Iran: Gewaltsames Vorgehen gegen Frauen und Mädchen

Das Bild zeigt mehrere junge Frauen von hinten, die schwarze Kopftücher in die Luft werfen

Iranische Studentinnen protestieren gegen die Verschleierungspflicht und werfen ihre Kopftücher in die Luft (undatiertes Foto).

Appell an

Ebrahim Raisi
President of the Islamic Republic of Iran and Head of Supreme Council of National Security
c/o Embassy of Iran to the European Union
Avenue Franklin Roosevelt No. 15
1050 Bruxelles
BELGIEN

Dein Appell

Sehr geehrter Herr Präsident,

Frauen und Mädchen in der Islamischen Republik Iran sind mit einem erneuten Angriff auf ihre Menschenrechte konfrontiert. Seit Mitte April, als die Behörden eine neue landesweite Kampagne unter dem Namen "Noor-Plan" (dt. "Licht-Plan") ankündigten, haben Sicherheitskräfte in ganz Iran ihr gewaltsames Vorgehen zur Durchsetzung der Verschleierungspflicht verschärft. In den vergangenen Wochen hat die Zahl der Sicherheitspatrouillen zu Fuß, auf Motorrädern, in Polizeiautos und Mannschaftswagen, die der Durchsetzung der Verschleierungspflicht durch die Kontrolle der Haare und der Bekleidung von Frauen dienen, im öffentlichen Raum deutlich zugenommen. In den Sozialen Medien sind verstörende Videos aufgetaucht, die zeigen, wie Frauen und Mädchen in der Öffentlichkeit von Sicherheitskräften tätlich angegriffen, festgenommen und inhaftiert werden. Die Art und Weise, wie sie dazu mit Gewalt in Polizeifahrzeuge gezerrt werden, gleicht einer Entführung. Die Videos zeigen, wie die verzweifelten Frauen und Mädchen schreien, wenn sie von den Sicherheitskräften angegriffen und weggezerrt werden. Es gab auch Berichte von Frauen, die bei der Festnahme von Sicherheitskräften mit Elektroschockgeräten traktiert wurden. Außerdem kam es zu ungerechtfertigten Strafverfolgungen, Fahrzeugbeschlagnahmungen und der Verhängung von Geldbußen.

Sorgen Sie bitte dafür, dass die iranischen Behörden Frauen und Mädchen nicht länger dafür bestrafen, dass sie ihre Rechte auf körperliche Autonomie und auf freie Meinungsäußerung, Religions- und Glaubensfreiheit wahrnehmen, alle Gesetze und Vorschriften zur Zwangsverschleierung unverzüglich aufheben und alle Sicherheitseinheiten auflösen, die mit der Durchsetzung der Zwangsverschleierung beauftragt sind. 

Ich fordere Sie dringend auf, alle Personen, die wegen Verweigerung der Zwangsverschleierung inhaftiert sind, bedingungslos freizulassen und dafür zu sorgen, dass alle Beamt*innen, die an der Verletzung der Rechte von Frauen durch die Einführung der Zwangsverschleierung beteiligt sind, zur Rechenschaft gezogen werden.

Hochachtungsvoll

Sende eine Kopie an

Botschaft der Islamischen Republik Iran
S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh
Podbielskiallee 65- 67
14195 Berlin

Fax: 030 – 843 53 133
E-Mail: info@iranbotschaft.de

Amnesty fordert:

  • Sorgen Sie bitte dafür, dass die iranischen Behörden Frauen und Mädchen nicht länger dafür bestrafen, dass sie ihre Rechte auf körperliche Autonomie und auf freie Meinungsäußerung, Religions- und Glaubensfreiheit wahrnehmen, alle Gesetze und Vorschriften zur Zwangsverschleierung unverzüglich aufheben und alle Sicherheitseinheiten auflösen, die mit der Durchsetzung der Zwangsverschleierung beauftragt sind. 
  • Ich fordere Sie dringend auf, alle Personen, die wegen Verweigerung der Zwangsverschleierung inhaftiert sind, bedingungslos freizulassen und dafür zu sorgen, dass alle Beamt*innen, die an der Verletzung der Rechte von Frauen durch die Einführung der Zwangsverschleierung beteiligt sind, zur Rechenschaft gezogen werden.

Sachlage

Frauen und Mädchen in der Islamischen Republik Iran sind mit einem erneuten Angriff auf ihre Menschenrechte konfrontiert, der von iranischen Menschenrechtsverteidiger*innen und in den Sozialen Medien als "Krieg gegen Frauen" bezeichnet wird. Seit Mitte April, als die Behörden eine neue landesweite Kampagne unter dem Namen "Noor-Plan" (dt. "Licht-Plan") ankündigten, haben Sicherheitskräfte in ganz Iran ihr gewaltsames Vorgehen zur Durchsetzung der Verschleierungspflicht verschärft. In den vergangenen Wochen hat die Zahl der Sicherheitspatrouillen zu Fuß, auf Motorrädern, in Polizeiautos und Mannschaftswagen, die der Durchsetzung der Verschleierungspflicht durch die Kontrolle der Haare und der Bekleidung von Frauen dienen, im öffentlichen Raum deutlich zugenommen. In den Sozialen Medien sind verstörende Videos aufgetaucht, die zeigen, wie Frauen und Mädchen in der Öffentlichkeit von Sicherheitskräften tätlich angegriffen, festgenommen und inhaftiert werden. Die Art und Weise, wie sie dazu mit Gewalt in Polizeifahrzeuge gezerrt werden, gleicht einer Entführung. Die Videos zeigen, wie die verzweifelten Frauen und Mädchen schreien, wenn sie von den Sicherheitskräften angegriffen und weggezerrt werden. Es gab auch Berichte von Frauen, die bei der Festnahme von Sicherheitskräften mit Elektroschockgeräten traktiert wurden. Außerdem kam es zu ungerechtfertigten Strafverfolgungen, Fahrzeugbeschlagnahmungen und der Verhängung von Geldbußen.

Das harte Vorgehen verschärfte sich, als der Religionsführer des Iran, Ali Khamenei, am 3. April 2024 in einer offiziellen Verlautbarung erklärte, dass die Pflicht zur Verschleierung ein "religiöses Gebot und eine Pflicht für Frauen" sei und dass gegen die auf "ausländische Einmischung" zurückzuführende Nichteinhaltung dieser Pflicht vorgegangen werden müsse. Am 13. April 2024 kündigte der Teheraner Polizeichef Abbas Ali Mohammadian Folgendes an: "Ab heute wird die Polizei in Teheran und anderen Provinzen gegen Personen vorgehen, die soziale Abnormitäten wie das Auftreten in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch unterstützen. Personen, die frühere Warnungen der Polizei ignoriert haben, werden ausdrücklich verwarnt ... gegen sie werden rechtliche Schritte eingeleitet." Am 21. April 2024 kündigte der Befehlshaber der Revolutionsgarden in Teheran, Hassan Hassanzadeh, die Bildung speziell geschulter Gruppen, sogenannter "Botschafter der Freundlichkeit" an, ohne jedoch deren genaue Zusammensetzung und institutionelle Zugehörigkeit zu nennen. Am 23. April 2024 verkündete Ahmadreza Radan, der Oberbefehlshaber der iranischen Polizei, des Kommandos für Strafverfolgung der Islamischen Republik Iran (FARAJA), dass der "unumkehrbare Noor-Plan" mit Zustimmung von Parlament, Justiz und Regierung umgesetzt werde. Am selben Tag gab FARAJA eine Erklärung heraus, in der die Verweigerung der Verschleierungspflicht mit "organisierten kriminellen Banden" gleichgesetzt wurde, "die in Verdorbenheit, Prostitution und Pornografie verwickelt sind". Ein "Gesetzentwurf zur Unterstützung der Kultur der Keuschheit und des Hidschab" steht im iranischen Parlament kurz vor der Verabschiedung. Sollte er rechtswirksam werden, würde er den Angriff der iranischen Behörden auf Frauen und Mädchen, die sich der Kopftuchpflicht verweigern, gesetzlich verankern.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Seit der Ankündigung des "Noor-Plans" dokumentieren Frauen und Mädchen die Quälereien, die sie durchmachen, und teilen diese in den Sozialen Medien. Am 13. April 2024 berichtete eine Frau unter Tränen Folgendes in einem Video: "[Die Beamt*innen] wollten mich festnehmen. Der Polizist kam auf mich zu, und ich sagte ihm, er solle mich nicht anfassen. Es gab einen Lieferwagen, [um mich mitzunehmen]. Es waren mehrere Polizistinnen dabei, und eine von ihnen zog immer wieder mit Gewalt an meinem Arm und meiner Tasche. Ich habe geschrien, dass sie mich loslassen solle und hatte Angst, dass sie mein Mobiltelefon beschlagnahmen würden. Ich bin mitten auf der Straße hingefallen, und alle Autofahrer*innen haben gehupt, als Zeichen der Unterstützung [für mich]. Die Polizistinnen haben mich gefilmt und ausgelacht. Schließlich haben sie mich gehenlassen, aber ich weiß nicht, was jetzt passiert. Ich kann euch nicht mal sagen, dass ihr gut auf euch aufpassen sollt, denn wie sollte das möglich sein, solange wir gezwungen werden, den Hidschab zu tragen." Am 14. April postete eine weitere Frau, Atefeh Mahmoudi, folgenden Beitrag auf X (ehemals Twitter): "Heute hat mich die Sittenpolizei festgenommen. Ein weißer, nicht gekennzeichneter Lieferwagen (mit zwei Polizistinnen und einem Soldaten [Rekruten], dem Fahrer), drei Motorräder (mit jeweils zwei Polizisten) und ein Auto mit zwei Polizisten haben mich plötzlich umzingelt. Das heißt, dass vor mir zehn Sicherheitskräfte standen (ohne den Fahrer des Lieferwagens), als ob sie einen gefährlichen Kriminellen verhaften wollten. Sie sprachen sehr grob [mit mir]. Als ich protestierte und fragte, wohin sie mich bringen würden, und ihre Vorgehensweise in Frage stellte, antwortete einer von ihnen [in beleidigender Sprache auf Persisch]: 'Das geht dich nichts an.' Als ich einen anderen Beamten darauf hinwies, dass es noch kein offizielles [Hidschab- und Keuschheits-]Gesetz gebe, begann er zu brüllen. Er drohte mir und sagte, er werde mich festnehmen, bis ich gelernt hätte, keine Widerworte zu geben. Sie haben mich freigelassen, nachdem ich eine Erklärung unterschrieben hatte." 

In den Sozialen Medien gab es auch Augenzeug*innenberichte zu der Gewalt an Frauen und Mädchen. Ein Mann schrieb am 13. April 2024 Folgendes auf X: "Sie haben ein Mädchen, das allerhöchstens 17 Jahre alt war, mit Gewalt festgenommen ... Sie hat sich weinend am Geländer festgeklammert. Eine Polizistin hat ihr mit der Faust auf die Hand geschlagen, und ein Polizist hat die Hände des Mädchens mit Gewalt aufgedrückt und es an den Haaren zum Lieferwagen gezerrt. Es war, als hätten sie ein Mitglied des Islamischen Staats [der bewaffneten Gruppe] gefasst."

Die Studentin Dina Ghalibaf schrieb am 15. April 2024 Folgendes auf X: "Gestern habe ich auf der Polizeiwache der Metrostation Sadeghiyeh darauf bestanden, dass ich das Recht habe, die Metro zu benutzen, solange ich Steuern zahle. Sie [die Sicherheitskräfte] haben mich mit Gewalt in einen Raum gezerrt und mir Elektroschocks verpasst. Ich trug die ganze Zeit Handschellen, und einer der Polizisten hat mich sexuell missbraucht. Am nächsten Tag, den 16. April, wurde Dina Ghalibaf festgenommen und zwei Wochen später, am 30 April 2024, gegen Kaution freigelassen. Eine vierte Frau, über deren Tortur der persische Dienst der BBC am 19. April 2024 berichtete, erzählte Folgendes: "Ich habe zwei Polizisten auf Motorrädern gesehen. Außerdem kamen ein Lieferwagen und ein Auto auf mich zu; daraus stiegen fünf oder sechs Polizistinnen und drückten mich zu Boden. Ich habe geschrien. Ich habe ein Geräusch hinter mir gehört und hatte plötzlich Schmerzen am Rücken und an der Seite. Ich bin auf den Boden gefallen, und sie haben mich in einen Lieferwagen gesteckt und mich dabei für die Staatsanwaltschaft gefilmt und fotografiert ... Im Lieferwagen waren fünf weitere Frauen und Mädchen ... Auf der Polizeiwache waren mehr als 30 von uns, darunter auch eine Schülerin. Sie haben mich der Staatsanwaltschaft vorgeführt, die mich befragt hat. Ich hatte Schmerzen [von den Schlägen], und ein Arzt sagte mir, ich hätte einen Nierenriss."

Ahmadreza Radan und Hassan Hassanzadeh, die die jüngsten drakonischen Maßnahmen gegen Frauen und Mädchen verkündet haben, stehen auf einer Liste von Sanktionen, die die Regierungen Australiens, Kanadas, des Vereinigten Königreichs und der USA sowie die EU gegen iranische Beamt*innen verhängt haben, weil diese im Zusammenhang mit landesweiten Protesten in den Jahren 2009 und 2022 an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren.

Im September 2023 äußerten sich Menschenrechtsexpert*innen der Vereinten Nationen besorgt über den "Gesetzentwurf zur Unterstützung der Kultur der Keuschheit und des Hidschab" und stellten fest, der Gesetzentwurf könnte "als eine Form der geschlechtsspezifischen Apartheid beschrieben werden, da die Behörden offenbar durch systematische Diskriminierung reagieren, mit der Absicht, Frauen und Mädchen in völliger Unterwerfung zu unterdrücken". Im März 2024 veröffentlichte die UN-Ermittlungsmission für den Iran ihren Bericht. Darin kam sie zu folgendem Schluss: "Strafen, die aufgrund der Gesetze zur Kopftuchpflicht und der Politik gegen Frauen und Mädchen verhängt werden, wie Festnahmen, Inhaftierungen, Geldstrafen, die Beschlagnahmung von Immobilien, Reiseverbote, das Verbot der Nutzung Sozialer Medien und die unangemessene Einschränkung und Verweigerung von Grundrechten, einschließlich der Suspendierung von der Universität, der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und des Verbots des Zugangs zu öffentlichen Räumen wie Behördenbüros, Parks, Kinos und öffentlichen Verkehrsmitteln, sind willkürlicher Natur und als solche nach den internationalen Menschenrechtsnormen nicht zulässig. Mit der Durchsetzung dieser Gesetze und Maßnahmen verletzt der Staat die Rechte von Frauen auf Gleichheit, Nichtdiskriminierung, Freiheit und Sicherheit der Person und auf Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, auf freie Meinungsäußerung, Freizügigkeit, Religionsfreiheit sowie die Rechte auf öffentliches Leben, auf körperliche Unversehrtheit und Autonomie und die Rechte auf Privatsphäre und auf Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeit, was in der Summe eine schwerwiegende Verweigerung der Grundrechte von Frauen und Mädchen bedeutet, die einer Verfolgung gleichkommt."

Im März 2024 veröffentlichte Amnesty International eine neue Analyse zu der zunehmenden Verfolgung von Frauen und Mädchen, die auf den Aussagen von 46 Personen beruht und einen Einblick in die erschreckende Alltagsrealität von Frauen und Mädchen im Iran gibt. Siehe: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/iran-unterdrueckung-f…