Amnesty Journal Sudan 19. Dezember 2024

"Jedes Bett ist doppelt belegt"

Geflüchtete Menschen aus dem Sudan, Männer, Frauen und Kinder, campieren auf dem sandigen Boden vor einem Flüchtlingslager, das aus Verschlägen und Planen besteht.

Sudanesische Geflüchtete in einem Lager im Tschad, Juli 2024 

Die Ärztin Maria Zipro arbeitete für die Hilfsorganisation Cap Anamur zehn Monate lang in einem Krankenhaus im Süden des Sudans. Vor zehn Jahren war sie dort bereits als Krankenpflegerin im Einsatz.

Interview: Maria Zipro

Sie waren als Ärztin in den Nuba-Bergen in Süd-Kordofan, nahe der Grenze zum Südsudan. Wie ist die medizinische Versorgung dort? 

Cap Anamur ist seit 26 Jahren in der Regi­on und hat in dieser Zeit ein Krankenhaus in Lewere aufgebaut, eine von zwei Kliniken in diesem Gebiet. Wir können dort ungefähr 100 Patient*innen aufnehmen, wobei die Betten häufig doppelt belegt werden, vor allem in der Regenzeit. Wir behandeln mehr als 5.000 Menschen im Monat. Es gibt nur wenige Ärzt*innen, aber um die 100 weitere Menschen, die dort arbeiten. Unser Chefchirurg hat ursprünglich Kranke getragen, er wurde dann zwei Jahrzehnte lang von den Ärzt*innen vor Ort ausgebildet. Er hat keinen Abschluss, bildet aber inzwischen selbst zwei Kollegen aus. Es gibt viele internistische und chirurgische Fälle, wie in Deutschland. Hinzu kommen viele Unfälle mit Landminen und Verbrennungen, weil am offenen Feuer gekocht wird. Außerdem Malaria und viele Durchfallerkrankungen, vermutlich bald auch Dengue-Fieber. Und viele Frauen erleben Gewalt. 

Wie ist die aktuelle Situation vor Ort? 

Ziemlich desaströs. Die Inflation ist hoch: Als ich im März ankam, kosteten 50 Kilo des Grundnahrungsmittels Sorghum, eine Art Hirse, auf den lokalen Märkten ungefähr 70 Euro. Jetzt liegt der Preis für die gleiche Menge bei ungefähr 190 Euro. Deshalb ist auch die Versorgung der vielen Binnenflüchtlinge schwierig: Aufgrund der Kämpfe im Norden sind schätzungsweise 700.000 Menschen in das Gebiet geflohen. Die Vorräte sind auch sehr knapp, weil es 2023 eine schlechte Ernte und eine Heuschreckenplage gab. Die Ernährungslage ist katastrophal. Im Krankenhaus gibt es eine Station für unter- und mangelernährte Kinder, dort ist jedes Bett doppelt belegt. 

Menschen und Waren müssen illegal aus dem Südsudan über die Grenze gebracht werden, und ich habe in der ganzen Region nicht eine befestigte Straße gesehen. Das ist sehr herausfordernd und für alle Hilfsorganisationen ein Problem. 

Eine junge Frau in einem T-Shirt trägt eine Halskette und steht auf einem Feldweg neben einem Geländewagen und fotografiert sich selbst, sie lächelt.

Die Ärztin Maria Zipro

Wie hat sich die Lage verändert im Vergleich zu vor zehn Jahren? 

Vor zehn Jahren waren die Nuba-Berge einer der Hotspots des bewaffneten Konflikts zwischen der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung SPLM und den Streitkräften des damaligen Machthabers Omar al-Bashir. Über die Region flogen regelmäßig Kampfflugzeuge, auch das Krankenhaus wurde bombardiert. Momentan sind die Nuba-Berge jedoch eine der sichersten Regionen im Sudan, deshalb fliehen viele Menschen aus dem Norden dorthin. 

Wie sind die Machtverhältnisse in der Region? 

Die SPLM beansprucht den Großteil Süd-Kordofans. Sie versucht, eine Art staatliches System aufzubauen, mit einer Justiz, einem Gesundheitsministerium und ähnlichen Institutionen. Gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen versucht die SPLM, die Menschen zu versorgen, auch die Binnenflüchtlinge. Diese Herausforderungen im zivilen Bereich sind neu, denn jahrzehntelang ging es nur darum, sich gegen die Truppen von al-Bashir zu wehren. 

Kommen Hilfskonvois an? 

Nur unter großen Schwierigkeiten. Menschen und Waren müssen illegal aus dem Südsudan über die Grenze gebracht werden, und ich habe in der ganzen Region nicht eine befestigte Straße gesehen. Das ist sehr herausfordernd, vor allem in der Regenzeit, und für alle Hilfsorganisationen ein Problem. 

Gibt es aktuell Kampfhandlungen in der Region? 

Derzeit wird Kadugli, die Hauptstadt Süd-Kordofans, noch von Regierungstruppen gehalten und von der SPLM belagert. Auch andernorts kommt es vereinzelt zu Angriffen, aber das sind bisher sehr seltene Ausnahmen. 

Frédéric Valin ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Die Ärztin Maria Zipro ist ehrenamtlich aktiv in der Amnesty-Länderkogruppe Sudan/Südsudan.

HINTERGRUND

Humanitäre Katastrophe im Sudan

Am 15.April 2023 endete die Hoffnung auf einen demokratischen Sudan. An jenem Tag brach der bis heute andauernde bewaffnete Konflikt aus, der maßgeblich zur aktuellen humanitären Katastrophe beitrug. Die Kämpfe "bedeuteten das Ende all dessen, was wir in den fünf Jahren seit der Entmachtung des ehemaligen Präsidenten Omar al-Bashir aufgebaut hatten", konstatiert Sanaa Mohamed, sudanesische Menschenrechtsaktivistin und Kampagnenleiterin von Amnesty International. 

Den Kämpfen vorausgegangen waren Spannungen zwischen den offiziellen Streitkräften unter General Abdel Fattah al-Burhan und den Rapid Support Forces (RSF) seines einstigen Stellvertreters Mohamed Hamdan Daglo. Als al-Bashir, der das Land seit 1989 diktatorisch regiert hatte, im April 2019 gestürzt wurde, arbeiteten al-Burhan und Daglo noch zusammen. Die anschließenden Kämpfe zwischen den beiden Militärs konzentrierten sich zunächst auf die Hauptstadt Khartum, die in der Folge weitgehend zerstört wurde, und erfassten dann den Westen des Landes. 

Inzwischen kontrollieren die RSF die meisten regionalen Hauptstädte, während die reguläre Armee weiterhin den Norden des Landes hält, darunter den größten Hafen Bur Sudan. Neben den beiden Hauptkonfliktparteien sind weitere bewaffnete Gruppen in Teilen des Landes aktiv, etwa die Sudanesische Volksbefrei­ungsbewegung SPLM in Süd-Kordofan an der Grenze zum Südsudan. 

Die humanitäre Lage im Sudan ist erschütternd. Nach UN-Angaben wurden bis Sommer 2024 mehr als 16.650 Zivilpersonen getötet. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR geht davon aus, dass 14 Millionen Menschen vertrieben wurden. Es gibt Berichte über Massenvergewaltigungen. 

Hinzu kommt Nahrungsmangel: 25,6 Millionen Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, wie UNICEF im Juni 2024 feststellte. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Die medizinische Versorgung ist mancherorts vollständig zusammengebrochen. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sind 80 Prozent der medizinischen Einrichtungen nicht mehr funktionstüchtig. Im Zentral- und Ostsudan breiten sich Krankheiten wie Cholera, Malaria und Dengue-Fieber aus. 

Hoffnung auf ein baldiges Ende des Konflikts gibt es kaum. Die UNO beendete im Dezember 2023 auf Druck der Regierung ihr politisches Mandat im Sudan. Im November 2024 blockierte Russland eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die einen sofortigen Waffenstillstand und den Zugang zu humanitärer Hilfe forderte. Amnesty fordert ein Ende der Kämpfe, den Schutz der Zivilbevölkerung und ein Waffenembargo für alle Konfliktparteien.  

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