Amnesty Journal Niger Nigeria 25. März 2024

Verlust und Trauma überwinden

Sandiger Wüstenboden in Nigeria, auf dem viele Menschen sind, Erwachsene und Kinder, manche laufen, manche sitzen im Sand, im Hintergrund die Zelte eines Flüchtlingslagers.

Hier landen viele, die nichts mehr haben: Flüchtlingslager in Maiduguri, Februar 2020

In der nigerianischen Stadt Maiduguri bietet die Diözese psychosoziale Hilfe für Überlebende von Gewalt und für Menschen, die in der Klimakrise alles verloren haben.

Aus Maiduguri von Bettina Rühl

Ibrahim Mohamed nimmt schlürfend einen Schluck heißen Tee, lässt die Flüssigkeit im Mund rollen. Er hockt vor der Feuerstelle mit dem Kessel, die linke Hand hängt herab, in der rechten hält er das Teeglas. Mohamed ist ganz bei der Sache, lässt sich den Geschmack des Tees auf der Zunge zergehen. In gewisser Weise hängt sein Überleben davon ab, dass sein Tee den perfekten Geschmack hat. Dass er seine Kunden zufriedenstellt und sie dazu bringt, vielleicht noch ein zweites Glas zu bestellen, oder jedenfalls morgen wieder auf ihn und seine Thermoskanne zu warten, obwohl es in der im Nordosten Nigerias gelegenen Stadt Maiduguri sehr viele andere Teeverkäufer gibt. "Dieser Tee ist noch nicht süß genug", sagt der 27-Jährige. 

Die Kunst des Teekochens hat der Familienvater aus seinem alten Leben mitgebracht: Er war Viehhalter, wie fast alle Fulbe in seiner Heimat Niger und den übrigen Ländern der Region. Sobald die Herden zum Halten kamen, kochten er und seine Kollegen Tee: stark gesüßten, kräftigen Tee mit Minze, der wach machte und auch den ersten Hunger stillte.

Die Herde war sein Bankkonto

Etwa 140 Rinder habe er gehabt, erzählt Mohamed mit seiner sanften Stimme, seine gesamte Großfamilie besaß ein paar hundert. "Ich hatte ein sorgenfreies Leben", erzählt er. "Wenn ich morgens wach wurde und meine Tiere sah, war ich durch und durch zufrieden." Die Herde war sein Bankkonto und seine Lebensversicherung. Wenn er etwas brauchte, verkaufte er so viele Tiere wie erforderlich und bezahlte vom Erlös das, was nötig war: Essen, Medikamente, Kleidung – alles. Mohamed und seine Familie waren wohlhabend, sein Großvater war der "Chief" der Region, ein traditioneller Führer. 

Doch seit sechs Jahren ist er so arm, dass jeder Tag mit der Frage beginnt, ob er heute etwas zu essen für seine Familie finden wird. Zwischen Wohlstand und Überlebenskampf lag ein besonders schweres Dürrejahr. "2016 habe ich meine gesamte Herde verloren", sagt Mohamed leise. "Alle meine Tiere sind verhungert." Vor seinen Augen, und er konnte nichts tun, hatte für seine Herde weder Gras noch Wasser. Etwa 80 Rinder habe er da noch gehabt, um die 60 hatte er zuvor schon durch einen Überfall der islamistischen Gruppe Boko Haram verloren, die Menschen im Nordosten Nigerias und im benachbarten Niger unter ihre Gewaltherrschaft zwingt. 

Als die Tiere starben, waren Mohamed und seine Frau Aisha mit der Herde im Grenzgebiet zwischen Niger und Nigeria unterwegs, auf der Suche nach Weideland. Die nächste Großstadt Maiduguri lag etwa 400 Kilometer entfernt. Dorthin flohen sie notgedrungen. Die beiden bewachen nun das Grundstück eines reichen Nigerianers, der noch andere Immobilien hat und sein Anwesen in Maiduguri nur selten bewohnt. Für den Wachdienst bekommt Mohamed 20.000 Naira im Monat, etwa 20 Euro – zwei Drittel des ­gesetzlichen Mindestlohns. Das Paar hat mittlerweile drei Kinder, zum Überleben bräuchte die Familie ein Vielfaches dieser Summe. 

Ein nigerianischer Mann mit Strohhut trägt ein Jacket und ein Kopf-Hals-Tuch.

Kämpft mit den Auswirkungen der Klimakrise: Teeverkäufer Ibrahim Mohamed

Weil das Geld noch nicht einmal zum Essen reicht, geht Mohamed zwei Mal täglich mit einer Thermoskanne und einigen Gläsern los und versucht, mit dem Verkauf von Tee ein paar Naira zusätzlich zu verdienen. Der Preiskampf ist hart, jedes Gramm Zucker im Tee will genau überlegt sein: Die Kunden lieben es süß, aber Zucker ist teuer, zu viel davon schmälert Mohameds Profit. Wenn er gut verkauft, verdient er pro Runde 350 Naira, etwa 30 Cent. Was er für diese Summe an Reis und Bohnen kaufen kann, macht keines der Familienmitglieder satt. Aber Mohamed ist schon froh, wenn er seiner Frau und den Kindern überhaupt etwas anbieten kann. "Ich werde den Tee länger einkochen lassen, dann wird er süßer." 

Der Verlust seines früheren Lebens hat Mohamed tief getroffen. Er vermisst nicht nur seine finanzielle Unabhängigkeit, sondern trauert auch um seine Tiere. Die meisten der Zehntausenden Vertriebenen, die in den vergangenen Jahren in Maiduguri Zuflucht suchten, haben wie Mohamed ihre Heimat, ihre Lebensgrundlage und nahe Angehörige sowie ihre Tiere verloren: durch Dürren oder Überschwemmungen infolge der Klimakrise oder durch Überfälle bewaffneter ­islamistischer Gruppen. 

Die Gesellschaft heilen

"Menschen, die wie Mohamed alles verloren haben, brauchen Unterstützung", betont der Priester Joseph Bature von der Diözese Maiduguri. "Der schwere Verlust kann dazu führen, dass sie eine Depression entwickeln oder gewalttätig werden." Um den Menschen besser helfen zu können, ging er nach Italien, studierte klinische Psychologie und kehrte 2019 nach Maiduguri zurück. Seitdem baut er dort mit der katholischen Nichtregierungsorganisation Kommission für Gerechtigkeit, Frieden und Entwicklung (JDPC) das Programm "Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung" auf und aus, unterstützt von der deutschen Caritas.

Das Programm bietet in mehreren Städten im Nordosten Nigerias psychologische und psychosoziale Hilfe an. Es wendet sich an Vertriebene und Nicht-Vertriebene, Opfer der Klimakrise und Überlebende von Gewalt durch Boko Haram, an Erwachsene ebenso wie an Schülerinnen und Schüler – in mehreren Schulen gibt es inzwischen "Clubs für psychische Gesundheit". 

Menschen, die wie Mohamed alles verloren haben, brauchen Unterstützung. Der schwere Verlust kann dazu führen, dass sie eine Depression entwickeln oder gewalttätig werden.

Joseph
Bature
Priester der Diözese Maiduguri
Ein nigerianischer Priester – ein Mann mit kurz rasierten Haaren in Priesterkleidung – sitzt in einem Büro an einem Schreibtisch.

Priester Joseph Bature

"Manche brauchen drei bis sechs ­Monate Unterstützung und sind danach wieder stabil", sagt Bature. Andere sind schwerer beeinträchtigt, manche entwickeln sogar eine Posttraumatische Belastungsstörung. Sie leiden unter Alpträumen, Schlaflosigkeit oder quälenden Flashbacks, also Situationen, in denen das schreckliche Erlebnis plötzlich wieder vor ihren Augen abläuft und sie den Eindruck haben, sie seien abermals mitten drin. 

Transgenerationale Traumata

Aber die Menschen seien ja nicht nur psychisch belastet, betont Bature. Die berechtigten Existenzängste, die Sorge um die Zukunft der Kinder und die Armut erschwerten die psychische Heilung. Das JDPC unterstützt die Menschen deshalb auch auf dem Weg zurück in die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Sie können lernen, Seife und Lebensmittel aus lokalen Produkten oder Handwerksartikel herzustellen. Sie lernen auch Grundlagen der Unternehmensführung.

Etwa 1.800 Menschen hätten sie bereits unterstützen können, der Bedarf sei jedoch weit größer. Die psychische und soziale Unterstützung der Menschen sei nicht nur wichtig, um das Leid Einzelner zu lindern, sondern auch, um die Gesellschaft zu heilen. "Wir wissen mittlerweile, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden", sagt der Priester. "Wer darunter leidet, ist weniger produktiv." Die Armut nehme zu, und ­damit auch die Kriminalität. Psychische Heilung und wirtschaftliche Stabilität seien nötig, um einen Teufelskreis der Gewalt möglichst nicht entstehen zu lassen. 

Der ehemalige Viehhalter und Teeverkäufer Ibrahim Mohamed hat von dem Programm noch nie gehört. Dass Armut zu Gewalt verführen kann, glaubt aber auch er: "Armut bringt die Menschen dazu, alles Mögliche zu tun." Für ihn selbst sei das aber kein Weg, "das ist eine Frage der Einstellung". Dann packt er seine mit Tee gefüllte Thermoskanne, Gläser, etwas Spülmittel und zusätzliches Wasser in eine violette Plastiktasche und macht sich auf den Weg in die Innenstadt, um dort an diesem Nachmittag sein Glück zu versuchen.

Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Afrika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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