Aktuell Deutschland 06. Oktober 2016

"Stricken gegen die Kälte": Flüchtlinge helfen Flüchtlingen

Strickcafé mit Aachener Integrationspreis ausgezeichnet
Faisa Ischo (links) und Ingeborg Heck-Böckler (rechts) bei der Verleihung des Aachener Integrationspreises (28.08.2016)

Faisa Ischo (links) und Ingeborg Heck-Böckler (rechts) bei der Verleihung des Aachener Integrationspreises (28.08.2016)

Schals, Decken, Mützen, Handschuhe: Beim Aachener Strickcafé stellen geflüchtete Frauen mit Wolle und Nadel warme Kleidung für bedürftige Menschen in ihren Herkunftsländern her. Eine der Frauen ist Faisa Ischo. Ende August nahm die Irakerin stellvertretend für das Projekt den Integrationspreis der Stadt Aachen entgegen.

"Stricken gegen die Kälte": Unter diesem Motto treffen sich in Aachen Woche für Woche Frauen, die vor Krieg und Gewalt nach Deutschland geflohen sind, und Aachenerinnen, die bereits seit langem in der Stadt wohnen.

Gemeinsam stricken sie warme Kleidung, um den Familien der Flüchtlinge zu helfen, die nicht nach Deutschland fliehen konnten und immer noch in ihrer Heimat unter oft schwierigen Bedingungen ausharren müssen. Beim Strickcafé geht es aber auch darum, dass Einheimische und Neuankömmlinge sich besser kennenlernen, man voneinander lernt und sich gegenseitig hilft.

Daher nimmt in der Regel auch mindestens ein Mitglied von der Aachener Asylgruppe von Amnesty International an den Treffen teil und kann so auch direkt beraten oder einen Termin für eine Beratung ausmachen.

Eine der Frauen, die bereits seit vielen Monaten im Strickcafé dabei ist, ist die Irakerin Faisa Ischo. Sie war im März 2012 vor den Kämpfen zwischen Armee und bewaffneten Gruppen nach Aachen geflohen.

Mehr als vier Jahre später, am 28. August 2016, nahm Faisa stolz den Aachener Integrationspreis entgegen, stellvertretend für alle, die sich beim Strickcafé engagieren. "Ich stehe das erste Mal auf einer Bühne und die Menschen im Saal schauen mich an und denken über Flüchtlinge nach", sagte sie strahlend.

Faisa ist nicht nur beim Strickcafé aktiv, sondern auch bei der internationalen Kochgruppe in Aachen. Sie berät andere Flüchtlinge und unterstützt die Asyl-Gruppen von Amnesty International. Dabei zieht sie sich das leuchtendgelbe Amnesty-Leibchen an und trägt es voller Stolz und Überzeugung. Von ihr stammte auch die Idee, jede Woche direkt vor dem Strickcafé einen Deutschkurs anzubieten.

"Botschafterin für die Anliegen von Flüchtlingen"

Es ist ihr wichtig, dass die Menschen in Deutschland erfahren, warum Menschen aus den Krisenregionen der Welt sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Faisa sieht sich selbst als "Botschafterin für die Anliegen von Flüchtlingen".

Hätte sie eine Wahl gehabt, wäre Faisa im Irak geblieben. Doch sie hatte keine Wahl.
Faisa ist Christin. Religiöse und ethnische Minderheiten im Irak gehören zu den hochgradig gefährdeten Personen, die immer wieder Todesdrohungen erhalten, aus ihren Häusern vertrieben, entführt und ermordet werden. Für Faisas Familie und andere Christinnen und Christen wurde es 2012 immer gefährlicher, religiöse Feste zu feiern.

Als Christinnen und Christen umgebracht wurden, die sie persönlich kannte, wuchs Faisas Angst. Sie entschloss sich, ihren Sohn Freddy der Familie ihrer Schwester anzuvertrauen, damit er mit ihnen nach Europa flüchtet. Die gefährliche Flucht über das Mittelmeer schien ihr sicherer als der weitere Verbleib im Irak. Der damals 15-jährige Freddy war über einen Monat auf der Flucht. Mehrere Stunden dauerte die Bootsfahrt nach Griechenland, die ihm wie Tage vorkamen. Noch heute redet er nicht gerne darüber. Nach einem bangen Jahr des Wartens wurde auch Faisa in Deutschland aufgenommen.

Heute arbeitet Faisa als Putzkraft in einer Arztpraxis. Ein bisschen erinnert sie die Arbeit an den Beruf, den sie im Irak 25 Jahre mit Leidenschaft ausgeübt hat: Krankenschwester. Die Anerkennung ihrer Abschlüsse in Deutschland ist schwierig. Als sie mehrere Monate ohne Arbeit auf ihren Deutschkurs warten musste, war sie oft traurig und fühlte sich überflüssig. Sobald sie besser Deutsch spricht, möchte sie noch einmal die Ausbildung als Krankenschwester oder Altenpflegerin machen.

"Die Flucht war gefährlich und unmenschlich"

Eine weitere Schwester von Faisa lebt mit ihrer Familie noch immer im Nordirak, 30 Kilometer von Mossul entfernt. Der selbsternannte "Islamische Staat" hat die Stadt eingenommen. Faisa macht sich Sorgen um ihre Schwester und hat fast ein schlechtes Gewissen, weil sie in Sicherheit ist - und ihre Schwester nicht. Die Familie der Schwester hat bereits überlegt, ob sie die Flucht in einem Boot wagen soll. Aber dieser Weg scheint mit drei kleinen Kindern einfach zu gefährlich.

"Wir waren auch Kinder, als wir mit dem Boot über das Mittelmeer geflohen sind", erzählte einmal Faisas Sohn Freddy sehr bekümmert. "Aber wir waren nicht ganz so klein. Doch auch so war es schon gefährlich und unmenschlich." Und Faisa fügte hinzu: "Deswegen ist die 'Save-Me' Kampagne so wichtig und das Werben für sichere Zugangswege. Ich hoffe und bete für Gesundheit und Sicherheit für die Menschen im Irak."

Die "Save Me" Kampagne

Resettlement bezeichnet ein Programm, das besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen ein dauerhaftes Bleiberecht in einem anderen Land bieten soll. Die Flüchtlinge werden direkt dorthin gebracht und müssen so ihr Leben nicht auf der Flucht riskieren.

Mittlerweile ist das Resettlement-Programm in Deutschland gesetzlich verankert. Die Zahl der Personen, die jährlich aufgenommen werden, ist allerdings überschaubar: 500 Menschen pro Jahr. Weltweit liegen die jährlich angebotenen Kontingente nur bei insgesamt rund 80.000 Plätzen, aber für die nächsten fünf Jahre werden rund 800.000 Resettlement-Plätze benötigt. Aufgrund der Teilnahme am Resettlement-Verteilungsplan der EU wird Deutschland 2016 und 2017 je 800 Plätze zur Verfügung stellen. Viel zu wenig, wenn man die weltweiten Flüchtlingszahlen zur Kenntnis nimmt: Über 65,3 Millionen Menschen sind nach Angaben von UNHCR weltweit auf der Flucht.

Viele Amnesty-Gruppen haben sich einem breiten Bündnis von über 60 Organisationen angeschlossen, das auf lokaler Ebene mit der "Save-Me"-Kampagne für das Resettlement-Programm wirbt. Das Bündnis konnte innerhalb von drei Jahren in über 50 Städten und Gemeinden einen Ratsbeschluss zur aktiven Aufnahme von Flüchtlingen erwirken. Zusätzlich geht es um die Begleitung von Flüchtlingen nach ihrer Ankunft in Deutschland: Tausende "Save-Me" Patinnen und Paten stehen den Flüchtlingen zur Seite, um ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen. So wie Faisa in Aachen.

Werden Sie aktiv und fordern Sie sichere und legale Zugangswege für Flüchtlinge nach Europa!

Hier geht es zur Online-Petition

Weitere Informationen zum Thema Flüchtlinge und Asyl finden Sie auf www.amnesty.de/fluechtlinge

Weitere Informationen zur "Save-Me" Kampagne finden Sie auf www.save-me-kampagne.de

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