Amnesty als eine linke Organisation erscheinen. Kontrovers war auch, ob ein Einsatz für Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß stattfinden sollte oder nicht. Die Frage kam immer wieder auf, aber schließlich entschied sich der Amnesty-Vorstand gegen Aktionen, in Absprache mit London. Zugleich wurde argumentiert, dass für jeden angemessene Haftbedingungen gelten sollten. Entsprechendes schrieb Amnesty Deutschland 1976 zu Heß an die Bundesregierung.

Welche Rolle spielten Kulturschaffende wie Günter Grass und Heinrich Böll?

Amnesty hat sich früh einen Kranz von prominenten Unterstützern gesucht, sowohl auf internationaler Ebene als auch in den einzelnen Sektionen. Böll, Grass und andere unternahmen Aktionen, die Amnestys Einsatz unterstützten – etwa Günter Grass mit Auftritten in Athen, die die griechische Regierung kritisierten. Prominente, Geistliche oder einzelne Politiker leiteten auch Briefe von Amnesty an die Bundesregierung weiter – und darauf mussten Politiker dann antworten.

Die Bundesregierung und die Botschaften hatten meist keine eigenen Informationen zu den Menschenrechtsverletzungen. Oft hielten sie Amnestys Berichte für etwas überzogen, stimmten aber grundsätzlich zu.

Ein Mann trägt Hornbrille, Hemd und Jacket.

Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam: Der Historiker Frank Bösch

Wie reagierte die Bundesregierung auf Briefe von Amnesty?

Generell wurde bei Schreiben von Organisationen erst einmal geprüft, inwieweit diese seriös sind und ob sie deutschen Interessen dienen oder schaden. Es wurde abgewogen, inwieweit das Anliegen von Amnesty eine Verletzung der Souveränität des anderen Staats und "der guten Beziehung", wie es oft hieß, bedeuten könne.

Die Bundesregierung ließ einen Bericht von Amnesty über Folter in Griechenland vom BND prüfen. Es scheint, als hätte sie die Vorwürfe ernst genommen, traute der Organisation aber nicht.

Die Bundesregierung und die Botschaften hatten meist keine eigenen Informationen zu den Menschenrechtsverletzungen. Oft hielten sie Amnestys Berichte für etwas überzogen, stimmten aber grundsätzlich zu, zumal Amnesty ja auch relativ zurückhaltend einzelne Fälle beschrieb, also gerade nicht pauschalisierte und politisierte, sondern meistens versuchte, Namen und konkrete Handlungen aufzuschreiben. Das erleichterte das Verhältnis zur Bundesregierung, besonders im Vergleich zu klassischen linken Gruppen, die eine politische Kritik am System des anderen Landes äußerten.

Der Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung legt einen Schwerpunkt auf Menschenrechte. Die Deals mit Diktaturen gehen trotzdem weiter. Schreiben Sie an einem Nachfolger?

Das Buch zeigt, wie die heutigen engen Kooperationen mit Diktaturen entstanden und wie der Einsatz für Menschenrechte aufkam. Die jetzige Regierung ist in gewisser Weise ein Ergebnis dieses Wandels seit den späten 1960er Jahren. Dabei zeigt sich, dass die Kooperation mit Diktaturen oft langfristig die Kritik an ihnen stärkte. Ohne naiven Optimismus kann man zumindest ausmachen, dass die Politik heute in einem viel stärkeren Maße Menschenrechte anspricht, als dies früher der Fall war – und damit auch Einfluss haben kann.

David Fischer ist Pressereferent bei Amnesty Deutschland.

ZUR PERSON

Frank Bösch

Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam, leitet das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sein Buch "Zeitenwende 1979" über ein Jahr der gesellschaftlichen Umbrüche wurde zum Bestseller. In seinem neuen Werk "Deals mit Diktaturen" untersucht Bösch, wie die Bundesrepublik mit Autokraten umging und Menschenrechte ein Teil der deutschen Außenpolitik wurden.

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