Amnesty Journal Russische Föderation 23. September 2013

Hinter den Bergen

Gewalt, staatliche Willkür und Korruption sind in den Kaukasus-Republiken alltäglich.

Von Bernhard Clasen

Jeden Monat veröffentlicht das Internet-Portal "Kavkaskij Uzel" der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" Statistiken über Tote und Verletzte im Nordkaukasus. Allein zwischen dem 8. Juli und dem 4. August 2013 kamen demnach 44 Menschen in der Region ums Leben. Die monatlichen Zahlen variieren etwas, doch immer ergeben sie das gleiche Bild: Gewalt prägt den Alltag im Nordkaukasus.

Epizentrum der Auseinandersetzungen ist die knapp drei Millionen Einwohner zählende Teilrepublik Dagestan. In keiner Region Russlands wohnen so viele ethnische Gruppen auf so engem Raum zusammen wie in Dagestan. 14 Staatssprachen zählt die Republik.

Die Ernennung von Ramasan Abdulatipow zum Präsidenten der Republik Dagestan Anfang des Jahres interpretierten viele als Indiz dafür, dass Moskau tatsächlich an Stabilität in der Region gelegen ist. Abdulatipow will sich am russischen Fortschritt in Gestalt von "Marktwirtschaft, Kapitalismus und Demokratie" orientieren, die feudalen Strukturen in seiner Heimat abschaffen und die Korruption bekämpfen. Es könne ja wohl nicht sein, dass sich Bezirkschefs nur dann in ihren Verwaltungsgebäuden sehen ließen, wenn es darum gehe, den Haushalt zu verteilen und sich nicht einmal die Mühe machten, einen Blick in die Schulen und Krankenhäuser zu werfen, so Abdulatipow.

Zahlreiche Provinzgrößen und Bürokraten, ja sogar die ­Regierung, wurden von Abdulatipow entlassen. Anfang Juni wurde Said Amirow, langjähriger Bürgermeister von Dagestans Hauptstadt Machatschkala, verhaftet und in ein Gefängnis nach Moskau transportiert. Mit dieser Verhaftung machte Abdulatipow deutlich, dass es ihm ernst ist mit seinem Kampf gegen die Korruption. Österreichische und deutsche Wirtschaftsdelegationen besuchten in diesem Jahr die Teilrepublik. Mit Geld aus Moskau, dem Ausbau internationaler Handelsbeziehungen und dem Kampf gegen die Korruption scheint Abdulatipow das Vertrauen der heimischen Wirtschaft und der Bevölkerung zu gewinnen.

Doch der Mann, der sich als Minister für Nationalitätenfragen, als russischer Botschafter in Tadschikistan und als Vermittler im Tschetschenien-Konflikt einen Namen gemacht hat, setzt nicht auf Ausgleich und Dialog, um die mörderischen Konflikte in den Griff zu bekommen. Bei einem Runden Tisch zum Thema "Grundzüge der neuen Politik in Dagestan: Erste Erfolge und gefährliche Tendenzen" diskutierten im Juli in Moskau russische Menschenrechtler über das Vorgehen von Ramasan Abdulatipow. Er bekämpfe zwar in Dagestan die Kriminalität und die Korruption und biete der Jugend neue wirtschaftliche Perspektiven, hieß es dort. Gleichzeitig seien jedoch Rückschritte zu beobachten. Eine bislang erfolgreiche Kommission zur Wiedereingliederung von Aufständischen habe faktisch aufgehört zu existieren.

Unter Abdulatipow ist der unter seinem Vorgänger Magomedsalam Magomedow erfolgreich installierte Dialog zwischen traditionellen Sunniten und einem gemäßigten Flügel der Salafisten zum Erliegen gekommen. Stattdessen nimmt die staatliche Repression zu. Abdulatipows Devise, wie mit Islamisten umzugehen ist, lautet: "Jede noch so geringe Zusammenarbeit mit den Banditen wird auf das Grausamste bestraft." Die Dagestan-Spezialistin Ekaterina Sokiryanskaya berichtet von illegalen Verhaftungen und Misshandlungen von Personen, denen religiöser Extremismus vorgeworfen wird. Häuser von Angehörigen der Aufständischen seien in Brand gesetzt worden, so Sokiryanskaya. Staatlich geduldete Bürgerwehren würden die Bewohner einschüchtern. Tatsächlich treibe man mit diesen Methoden einen Teil der Opposition in die Hände der Aufständischen.

Es ist ein Kampf ohne Regeln, der verfolgte Muslime radikalisiert und die Polizei, die viele Opfer in den eigenen Reihen zu beklagen hat, immer rücksichtsloser agieren lässt. Wer versucht, über das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu recherchieren, lebt gefährlich. So wurde im Juli der Journalist Achmednabi Achmednabijew ermordet. Er hatte unter anderem über Menschenrechtsverletzungen und Gesetzlosigkeit in Dagestan berichtet.

Einen anderen Weg versuchte hingegen zunächst Junus-Bek Jewkurow, Präsident der kleinen, 400.000 Einwohner zählenden russischen Teilrepublik Inguschetien, einzuschlagen. Der ehemalige Berufssoldat, der neun Monat nach seinem Amtsantritt im Oktober 2008 bei einem Attentat schwer verletzt wurde, bemühte sich um einen Dialog mit seinen Kritikern.

Es gehört zu Jewkurows Verdiensten, dass er 50 aufständische Islamisten, die freiwillig ihre Waffen abgaben, begnadigte und ihnen half, in ein bürgerliches Leben zurückzukehren. Doch dann stagnierte der demokratische Aufbruch. Die Menschenrechtsorganisation "MASchR" und ein regierungskritischer Imam werden zunehmend bedrängt. Staatliche Medien Inguschetiens beschuldigen "MASchR" einer Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten. Und auf die Frage, warum er sich nicht in freien Wahlen im Amt bestätigen lasse, gab Jewkurow der Online-Zeitung "Gazeta.ru" im Sommer 2013 lapidar zur Antwort, es sei besser zu arbeiten, als Zeit durch Wahlkampf zu verlieren.

Verhandlungen und Dialog stellten in Inguschetien und ­Dagestan lange Zeit ein bewährtes Mittel dar, um Konflikte zu deeskalieren. Nun scheint das tschetschenische Modell der harten Hand dieses Vorgehen zusehends zu verdrängen. In der Nachbarrepublik, wo im Juli 2009 die Menschenrechtlerin und Journalistin Natalja Estemirowa ermordet worden war, herrscht schon seit langem ein Klima der Angst.

Vor allem Frauen sind in Tschetschenien weitgehend rechtlos. Nachdem russische Menschenrechtler im Juli vom Mord an drei Tschetscheninnen erfahren hatten, wandten sie sich an deren Angehörige. Doch diese hatten Angst, sich zu dazu äußern.
Ramsan Kadyrow, Präsident der Republik Tschetschenien, erklärte 2008 in einem Interview, wie das Geschlechterverhältnis seiner Ansicht nach auszusehen habe: "Die Frau muss ihren Platz kennen. Die Frau ist ein Besitz, der Mann ist der Besitzer. Und wenn sich bei uns eine Frau nicht entsprechend verhält, sind ihr Mann, ihr Vater und ihr Bruder dafür verantwortlich. Und wenn eine Frau über die Stränge schlägt, wird sie unseren Sitten entsprechend von ihren Verwandten getötet."

Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Organisation "Komitee Bürgerbeteiligung" und Mitglied des "Menschenrechtszentrums Memorial", berichtet über die in Tschetschenien zwingend vorgeschriebene Kleiderordnung für Frauen. Der Kopftuchzwang sei für viele erniedrigend. Immer wieder platzen bewaffnete junge Männer mitten in eine Vorlesung, überprüfen, ob Studentinnen und Professorinnen entsprechend gekleidet sind. Hinzu kommt, dass sogenannte "Ehrenmorde" in Tschetschenien statistisch nicht erfasst werden. Sie kenne ein Dorf, in dem bereits neun Frauen ermordet worden seien, weil sie angeblich gegen den Ehrenkodex verstoßen hätten, berichtet Gannuschkina. Eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, haben die betroffenen Frauen im Land Kadyrows kaum.

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Mönchengladbach.

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