Menschenrechtler_innen angegriffen

Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Joint Mobile Group waren in jüngster Zeit wiederholt Drohungen seitens der tschetschenischen Behörden ausgesetzt und wurden Opfer zunehmender Gewalt. Sie setzen ihre Arbeit im russischen Nordkaukasus fort, doch drohen ihnen angesichts der Straflosigkeit für die Verantwortlichen weitere Angriffe. Ihr Leben ist in Gefahr.

Appell an

LEITER DER ERMITTLUNGSBEHÖRDE
Aleksandr Ivanovich Bastrykin

Investigation Committee of the Russian Federation
Tekhnicheskii pereulok, dom 2, 105005 Moscow
RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Chairman of the Investigation Committee / Sehr geehrter Herr Bastrykin)
Fax: (00 7) 499 265 90 77 oder (00 7) 499 265 97 75

GENERALSTAATSANWALT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
Yuriy Yakovlevich Chaika
Prosecutor General’s Office
ul. B. Dmitrovka, d.15a
125993 Moscow GSP- 3
RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt)
Fax: (00 7) 495 987 58 41 oder (00 7) 495 692 17 25

Sende eine Kopie an

BOTSCHAFT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
S. E. Herrn Vladimir M. Grinin
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 12. Mai 2016 keine Appelle mehr zu verschicken.

Amnesty fordert:

FAXE UND LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Ich bin erschüttert über die wiederholten Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen im Nordkaukasus und das durchgängige Versäumnis der Behörden, diese wirksam zu untersuchen, was letztendlich die Straflosigkeit der Verantwortlichen nach sich zieht.

  • Stellen Sie bitte sicher, dass die Verantwortlichen für die Angriffe vom 9. und 16. März auf Mitglieder der JMG und Journalist_innen sowie für die vorherigen Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger_innen im Nordkaukasus umgehend identifiziert und in einem fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.

  • Ich fordere Sie auf, auf die zahlreichen Drohungen gegen mehrere bekannte Menschenrechtsverteidiger_innen, Medienmitarbeiter_innen und politische Aktivist_innen vonseiten der politischen Führung Tschetscheniens zu reagieren.

PLEASE WRITE IMMEDIATELY

  • Expressing deep concern about the recurring attacks against human rights defenders and journalists in the North Caucasus and the authorities’ consistent failure to investigate these effectively thereby providing impunity for the perpetrators.

  • Urging that the immediate perpetrators and the masterminds of the attacks of 9 March and 16 March against members of the JMG and journalists, and of the previous attacks against human rights defenders in the North Caucasus, are promptly identified and brought to justice in fair trial proceedings.

  • Urging the authorities to respond to a string of threats against several prominent human rights defenders, media workers and political activists, which originated from the political leadership of Chechnya.

Sachlage

Am 9. März wurden zwei Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Joint Mobile Group (JMG), sechs Journalist_innen russischer, norwegischer und schwedischer Medien sowie ihr Fahrer auf der Fahrt von Nordossetien nach Tschetschenien Opfer eines brutalen Überfalls. Gegen 19 Uhr wurde ihrem Minibus in der Nähe eines Sicherheitskontrollpunkts an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien von vier Autos der Weg versperrt. Aus den Autos stiegen etwa 20 maskierte und mit Baseballschlägern und Schlagstöcken bewaffnete Männer, die sie brutal verprügelten und schließlich ihr Fahrzeug in Brand setzten. Die Angreifer stießen Beschimpfungen und Drohungen aus und beschuldigten die Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen, mit Terroristen zu sympathisieren. Zwei Stunden später wurde das Büro der JMG in Inguschetien geplündert. Videoüberwachungskameras zeigen zwei maskierte Männer, die zunächst versuchten, die Tür aufzubrechen und schließlich über das Fenster eindrangen. Sie stahlen Laptops, Kameras und andere elektronische Geräte und verwüsteten das Büro.

Am 16. März traf Igor Kalyapin, der Vorsitzende der JMG, in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny ein, um dort in einer Pressekonferenz über diese und frühere Angriffe auf JMG-Kolleg_innen und Journalist_innen zu berichten. 40 Minuten nach dem Einchecken in sein Hotel forderte ihn der Hoteldirektor auf, das Hotel zu verlassen. Der Hoteldirektor begründete dies damit, dass Igor Kalyapin den tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow nicht "lieben" würde. Vor dem Hotel wurde Igor Kalyapin von einer aufgebrachten Menschenmenge erwartet. Er wurde geschlagen, mit Eiern und Kuchen beworfen und mit Mehl und einer leuchtendgrünen Flüssigkeit überschüttet.

Diese Angriffe sind die letzten in einer langen Reihe zunehmend brutaler werdenden Angriffe auf Igor Kalyapin und Mitglieder der JMG sowie versteckter und offener Drohungen seitens führender tschetschenischer Behördenvertreter_innen und unbekannter Personen. In der Vergangenheit war auf ähnliche Drohungen stets Gewalt gefolgt. Die Journalistin Anna Politkovskaya und die tschetschenische Menschenrechtsverteidigerin Natalia Estemirova gehörten zu denen, die derartige Drohungen erhalten hatten und später getötet wurden. Die russischen Behörden sind diesen Drohungen und Angriffen nicht wirksam nachgegangen, und die Verantwortlichen gingen straffrei aus. Die JMG wurde nach dem Mord an Natalia Estemirova ausdrücklich für die Menschenrechtsarbeit in Tschetschenien gegründet, und ihre Mitglieder sind trotz der möglichen Gefahr für ihr Leben entschlossen, die Arbeit fortzusetzen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Die Joint Mobile Group (JMG) ist eine gemeinsame Initiative mehrerer Menschenrechtsorganisationen. Sie wurde 2009 gegründet, kurz nach der Entführung und Ermordung der tschetschenischen Menschenrechtsverteidigerin Natalia Estemirova, um angesichts der nach wie vor bestehenden persönlichen Risiken für alle, die die tschetschenischen Behörden mit schweren Menschenrechtsverletzungen in der Region konfrontierten, eine kontinuierliche Präsenz von Menschenrechtsverteidiger_innen in Tschetschenien zu gewährleisten. So bringt die JMG nach dem Rotationsprinzip Menschenrechtsanwält_innen aus den verschiedenen Regionen Russlands zusammen, die, meist zu dritt, mehrere Wochen in Tschetschenien verbringen. Sie übernehmen Fälle von Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung sowie Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen, vertreten die Opfer in allen Ermittlungsphasen und vor Gericht und überwachen den Verlauf von Verfahren innerhalb der russischen Strafjustiz.

Die Mitglieder der JMG sind in der jüngeren Vergangenheit wiederholt Opfer von Drangsalierungen und Gewalt geworden. Ihre Büros in Grosny wurden zweimal verwüstet, im Dezember 2014 und im Juni 2015 (siehe UA-315/2014 und UA-125/2015). In das aktuelle Büro in Grosny wurde im März 2016 eingebrochen. Die von der tschetschenischen Regierung kontrollierten Medien haben wiederholt verleumderische Artikel mit kaum verhüllten Drohungen gegen die Gruppe und Igor Kalyapin persönlich veröffentlicht. Ähnliche Drohungen gab es gegen Journalist_innen, die über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichteten, darunter kürzlich gegen Elena Milashina von der Zeitung Novaya Gazeta.

Die Behörden leiteten offiziell strafrechtliche Ermittlungen zu den Angriffen ein, versäumten jedoch durchgängig die Ergreifung wirksamer Maßnahmen zur Identifizierung und Strafverfolgung der Personen, die an den Angriffen beteiligt waren bzw. hinter diesen standen. Einige der Angriffe fanden am helllichten Tag stand, und es liegen Fotos, Videos und anderes Beweismaterial vor, das den Behörden bei ihren Ermittlungen helfen könnte. Auch die mehr oder weniger offenen Drohungen, die wiederholt gegen Mitglieder der JMG und andere Aktivist_innen ausgesprochen wurden, blieben bei den Behörden der Russischen Föderation weitgehend unbeachtet, obwohl einigen Morden an Menschenrechtsverteidiger_innen in der Vergangenheit ähnliche Drohungen vorausgegangen waren.