Aktuell Jemen 12. Dezember 2012

Jemen: Konflikt in Abyan - eine Menschenrechtskatastrophe

Zerstörte Gebäude in Abyan, Jemen 2012

Zerstörte Gebäude in Abyan, Jemen 2012

4. Dezember 2012 – Im Kampf um die Kontrolle der südlichen Region Abyan im Jemen haben die islamistische Gruppe Ansar al-Shari’a und Regierungstruppen massive Menschenrechtsverletzungen begangen. Amnesty International fordert in einem neuen Bericht eine unparteiische, sorgfältige und unabhängige Untersuchung.

Der Bericht "Konflikt in Jemen: Abyans dunkelste Stunde" dokumentiert die Verletzungen der Regeln der Kriegsführung, die Regierungstruppen und Ansar al-Shari’a ("Partisanen der al-Sharia"), eine bewaffnete islamistische Gruppierung, die al-Qaida auf der arabischen Halbinsel nahesteht, während des bewaffneten Konflikts begangen haben.

Er beschreibt darüber hinaus die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen, die Ansar al-Shari’a während ihrer Herrschaft über die Provinz Abyan und andere Gebiete im Süden von Jemen zwischen Februar 2011 und Juni 2012 begingen. Unter anderem kam es zu öffentlichen Hinrichtungen im Schnellverfahren, Kreuzigungen, Amputationen und Auspeitschungen.

"Abyan erlebte eine Menschenrechtskatastrophe, als während des Jahres 2011 und der ersten Hälfte von 2012 Ansar al-Shari'a und Regierungstruppen um die Kontrolle über diese Region kämpften", sagte Philip Luther, Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

"Die jemenitische Regierung muss sicherstellen, dass die Untersuchungskommission, die sie im September 2012 angekündigt hatte, sich aller wahrhaftig schockierenden Menschenrechtsverletzungen annimmt. Die Tragödie von Abyan wird sich für Jahrzehnte belastend auswirken, wenn nicht diejenigen, die als Verantwortliche festgestellt werden, zur Rechenschaft gezogen werden und die Opfer und ihre Angehörigen keine Wiedergutmachung erhalten."

Ansar al-Shari'a hatte Anfang 2011 rasch die Kontrolle über die Kleinstadt Ja’ar in der Provinz Abyan gewonnen. Zur gleichen Zeit unterdrückte die jemenitische Regierung die Protestbewegung, die den Rücktritt des Präsidenten Ali Abdullah Saleh forderte, mit brutalen Mitteln.

Ansar al-Shari'a griff erfolgreich Regierungstruppen und Amtsträger an, plünderte Banken und übernahm Munition, schwere Waffen und andere militärische Ausrüstung aus den verlassenen jemenitischen Militär- und Polizeistationen. Die islamistische Gruppierung gewann rasch an Boden und kontrollierte ab Mitte 2011 die meisten Städte und Dörfer in Abyan sowie Zinjibar, die Hauptstadt der Provinz.

„Religiöse Gerichte“ verhängen grausame Strafen

Während ihrer Herrschaft war Ansar al-Shari'a für weitverbreitete und gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Diese wurden auch durch "religiöse Gerichte" begangen, die als Teil ihrer Herrschaftsausübung eingesetzt worden waren.

Diese Gerichte verhängten oft grausame, unmenschliche und entwürdigende Strafen gegen mutmaßliche Straftäter und Menschen, die man verdächtigte, gegen Ansar al-Shari'a zu spionieren, sowie Menschen, die gegen bestimmte kulturelle Regeln verstießen. Unter den vollstreckten Strafen waren auch Hinrichtungen im Schnellverfahren, Amputationen und Auspeitschungen.

Ein "religiöses Gericht" befand den 28-jährigen Saleh Ahmed Saleh al-Jamli für schuldig, zwei elektronische Geräte in zwei Fahrzeugen angebracht zu haben, in denen Kommandanten von Ansar al-Shari'a gefahren wurden. Dem Urteil zufolge, welches Amnesty vorliegt, sollen die eingebauten Geräte es den US-Drohen ermöglicht haben, die beiden Kommandanten in Zinjibar zu töten. Saleh al-Jamli habe vor einem juristischen Komitee die Tat "gestanden". Das "religiöse Gericht" ordnete an, Saleh al-Jamli zu töten. Danach wurde sein Leichnam an ein Kreuz gehängt.

Amputationen wegen Diebstahl

Mindestens einer Person wurde die Hand amputiert hat, weil sie des Diebstahls verdächtigt worden war. Eine Mitarbeiterin von Amnesty International traf den jungen Mann, dessen linke Hand in dem Zeitraum zwischen Juni und September auf einem öffentlichen Platz in Ja’ar amputiert worden war. Ansar al-Shari'a hatte ihn zusammen mit einigen seiner Freunde festgenommen und beschuldigt, Elektrokabel gestohlen zu haben. Seine Freunde wurden wahrscheinlich freigelassen.

Der junge Mann, der einer marginalisierten, als "Bedienstete" (al-akhdam) bezeichneten Gruppe angehört, berichtete, dass er vor der Amputation fünf Tage lang gefoltert worden war. Er hatte keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder seiner Familie. Er wurde nicht vor Gericht gestellt und erfuhr vor der Vollstreckung nichts von der Strafe. Einwohner berichteten Amnesty International, dass die amputierte Hand mit einem Seil auf dem Marktplatz für alle sichtbar aufgehängt wurde.

Repressives soziales und religiöses Regelwerk

Ansar al-Shari'a versuchte darüber hinaus, ihre Kontrolle durch Drohungen und Einschüchterungen sowie mithilfe eines stark repressiven Regelwerks für soziale und religiöse Belange durchzusetzen.

Insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen wurden beschnitten. Strenge Kleidungsvorschriften wurden etabliert, ebenso die strikte Geschlechtertrennung und Einschränkungen in Arbeitsstätten und Schulen. Eine Lehrerin berichtete Amnesty International, dass Ansar al-Shari'a für jede Schule eine Frau eingesetzt hatte, die die Anweisungen der bewaffneten Gruppe überwachen sollte.

Gegenoffensive der jemenitischen Streitkräfte

Sehr bald nachdem Ansar al-Shari'a die Kontrolle über Abyan gewonnen hatte und ihren Machtbereich in andere Gebiete des Südens ausdehnte, griff das jemenitische Militär mehrfach an, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Dies gipfelte am 12. Mai 2012 in eine größere Offensive, bei der auch Luftwaffe und Artillerie eingesetzt wurden. Ende Juni 2012 hatten die Regierungstruppen Ansar al-Sharia erfolgreich aus Abyan und den Nachbargebieten vertrieben.

Schätzungsweise 250.000 Menschen aus den südlichen Provinzen und insbesondere aus Abyan flohen vor den Kämpfen und grausamen Bestrafungen.

Ansar al-Shari'a hatte zwischenzeitlich Wohngebiete, vor allem in Ja’ar, als Stellungen benutzt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob die Zivilbevölkerung dadurch in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Die Luft- und Artillerieangriffe sowie die Mörserattacken von Seiten der Regierungstruppen töteten eine große Zahl von Zivilpersonen, darunter auch Kinder. Viele weitere wurden verletzt. Die Regierungstruppen setzten nicht angemessene Waffen wie zum Beispiel Artillerie in Wohngebieten ein. Bei anderen Kämpfen schienen die Regierungstruppen keine entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu treffen.

Ansar al-Shari'a wurde zwar aus den Siedlungen und Städten vertrieben, die sie bis Juni 2012 kontrolliert hatten. Es besteht jedoch weiterhin die Gefahr, dass sie zurückkommen und der bewaffnete Konflikt wieder aufflammt.

Zum Bericht:
Der Bericht basiert auf den Ergebnissen einer Untersuchungsmission von Amnesty International im Juni und Juli 2012 in Jemen. Amnesty International befragte dabei Einwohnerinnen und Einwohner, Aktivistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten, Augenzeuginnen und –zeugen, Opfer und Angehörige von Opfern aus der Provinz Abyan, zumeist in Aden und Ja’ar, und besuchte die von den Kämpfen betroffenen Gebiete, darunter Ja’ar, Zinjibar und al-Kwad.

Lesen Sie hier den vollständigen englischsprachigen Bericht "Konflikt in Jemen: Abyans dunkelste Stunde"

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