Aktuell 09. September 2015

Agenda von Amnesty International zum Schutz von Flüchtlingen in Europa

"Eine Union des Schutzes"

Auf der Suche nach Schutz und einem besseren Leben erreichten in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 mehr als 350.000 Menschen die EU. Allein auf den griechischen Inseln waren es mehr als 244.000 Menschen, 90 Prozent von ihnen stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, also Ländern, in denen bewaffnete Konflikte herrschen. Diese nie dagewesene Zahl ist das unvermeidliche Ergebnis der schlimmsten globalen Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat zur Folge, dass weltweit etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind und 19,5 Millionen als Flüchtlinge ihr Heimatland verlassen mussten. 80 Prozent von ihnen werden bislang von Entwicklungsländern aufgenommen.

Anstatt mehr Flüchtlinge aufzunehmen, haben die Staats- und Regierungschefs der EU ihr Hauptaugenmerk auf Grenzkontrollen gelegt, bauen Zäune und machen Nachbarstaaten zu ihren Grenzwächtern. Fast 2.800 Menschen haben in diesem Jahr bereits auf der Suche nach Sicherheit in Europa ihr Leben verloren. Und selbst wenn sie es nach Europa schaffen, hat ihr Leiden noch lange kein Ende, wie Berichte von Amnesty International aus Griechenland, Ungarn und weiteren Ländern zeigen. Es darf nicht so weitergehen – und das muss es auch nicht. Dazu sind dringend eine gemeinsame Reaktion auf die Notlage dieser Menschen und eine radikale Erneuerung des scheiternden europäischen Asylsystems erforderlich. Amnesty International fordert die Staats- und Regierungschefs der EU daher zu Folgendem auf:

1. Der Tod von Menschen auf gefährlichen Fluchtrouten muss verhindert werden. Dazu sind sichere und legale Routen für Flüchtlinge in EU-Länder erforderlich: zum Beispiel durch die Bereitstellung einer deutlich höheren Anzahl von Aufnahmeplätzen im Rahmen des Resettlement-Programmes, durch mehr humanitäre Aufnahmen und humanitäre Visa und durch das Ausweiten von Möglichkeiten von Familienzusammenführungen. Dadurch könnte die Zahl der Flüchtlinge reduziert werden, die gefährliche Reisen auf sich nehmen und gleichzeitig der Druck verringert, der auf den Staaten an der EU-Außengrenze lastet. Eine faire globale und EU-weite Verteilung der Flüchtlinge könnte so gewährleistet und verhindert werden, dass sich Flüchtlinge in die Hände krimineller Schlepper begeben.

Amnesty International geht davon aus, dass in den nächsten beiden Jahren 1,38 Millionen Neuansiedelungsplätze und humanitäre Aufnahmen benötigt werden. Diese Zahl setzt sich zusammen aus den jüngsten Schätzungen des UNHCR, nach denen derzeit 1,15 Millionen Flüchtlinge Ansiedelungsmöglichkeiten benötigen und einem wahrscheinlichen Anstieg dieser Zahl über den genannten Zeitraum.
Die EU-Mitgliedstaaten, die den reichsten politischen Bund formen, können und müssen in den nächsten beiden Jahren mindestens 300.000 Resettlement-Plätze und humanitäre Aufnahmemöglichkeiten für die schutzbedürftigsten Flüchtlinge weltweit zur Verfügung stellen. Dies könnte durch nationale Programme oder durch ein für alle Staaten verbindliches von der EU ausgearbeitetes Programm umgesetzt werden.

2. Für Flüchtlinge muss ein Zugang zur EU an den äußeren Landesgrenzen sichergestellt werden, um die Notwendigkeit, über gefährliche Seerouten einzureisen, zu verringern. Asylsuchenden muss es unabhängig davon, ob sie über gültige Reisedokumente verfügen, erlaubt sein, über offizielle Grenzübergänge einzureisen. Zudem müssen ausreichend sichere Grenzübergangsstellen an geeigneten Standorten für Flüchtlinge geöffnet bleiben.

3. Länder an der Außengrenze der EU müssen unverzüglich entlastet werden. Dazu ist die Unterstützung und Teilnahme an einem Umverteilungsprogramm für den Notfall erforderlich. Als vorübergehende Maßnahme muss der Vorschlag zur Umverteilung unverzüglich umgesetzt werden. Langfristig ist es jedoch erforderlich, dass die in dieser Agenda aufgeführten Maßnahmen, wie sicherere und legale Routen in die EU-Mitgliedstaaten, ein gemeinsames Asylsystem mit einheitlichen Rechten und Ansprüchen in der gesamten EU und Freizügigkeit für Flüchtlinge, ergriffen werden. Darüber hinaus müssen bei der Entwicklung eines Umverteilungsplans die Bedürfnisse und Wünsche der betroffenen Personen miteinbezogen und das Recht auf Einheit der Familie gewahrt werden.

4. Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU müssen gestoppt werden, indem Push-Backs, Misshandlungen und unverhältnismäßige und unnötige Gewalt keine weitere Anwendung finden und den Opfern solcher Menschenrechtsverletzungen wirksame Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Mitgliedstaaten der EU müssen schnelle, unabhängige und umfassende Untersuchungen zu Vorwürfen derartiger Menschenrechtsverletzungen sicherstellen und die Verantwortlichen vor Gericht stellen. Die EU-Kommission muss als Wächter der EU-Verträge bei Verstößen gegen den gemeinschaftlichen Besitzstand Verstoßverfahren einleiten.

5. Die finanzielle, technische und operative Unterstützung der EU-Grenzstaaten bei der Aufnahme von Asylsuchenden und der Bearbeitung von Asylanträgen muss deutlich ausgeweitet werden: Alle Asyl-, Einwanderungs- und Zivilschutzbehörden der EU und der einzelnen Mitgliedstaaten müssen unverzüglich für die Unterstützung der Aufnahmeleistungen und der Bearbeitung von Asylanträgen an wichtigen Grenzübergangsstellen mobilisiert werden.

Bei der Einrichtung von "Hotspots" in den Mitgliedstaaten an der Außengrenze der EU, wie sie von der Europäischen Agenda für Migration vorgesehen sind, muss die Sicherstellung des Zugangs zu wirksamen individuellen Asylverfahren und die Bereitstellung angemessener Aufnahmebedingungen für alle Asylsuchenden im Fokus stehen. So würde nicht nur sichergestellt werden, dass Flüchtlinge bei ihrer Einreise ihre Rechte wahrnehmen können, sondern es würde auch dabei helfen, irreguläre Weiterreisen innerhalb der EU einzudämmen.

6. Für Flüchtlinge muss in der EU Freizügigkeit bestehen: EU-Richtlinien mit denen die Freizügigkeit für Menschen, deren Asylanträge bewilligt wurden, innerhalb der EU eingeschränkt werden, müssen überarbeitet werden. Dies umfasst auch die Überarbeitung der Richtlinie betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen und das Schaffen eines Systems zur gegenseitigen Anerkennung von positiven Entscheidungen von internationalen Schutzgesuchen. Dies würde dazu beitragen, irreguläre Sekundärmigration innerhalb der EU zu verhindern, Familienzusammenführungen zu vereinfachen, die Chancen auf Integration zu erhöhen und den langfristigen Druck, der auf den Ländern an der Außengrenze der EU lastet, zu verringern.

7. In ganz Europa muss die Umsetzung von Aufnahme- und Verfahrensstandards sichergestellt werden: Es muss sichergestellt sein, dass die Europäische Kommission das geltende Asylrecht der EU hinsichtlich der Bearbeitung von Asylanträgen und der Aufnahme von Asylsuchenden durch EU-Mitgliedstaaten konsequent durchsetzt, um zu gewährleisten, dass die Staaten ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen. Irreguläre Sekundärmigration innerhalb der EU kann nur durch die Schaffung eines einheitlichen Asylsystems verhindert werden, das gleiche Standards in allen Aufnahme-, Asyl- und Integrationssystemen der EU sicherstellt.

8. Es muss von der Aufstellung einer Liste "sicherer Herkunftsländer" abgesehen werden: Bei der Bestimmung des Flüchtlingsstatus wird die individuelle Situation des Antragsstellers betrachtet, daher kann ein Herkunftsland nicht als grundsätzlich "sicher" bezeichnet werden. Mit der Anwendung einer solchen Kategorisierung wird der Zugang zu einem fairen und wirksamen Asylverfahren grundlegend untergraben, da Antragstellern aus "sicheren" Ländern in der Folge oftmals eine unverhältnismäßig hohe Beweislast zukommt. Eine solche Kategorisierung könnte es ganzen Gruppen von Asylsuchenden a priori unmöglich machen, den Flüchtlingsstatus zu erhalten, und so letztendlich zu Zurückweisungen führen. Zudem würde dies zu der Diskriminierung von Asylsuchenden aufgrund ihrer Nationalität führen, was gegen Artikel 3 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verstößt.

9. Such- und Rettungskapazitäten entlang der wichtigsten Migrationsrouten in die EU müssen entsprechend vorhersehbarer Tendenzen aufrechterhalten werden: Amnesty International fordert die Staats- und Regierungschefs der EU auf, den Einsatzumfang von Schiffen und Luftfahrzeugen aufrechtzuerhalten, solange weiterhin eine derart große Anzahl von Menschen versucht, über den zentralen Mittelmeerraum Europa zu erreichen. Außerdem sollten die Einsätze so nah wie nötig an den libyschen Gewässern durchgeführt werden, wie dies für die rasche Rettung von in Seenot geratenen Menschen nötig ist. Einsätze zum Aufgreifen und Beschlagnahmen von Schlepperbooten sollten keine Ressourcen beanspruchen, die auf Kosten der Rettung von in Seenot geratenen Menschen gehen, was die Hauptaufgabe der Seepatrouille ist. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollen sicherstellen, dass gerettete Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden, wo sie Zugang zu einem funktionierenden Asylsystem haben, das all jenen internationalen Schutz gewährt, die ihn brauchen.

10. Die Ermutigung und Unterstützung von Transitstaaten bei der Umsetzung von menschenrechtskonformen asyl- und migrationspolitischen Maßnahmen. Kooperationsvereinbarungen mit Drittstaaten zum Thema Migration sollen auf die Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt werden und deren Zugang zum internationalen Schutz verbessern und nicht verschlechtern.

11. Die humanitären Hilfe für Krisen und Konflikte außerhalb der EU muss aufgestockt werden: Die humanitären UN-Programme zur Versorgung mit Nahrungsmitteln, Unterkünften und Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für Flüchtlinge und zur Unterstützung der Gemeinschaften, die Flüchtlinge beherbergen, verfügen über viel zu geringe finanzielle Mittel. António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, warnt aktuell davor, dass die globale humanitäre Gemeinschaft finanziell am Ende sei. Dieser Mangel an finanziellen Mitteln hat ernste Auswirkung auf die Lebensumstände der Flüchtlinge im Nahen Osten und anderorts.

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