Aktuell Ägypten 14. August 2023

Ägypten: Ein "Jahrzehnt der Schande" nach dem Massaker von Rabaa

Vogelperspektive auf den Rabaa al-Adawiya-Platz in Kairo: Eine Menschenmenge auf dem Platz während dunkle Rauchschwaden über dem Platz aufsteigen und über die hohen Häuser hinweg in den Himmel steigen.

Der Rabaa al-Adawiya-Platz in der ägyptischen Hauptstadt Kairo am 14. August 2013 (Archivaufnahme)

Der zehnte Jahrestag des Massakers von Rabaa ist eine Mahnung, dass die straflos gebliebene Massentötung von über 900 Menschen zu einem umfassenden Angriff auf friedlichen Dissens, zu einer Aushöhlung jeglicher Garantien für ein faires Gerichtsverfahren im Strafjustizsystem und zu unaussprechlicher Grausamkeit in Gefängnissen im Verlauf der vergangenen zehn Jahre geführt hat.

In einer ausführlichen Analyse hebt Amnesty International zehn Menschenrechtsverletzungen hervor, die seit dem Massaker am 14. August 2013 in Ägypten weit verbreitet sind. Damals hatten Militär- und Sicherheitskräfte Sitzstreiks von Anhänger*innen der Muslimbruderschaft und dem gestürzten Präsidenten Muhammed Mursi auf dem al-Nahda-Platz und dem Rabaa al-Adawiya-Platz in Kairo gewaltsam aufgelöst. In den zehn Jahren, die seither vergangen sind, wurde noch niemand für das Blutvergießen zur Rechenschaft gezogen – ein Zeichen für fehlende Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Familien der Opfer und Überlebende von Folter, Verschwindenlassen, außergerichtlichen Hinrichtungen und anderen rechtswidrigen Tötungen sowie willkürlichen Inhaftierungen.

"Die vergangenen zehn Jahre lassen sich nur als 'Jahrzehnt der Schande' beschreiben. Das Massaker von Rabaa war ein Wendepunkt. Von da an haben die ägyptischen Behörden eine erbarmungslose Null-Toleranz-Politik gegen Andersdenkende verfolgt. Seither wurden unzählige Kritiker*innen und Oppositionelle bei Straßenprotesten getötet, ins Gefängnis gesteckt oder genötigt, ins Exil zu gehen", so Philip Luther, Direktor der Abteilung Recherche und Lobbyarbeit für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

"Angesichts des Ausbleibens einer tragfähigen und koordinierten Reaktion auf das Massaker von Rabaa seitens der internationalen Gemeinschaft konnten die ägyptischen Militär- und Sicherheitskräfte mit Massenmord – im wörtlichen Sinn – davonkommen. Ägypten kann aus seiner fortdauernden Menschenrechtskrise nicht herauskommen, solange niemand für die Handlungen der ägyptischen Behörden an diesem dunkelsten Tag in der neueren Geschichte Ägyptens zur Rechenschaft gezogen wird. Staaten, die Einfluss auf Ägypten haben, müssen die Forderungen von Überlebenden, Familien von Opfern und Menschenrechtsverteidiger*innen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung aufgreifen."

 

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Zehn Symptome für die drastische Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ägypten seit dem Massaker von Rabaa

1. Niederschlagung von Straßenprotesten

Die ägyptische Regierung geht seit 2013 gegen Straßenproteste mit rechtswidriger Gewaltanwendung und Massenfestnahmen sowie mit drakonischen Gesetzen vor, die das Recht auf friedliche Versammlung effektiv kriminalisieren.

2. Willkürliche Inhaftierung

Die ägyptischen Behörden haben während des Massakers von Rabaa und danach Zehntausende Personen festgenommen. Während sie anfangs nur Anhänger*innen oder vermeintliche Anhänger*innen der Muslimbruderschaft im Visier hatten, erstreckten sich die repressiven Maßnahmen bald auf alle, die friedlich Kritik übten.

Auch wenn es mit der Einführung der Nationalen Menschenrechtsstrategie im September 2021 und dem lang erwarteten Nationalen Dialog im Mai 2023 in jüngster Zeit Ansätze einer Reform gab, wird das harte Vorgehen weiter fortgesetzt und Kritiker*innen des Staates landen nach wie vor in Haft. Zwar wurden seit der Wiedereinsetzung des präsidialen Begnadigungssausschusses 2022 Hunderte von Dissident*innen freigelassen, doch sind Mitglieder und Unterstützer*innen der Muslimbruderschaft von offiziellen Amnestien ausgenommen. So befinden sich noch immer Tausende rechtswidrig hinter Gittern.

3. Unfaire Gerichtsverfahren

Die Behörden haben drakonische Gesetze zur Terrorismusbekämpfung sowie andere repressive Maßnahmen eingeführt und eingesetzt, um Tausende von Kritiker*innen ohne Anklage oder Verfahren in verlängerter Untersuchungshaft festzuhalten, manchmal sogar für Zeiträume, die das nach ägyptischem Recht zulässige Maximum von zwei Jahren überschreiten.

Vor Notstands- oder Militärgerichten oder speziellen Terrorismusabteilungen von Strafgerichten wurden Hunderte von Personen in äußerst unfairen, von Folter geprägten Massenprozessen zum Tode oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.

4. Todesstrafe

In den vergangenen zehn Jahren haben die Behörden verstärkt auf die Todesstrafe zurückgegriffen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Gerichte verhängten Tausende von Todesurteilen, und die Behörden ließen mehr als 400 Menschen hinrichten. Im September 2018 verhängte ein Strafgericht in Kairo in einem grob unfairen Massenprozess gegen 612 Personen wegen ihrer Teilnahme am Sitzstreik in Rabaa 75 Todesurteile sowie 47 lebenslange Haftstrafen und weitere Gefängnisstrafen zwischen fünf und 15 Jahren. Am 14. Juli 2021 wurde die Todesstrafe gegen zwölf von ihnen, darunter führende Mitglieder der Muslimbruderschaft, vom Berufungsgericht bestätigt.

5. Angriffe auf das Recht auf freie Meinungsäußerung

Die ägyptischen Behörden haben in den vergangenen zehn Jahren jegliche unabhängige Berichterstattung unterdrückt, ihre Kontrolle über die Medien gefestigt und gehen mit einer ganzen Reihe repressiver Maßnahmen hart gegen Journalist*innen vor, die es wagen, vom offiziellen Narrativ abzuweichen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Festnahme und strafrechtliche Verfolgung Dutzender Journalist*innen, die nur ihre Arbeit machen, Online-Zensur sowie Razzien gegen unabhängige Medien.

6. Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raumes

Die unabhängige Zivilgesellschaft wird durch die Verabschiedung des repressiven Gesetzes Nr. 149/2019 unterdrückt. Das Gesetz räumt den Behörden unverhältnismäßig große Befugnisse im Zusammenhang mit der Zulassung, den Aktivitäten, der Mittelbeschaffung und der Auflösung von NGOs ein.

Darüber hinaus sind Menschenrechtsverteidiger*innen erbarmungslosen Angriffen wie der ungerechtfertigten Strafverfolgung, willkürlicher Inhaftierung, Reiseverboten, dem Einfrieren von Vermögen und anderen Formen der Schikanierung ausgesetzt.

7. Folter und andere Misshandlungen

Die Personen, die im Zuge des Vorgehens der Sicherheitskräfte in Rabaa festgenommen wurden, sowie Tausende weiterer Personen sind unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen in ägyptischen Gefängnissen inhaftiert. Seit 2013 sind Dutzende Menschen im Gewahrsam gestorben, weil man ihnen Berichten zufolge die medizinische Versorgung verweigert hat oder sie gefoltert wurden. Zu den Opfern gehören der gestürzte Präsident Muhammed Mursi sowie Essam El-Erian, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft. Sie starben nach jahrelangen unbeantwortet gebliebenen Beschwerden über die schlechten Haftbedingungen und der Verweigerung medizinischer Versorgung 2019 bzw. 2020 im Gefängnis.

Folter und andere Misshandlungen sind weit verbreitet und systematischer Natur. Überlebende und Augenzeug*innen berichten vom Einsatz von Elektroschocks, vom Aufhängen an den Gliedmaßen sowie von zeitlich unbegrenzter Einzelhaft, Schlägen und der bewussten Verweigerung medizinischer Versorgung.

8. Verschwindenlassen

Personen, die der Beteiligung an terroristischen Aktivitäten oder an Protesten verdächtigt werden, werden von Sicherheitskräften regelmäßig über Zeiträume von einigen Tagen bis zu 23 Monaten ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, ohne dass ihre Angehörigen und Rechtsbeistände etwas über ihr Schicksal und ihren Verbleib erfahren. In dieser Zeit sind die Häftlinge Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt und werden zu "Geständnissen" gezwungen oder dazu, andere zu belasten.

9. Diskriminierung

Die Behörden behaupten zwar, die Rechte von Frauen und Minderheiten zu respektieren und zu schützen, diskriminieren Menschen aber wegen ihres Geschlechts, ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihrer religiösen Überzeugung.

10. Straflosigkeit

Die Massenverfolgung von Mitgliedern und Unterstützer*innen der Muslimbruderschaft steht im krassen Kontrast zu dem Versäumnis, Ermittlungen durchzuführen, um alle zur Verantwortung zu ziehen, die an der Anordnung, Planung oder Durchführung des Massakers vom 14. August 2013 beteiligt waren.

Ein im Dezember 2013 vom damaligen Interimspräsidenten Adly Mansour eingesetzter Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, dass Anführer*innen der Proteste für die Tötungen in Rabaa verantwortlich seien und sprachen die Sicherheitskräfte weitgehend von einer Verantwortung frei. Zusätzlich verschärft wurde die Straflosigkeit, als der ägyptische Präsident Adel Fattah al-Sisi 2018 ein Gesetz ratifizierte, das hochrangigen Militärangehörigen Immunität vor der Strafverfolgung gewährt.

"Der düstere Jahrestag heute sollte die internationale Gemeinschaft daran erinnern, wie dringend notwendig es ist, sinnvolle Wege zur Gewährleistung der Rechenschaftspflicht zu schaffen. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung eines Überwachungs- und Berichtsmechanismus zur Lage der Menschenrechte in Ägypten beim UN-Menschenrechtsrat", meint Philip Luther.

"Außerdem müssen die Staaten öffentlich wie privat Druck auf die ägyptischen Behörden ausüben, damit Tausende willkürlich inhaftierte Kritiker*innen und Oppositionelle, darunter auch Personen mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft, freigelassen werden."

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