Amnesty Journal 26. Juni 2025

Kolumne: Die Grenzen der Politik

Porträtfoto von Julia Duchrow

Dr. Julia Duchrow ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland

Ein Blick auf die wachsende Tendenz, Politik über Recht zu stellen, nicht nur in Deutschland. Kolumne von Julia Duchrow, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

Von Julia Duchrow

"Wenn die Gesetze nicht ausreichend sind, dann müssen Sie Vorschläge machen, die Gesetze zu ändern und nicht ­erklären, was alles mit den bestehenden Gesetzen angeblich nicht geht." Das waren die Worte von Friedrich Merz am 29. Januar 2025, gerichtet an den damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz. Es ging um die Forderungen der CDU/CSU zur Verschärfung der Migrationspolitik, unter anderem die Zurückweisung von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen. Eine Mehrheit fand der Antrag damals nur mit Stimmen der AfD. 

Ich zitiere diese Aussage, weil sie viel über ein Politikverständnis aussagt, das weltweit an Zustimmung gewinnt. Es lautet kurz gesagt: Politik schlägt Recht, und zwar auf drei Ebenen.

Erstens behaupten Regierungen, sie könnten für jedes politische Ziel rechtmäßige Gesetze schaffen. Doch das stimmt nicht! Es gibt Unrecht, das sich in Gesetze kleidet. Selbstverständlich kann der demokratisch legitimierte Gesetzgeber die gesetzlichen Grundlagen an seine politischen Zielvorstellungen anpassen. Aber Gesetze müssen menschenrechtskonform sein, auch wenn eine Mehrheit das unwichtig findet. Recht begrenzt also ­Politik. Oder positiv formuliert: Recht ermöglicht Politik auf Basis der Menschenrechte. 

Zweitens missachten Regierungen ­zunehmend das Prinzip der Gewaltenteilung: Ende Mai kritisierten Regierungschef*innen von neun EU-Staaten den ­Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil dieser es mit dem Schutz von Geflüchteten angeblich zu weit treibe. In einem Offenen Brief forderten sie, die ­Europäische Menschenrechtskonvention so auszulegen, dass eine noch restriktivere Migrationspolitik möglich werde. Das ist eine unzulässige Einmischung in die Unabhängigkeit der Justiz. Mehr noch, ein Frontalangriff auf das Fundament des ­europäischen Menschenrechtssystems. Deutschland gehörte nicht zu den Unterzeichnern des Offenen Briefs. Doch aus der Unionsfraktion im Bundestag gab es sofort Zustimmung. 

Und drittens setzt sich die Exekutive zunehmend über Gesetze oder richterliche Anordnungen hinweg. Die ersten Amtshandlungen der neuen Bundesregierung zeigen, dass das Prinzip "Politik schlägt Recht" auch ihre Agenda bestimmt: Die Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Grenzen verstößt gegen die Dublin-Verordnung. Das hat Anfang Juni das Berliner Verwaltungs­gericht entschieden. Trotzdem kündigte ­Innenminister Alexander Dobrindt an, Asylsuchende weiter zurückzuweisen. Dies kann zu Kettenabschiebungen an Europas Außengrenzen führen und den internationalen Flüchtlingsschutz aushebeln. Auf den Weg gebracht hat die Regierung Merz außerdem, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt wird. Dabei stehen Ehe und ­Familie unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes und zahlreicher Menschenrechtsverträge, die Deutschland ­unterzeichnet hat. 

Bundeskanzler Merz ist zudem voll des Lobes für die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die den Offenen Brief an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mitinitiiert hat. In Italien versucht sie derzeit mit der Brechstange, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern und setzt sich dabei über Gerichtsentscheidungen hinweg. Politik schlägt Recht, auch dort. 

Treibende Kraft ist jedoch Donald Trump. In den USA verbreitet seine Regierung bei Menschen mit Migrationsgeschichte Angst und Schrecken. Familien werden auseinandergerissen, Wohnungen und Autos von Einsatzkräften aufgebrochen, Menschen auf offener Straße von maskierten Beamten verschleppt und abgeschoben, obwohl Gerichte anders entschieden haben. 

Wer eine solche Entwicklung in Deutschland und Europa verhindern will, muss klar machen, dass Politik Grenzen hat. Sie verlaufen dort, wo Menschenrechte verletzt werden.

Julia Duchrow ist Generalsekretärin von ­Amnesty International in Deutschland.

Weitere Artikel