Aktuell 25. Juli 2016

Gefangene nach Putschversuch gefoltert

Türkei: Gefangene nach Putschversuch gefoltert

Ein bewaffneter Polizist vor der Kocatepe-Moschee in Ankara zwei Tage nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016

24. Juli 2016 - Amnesty International hat glaubwürdige Beweise zusammengetragen, denen zufolge Gefangene in offiziellen und inoffiziellen Hafteinrichtungen in der Türkei gefoltert werden. Unter anderem gibt es Berichte über Schläge und Vergewaltigungen. Amnesty fordert, dass unabhängigen Beobachterinnen und Beobachtern sofort Zugang zu allen Hafteinrichtungen gewährt wird, in denen nach dem Putschversuch Personen inhaftiert wurden. Dazu zählen Polizeizentralen, Sportstätten und Gerichtsgebäude. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind bereits mehr als 10.000 Menschen inhaftiert worden.

Laut glaubwürdigen Berichten, die Amnesty vorliegen, beleidigt und bedroht die Polizei in Ankara und Istanbul Gefangene und verweigert ihnen Essen, Wasser sowie medizinische Versorgung. Außerdem zwingt sie Gefangene dazu, bis zu 48 Stunden in Stresspositionen zu verharren. Zudem wurden einige Gefangene brutal geschlagen und vergewaltigt.

"Die Berichte über Misshandlungen wie Schläge und Vergewaltigung in Haft sind äußerst besorgniserregend, insbesondere angesichts der Anzahl der Inhaftierungen in der vergangenen Woche. Die grauenvollen Details, die wir dokumentiert haben, sind nur einige der Misshandlungen, die möglicherweise gerade in Hafteinrichtungen stattfinden", so John Dalhuisen, Programmleiter für Europa und Zentralasien von Amnesty International.

"Die türkischen Behörden müssen diese abscheulichen Taten beenden und internationalen Beobachtern Zugang zu all diesen Gefangenen gewähren."

Viele Inhaftierte werden willkürlich festgehalten, teils in informellen Hafteinrichtungen, und erhalten keinen Zugang zu ihren Rechtsbeiständen und Familienangehörigen. Zudem wurden sie nicht angemessen über die gegen sie erhobenen Anklagen informiert, was ihr Recht auf ein faires Gerichtsverfahren untergräbt.

Am 23. Juli verkündete die türkische Regierung die erste Verfügung unter dem neu ausgerufenen Ausnahmezustand. Demnach können Gefangene nun nicht mehr nur wie bisher vier Tage lang ohne Anklage in Haft gehalten werden, sondern ganze 30 Tage lang. Inhaftierte sind damit einer erhöhten Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt. Zudem dürfen Beamtinnen und Beamte nun Treffen zwischen Untersuchungshäftlingen und deren Rechtsbeiständen beobachten oder gar aufzeichnen, und Inhaftierten wurden Einschränkungen bei der Wahl eines Rechtsbeistands auferlegt. All dies bedroht das Recht auf ein faires Verfahren noch weiter.

Folter und andere Misshandlung

Amnesty International sind mehrere Berichte zugegangen, nach denen Personen an inoffiziellen Orten wie Sporteinrichtungen und einem Stall festgehalten werden. Einige Häftlinge, darunter auch mindestens drei Richter, wurden in den Fluren von Gerichtsgebäuden festgehalten.

Die Organisation hat mit Rechtsbeiständen, Ärztinnen und Ärzten sowie mit einer in einer Hafteinrichtung beschäftigten Person über die Haftbedingungen gesprochen.

Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchten, berichteten über Folter und andere Formen der Misshandlung an Häftlingen, insbesondere in der Sporthalle der Polizeizentrale in Ankara sowie in der Başkent-Sporthalle in Ankara und den zugehörigen Reitställen.

Diesen Berichten zufolge zwingt die Polizei Gefangene dazu, in Stresspositionen zu verharren, beleidigt und bedroht sie und verweigert ihnen Essen, Wasser sowie medizinische Versorgung. Zudem wurden einige Gefangene brutal geschlagen und misshandelt, in einigen Fällen auch sexuell genötigt und vergewaltigt.

Zwei Rechtsbeistände, die Gefangene in Ankara vertreten, gaben gegenüber Amnesty International an, dass Häftlinge gesehen hätten, wie hochrangige Militäroffiziere im Gewahrsam von Polizeikräften mit einem Knüppel oder mit Fingern vergewaltigt wurden.

Eine in der Sporthalle der Polizeizentrale in Ankara beschäftigte Person berichtete über einen Gefangenen, der schwere Verletzungen und eine Schwellung am Kopf aufwies, was darauf schließen lässt, dass er geschlagen wurde. Der Gefangene soll nicht mehr in der Lage gewesen sein, gerade zu stehen oder seine Augen zu fokussieren, und verlor schließlich das Bewusstsein. Während manchen Inhaftierten eine begrenzte medizinische Versorgung gewährt wurde, verweigerte die Polizei diesem Gefangenen offenbar trotz seiner schweren Verletzungen die dringend nötige Behandlung. Ein Polizeiarzt soll gesagt haben: "Lass ihn sterben. Wir sagen einfach, dass er schon tot hier ankam."

Die in der Sporthalle der Polizeizentrale in Ankara beschäftigte Person sagte zudem aus, dass dort 650-800 Soldaten festgehalten werden, von denen mindestens 300 Anzeichen von Misshandlung aufweisen, darunter Prellungen, Schnitte oder Knochenbrüche. Etwa 40 Personen sind so schwer verletzt, dass sie nicht laufen können, und zwei Personen können nicht aufrecht stehen. Eine Frau, die dort in einer separaten Einrichtung untergebracht war, wies Prellungen im Gesicht und am Oberkörper auf.

Polizeikräfte sollen Bemerkungen gemacht haben, die darauf schließen lassen, dass sie für Schläge verantwortlich waren und dass Gefangene geschlagen wurden, um sie "zum Sprechen zu bringen".

Im Allgemeinen scheint es, als würden die inhaftierten hochrangigen Militäroffiziere am schlimmsten behandelt.

Vielen in der Sporthalle und in anderen Einrichtungen Inhaftierten wurden die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken zusammengebunden und man zwang sie, stundenlang zu knien. Die Kabelbinder wurden den Berichten zufolge oft sehr fest zugeschnürt und fügten den Betroffenen Verletzungen zu. Einigen Gefangenen wurden für die Gesamtdauer ihrer Haft die Augen verbunden.

Rechtsbeistände berichteten von Personen, die in blutigen T-Shirts für die Vernehmung zur Staatsanwaltschaft gebracht wurden.

Die Personen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, sagten außerdem, dass Häftlinge ihnen gegenüber angegeben haben, die Polizei würde ihnen bis zu drei Tage lang kein Essen und zwei Tage lang kein Wasser geben.

Eine Anwältin, die im Gerichtsgebäude Çağlayan in Istanbul arbeitet, berichtet über dort inhaftierte Personen, die unter starker emotionaler Belastung leiden. Ein Gefangener soll versucht haben, sich aus einem Fenster im sechsten Stock zu stürzen, während ein anderer seinen Kopf wiederholt gegen die Wand schlug.

"Trotz der schrecklichen Folterbilder und -videos, die im ganzen Land aufgetaucht sind, äußert sich die türkische Regierung in keiner Weise zu diesen Menschenrechtsverletzungen. Misshandlungen oder Folter unter diesen Umständen nicht zu verurteilen, kommt ihrer Duldung gleich", so John Dalhuisen.

Willkürliche Inhaftierung und fehlende verfahrensrechtliche Garantien

Amnesty International sprach mit mehr als zehn Rechtsbeiständen in Ankara und Istanbul, die sich zu den Haftbedingungen ihrer Mandantinnen und Mandanten äußerten. Manche dieser Rechtsbeistände vertraten bis zu 18 Personen, meist Militärangehörige niedrigen Rangs, darunter auch einige Wehrdienstleistende. Bei einigen Mandantinnen und Mandanten handelte es sich jedoch auch um Richterinnen und Richter, Polizeikräfte und andere Beamtinnen und Beamte. Die meisten von ihnen waren Männer und manche erst um die 20 Jahre alt.

Die Berichte der Rechtsbeistände waren sich verblüffend ähnlich.

Sie sagten alle, dass die Inhaftierten in den meisten Fällen vier Tage lang oder länger von der Polizei in Untersuchungshaft gehalten wurden. Mit nur wenigen Ausnahmen waren ihre Mandantinnen und Mandanten während dieser Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, konnten also ihre Familien nicht über ihren Verbleib informieren.

Auch hatten sie keinen Zugang zu ihrem Rechtsbeistand; in den meisten Fällen durften sie sich erst kurz vor dem Gerichtsverfahren oder dem Verhör bei der Staatsanwaltschaft treffen. Eine Anwältin berichtete, wie sie nach einiger Zeit endlich die Familien ihrer Mandantinnen und Mandanten über deren Verbleib informieren konnte und wie dankbar die Familien für diese Informationen waren.

Amnesty International sprach mit dem Verwandten eines hochrangigen Militäroffiziers, der in Ankara festgehalten wird. Dieser gab an, dass die Familie am 16. Juli über ein Mobiltelefon mit dem Inhaftierten sprechen konnte. Das Handy wurde dann jedoch von der Polizei konfisziert, und seither habe die Familie nichts mehr von ihm gehört. Einige Familienangehörige gingen wiederholt zu verschiedenen Hafteinrichtungen in Ankara, wurden jedoch überall mit der Behauptung abgewiesen, ihr Verwandter sei dort nicht inhaftiert. Der Gefangene hatte zudem bisher keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Eine solche Behandlung kommt dem Verschwindenlassen gleich, was als völkerrechtliches Verbrechen gilt, da Gefangenen in dieser Situation der Rechtsschutz entzogen wird und sie von der Außenwelt abgeschnitten sind. Sie sind demnach einer hohen Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder sogar außergerichtlich hingerichtet zu werden.

Laut Angaben der Rechtsbeistände wurden in den meisten Fällen weder sie noch die Inhaftierten über die genauen Anklagen informiert, auch nicht im Anklageprotokoll oder vor Gericht. Dementsprechend war es sehr schwierig, eine wirkungsvolle Verteidigung vorzubereiten. Inhaftierte Soldatinnen und Soldaten wurden in großen Gruppen vor Gericht gestellt, manchmal bestehend aus 20-25 Personen.

Nur eine Mandantin der Rechtsbeistände, mit denen Amnesty International gesprochen hat, durfte ihre Anwältin selbst aussuchen. Berichten zufolge durften Gefangene nicht von privaten Rechtsbeiständen vertreten werden, sondern wurden im Rahmen der Prozesskostenhilfe einem Rechtsbeistand der Anwaltskammer zugewiesen und hatten nur eingeschränkten Zugang zu ihren Rechtsbeiständen. Die Rechtsbeistände durften eigenen Angaben zufolge nach den Anhörungen nicht mit ihren Mandantinnen und Mandanten sprechen, bevor sie in Untersuchungshaft genommen wurden.

"Hierbei handelt es sich um schwere Verstöße gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, welches sowohl in der türkischen Gesetzgebung als auch im Völkerrecht verankert ist", machte John Dalhuisen deutlich.

"In der Türkei ist man derzeit sehr um die öffentliche Sicherheit besorgt, und das ist verständlich. Doch Folter und andere Misshandlung sowie willkürliche Haft sind niemals und unter keinen Umständen gerechtfertigt. In der Türkei herrschen Angst und Schock. Die Regierung muss die Rechte der Bevölkerung achten und die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten, statt Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen."

Informationen von Rechtsbeiständen deuten darauf hin, dass zahlreiche Häftlinge willkürlich festgehalten werden. Die Anwältinnen und Anwälte gaben an, dass in den meisten Fällen keine stichhaltigen Beweise gegen ihre Mandantinnen und Mandanten vor Gericht vorgelegt wurden. Auch seien in den anfänglichen Anhörungen keine zulässigen Gründe für eine Untersuchungshaft vorgebracht worden.

Stattdessen hätten die zuständigen Richterinnen und Richter Untersuchungshaft für alle Soldatinnen und Soldaten angeordnet, die am Abend des Putschversuchs ihre Kaserne verlassen hatten – gleich, aus welchem Grund. In einem Fall wurde einer Angeklagten vor Gericht keine einzige Frage gestellt.

In einigen Fällen stellten Richterinnen und Richter irrelevante Fragen, die einzig und allein darauf abzuzielen schienen, eine Verbindung zwischen dem Angeklagten und Fethullah Gülen oder ihm nahestehenden Einrichtungen nachzuweisen.

Fethullah Gülen wird von den Behörden beschuldigt, den versuchten Staatsstreich inszeniert zu haben. Er selbst bestreitet dies.

Die Rechtsbeistände sagten Amnesty International, dass ihre Mandantinnen und Mandanten auch dann in Untersuchungshaft genommen wurden, wenn keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestand, obwohl dies rechtliche Voraussetzungen für eine solche Inhaftierung sind.

"Personen in Verbindung mit einer Strafanzeige in Gewahrsam zu halten, ohne nachzuweisen, dass Beweise für kriminelles Verhalten vorliegen, ist willkürlich und rechtswidrig", so John Dalhuisen. "Diese äußerst fragwürdigen und scheinbar systematischen Praktiken müssen untersucht werden."

Empfehlungen

Amnesty International fordert den Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter auf, der Türkei einen Besuch abzustatten, um die Haftbedingungen zu prüfen. Die Türkei hat als Mitglied des Europarats die Pflicht, mit dem Ausschuss zusammenzuarbeiten. Der Ausschuss zur Verhütung von Folter ist das einzige unabhängige Organ, das die Befugnis hat, kurzfristig und zu jeder Zeit alle Hafteinrichtungen in der Türkei zu überprüfen.

Der türkische Menschenrechtsrat, der befugt war, Haftbedingungen in der Türkei zu prüfen, wurde im April 2016 abgeschafft. Somit gibt es in der Türkei keine nationale Einrichtung mit einem solchen Mandat. Angesichts der Berichte über tausende Personen, die ohne Kontakt zur Außenwelt, zu Rechtsbeiständen oder Familienangehörigen über lange Zeit hinweg ohne Anklage in irregulären Hafteinrichtungen festgehalten werden, müssen Menschenrechtsbeobachter dringend Zugang zu den türkischen Hafteinrichtungen erhalten. Die Folter- und Misshandlungsvorwürfe unterstreichen diese Dringlichkeit noch.

Amnesty International fordert die türkischen Behörden dringend auf, Folter und andere Formen der Misshandlung in Hafteinrichtungen zu verurteilen, konkrete Gegenmaßnahmen zu ergreifen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Behörden sollten sicherstellen, dass Anwaltskammern und Familienangehörige unverzüglich über Inhaftierungen informiert werden und dass Anwältinnen und Anwälte über die gesamte Haftdauer hinweg uneingeschränkten Zugang zu ihren Mandantinnen und Mandanten erhalten.

Hier finden Sie die aktuellen Zahlen zu den Menschenrechtsverletzungen nach dem Putschversuch in der Türkei

Weitere Informationen zur Lage der Menschenrechte in der Türkei finden Sie hier

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